| Der Fisch im Bett

Vier Uhr am Morgen.

Dann, wenn man nicht mehr schlafen kann, aber zu müde für einen Tag ist, der ja noch gar nicht begonnen hat. Vier Uhr morgens, das klingt nach: Zum Abnehmen zu spät, zum Fettwerden zu früh. Oder wie wenn jemand sagt: Kinder, ich würde gerne auswandern, nur leider kann ich meine Schuhe nicht finden. Man könnte somit meinen, das sei eine schlechte Zeit. Gleichwohl ist es eine gute Zeit. In der sich nämlich über die Dinge nachdenken läßt, ohne bereits mit einem Fuß und einem Magen und einem Hirn im neuen Tag zu stehen. Oder noch im alten festzustecken. Es ist mitunter besser, seine Schuhe nicht zu finden und also nicht auszuwandern und sich statt dessen dem zu stellen, was ist.

Genau das tat Lorenz. Während er in seinem Bett wie ein kranker Schwertfisch dahintrieb, sagte er sich: »Ich habe das alles unendlich satt.«

Und wie er es satt hatte, sich sein Leben mit…nun, man muß es so häßlich sagen: sich sein Leben mit Ficken zu verdienen, allerdings mit einem fiktiven Ficken, auch wenn Lorenz dabei seinen faktischen Körper zum Einsatz brachte. Aber halt bloß im Film. Als Schauspieler seinen Körper und sein Geschlecht und seine Potenz zur Schau stellend. Lorenz gehörte folglich zu denen, die einen sexuellen Akt vorspiegelten und ihn gleichzeitig erhöhten. Und dabei eine vereinfachte Form von Leben präsentierten. Denn das war es ja eigentlich, was die Pornographie so attraktiv machte, gar nicht so sehr die Verbildlichung eines an sich intimen Vorgangs, sondern die unkomplizierten Rahmenbedingungen. – Worüber so gerne gelacht wird, wie da ein Mann an irgendeine Tür klopft, sich als Versicherungsmakler vorstellt, die Zentralheizung repariert, die Post überreicht, so was in der Art eben, um nur wenig später einer entblößten Frau die Seele aus dem Leib…und so weiter.

Die Aufgeklärten und Emanzipierten mögen diese Rasanz der Entwicklung als grotesk empfinden, das ist sie sicher auch, aber wieviel besser erscheint sie im Vergleich zum umständlichen Theater der Wirklichkeit. Denn das, was im realen Leben geschieht, ist ja kein respektvolles und charmantes Werben, kein elegantes Vorspiel, kein kommunikatives Schaulaufen, sondern ein lächerlicher Eiertanz. Ein Eiertanz, der zur Folge hat, daß, wenn dann endlich etwas Konkretes geschieht, die ganze Kraft bereits verpufft ist. Eigentlich auch die Lust. Der sexuelle Akt verkümmert zur bloßen Pflichterfüllung. Er geschieht nur darum noch, um besagten Eiertanz zu rechtfertigen: das neue Kleid, die teure Unterwäsche, den Restaurantbesuch, die ganze aufwendige Angeberei, die Lügen, die Fettabsaugung, die seit Wochen umsonst mitgeschleppten Präservative, den Sport, die Vitamine, nicht zuletzt die aus der Pornographie bezogenen Illusionen. Denn allein die Pornographie schafft es, uns solche Illusionen zu vermitteln, Illusionen vom gelungenen Sex. Die Psychologie hingegen läßt keinen Zweifel darüber, daß die Sache zum Scheitern verurteilt ist, daß der Zweck der Sexualität sicher nicht darin besteht, daß alle ihren Spaß haben. Ganz im Gegenteil. Der Sinn der »echten« Sexualität reflektiert die Verhältnisse der Welt, den irdischen Hang zum Gefälle, zum Nord-Süd, zum Groß-Klein, zum Gescheit-Blöd, Arm-Reich, Glücklich-Unglücklich, Giftig-Ungiftig.

Lorenz Mohn war gewissermaßen ein Märchenonkel der Sexualität, indem er in den Filmen, in denen er auftrat, nicht nur ungewöhnlich ausdauernd und erfolgreich agierte, sondern die Sache eben ohne die bekannten Umständlichkeiten einfädelte. Seine gespielte Ausdauer, seine gespielte Potenz ergaben sich folgerichtig aus der Schnelligkeit der Anbahnung – so blieb nämlich genug Zeit für das Wesentliche –, während im wirklichen Leben die erschöpfende Länge solcher Anbahnungen wie auch die ewige Diskutiererei darüber, wer was wie möchte, für den eigentlichen Akt kaum noch Zeit und Kraft lassen. Der Mensch ermattet in der Diskussion. Man kann also nicht immer sagen, daß die Erfindung der Sprache ein großes Glück darstellt. Es besteht ein deprimierendes Ungleichgewicht. Während etwa im Krieg zuwenig gesprochen wird, wird im Sex zuviel gesprochen.

Er war jetzt beinahe vierzig. Ein im Grunde hohes Alter für einen Pornodarsteller. Allerdings war er körperlich gesehen topfit. Das gehörte dazu. Seit Jahr und Tag praktizierte er ein gelenkschonendes Krafttraining, ging zum Joggen und Schwimmen, hüllte sich in Schlammpackungen, duschte kalt, ließ sich maniküren, achtete auf seine Zähne, mied fettige Speisen, betrachtete Alkohol mit Mißtrauen und erkannte den Wert der einen oder anderen Zigarette in ihrer appetitmindernden Wirkung. An ihm war kein einziges Fettpölsterchen, die Haut glatt, das dunkelbraune Haar voll, die Augen frei von Ringen. Natürlich werden viele sagen, daß es in Pornos nicht auf die Augen ankommt. Aber so einfach war das nicht. Lorenz sah sich als Ganzes, auch im Film.

Die Frauen, mit denen er zusammenarbeitete, mochten ihn. Es war Verlaß auf ihn. Er war pünktlich, nie ungewaschen, selten launisch. Und er war kein Besserwisser, der seinen Kolleginnen mit Uraltgeschichten auf die Nerven ging. Während ja so mancher in die Jahre gekommene Akteur meinte, daß vor zwanzig Jahren alles besser gewesen sei, als Pornos noch von echten Künstlern gedreht worden waren. Lorenz Mohn konnte auf einen solchen Schmonzes verzichten. Er blieb sachlich und ruhig und konzentrierte sich auf seine Arbeit, die lange nicht so vergnüglich war, wie Laien sich das vorstellen. Selbstverständlich wurde auch hier, wie bei jedem anderen Filmgenre, mit vielen Unterbrechungen gearbeitet, wurden Pausen eingelegt, Tränen gestillt, Sensibilitäten gepflegt, aber es ging nun mal nicht an, ewig herumzujammern. Vor allem die männlichen Darsteller waren aus naheliegenden Gründen gezwungen, bei der Sache zu bleiben und einen Zustand wenigstens körperlicher Erregung zu erreichen. Ganz gleich, wie gelangweilt die Frauen schienen oder wie deppisch sich das Drehteam aufführte. Von der Häßlichkeit der Kulissen ganz zu schweigen.

Daß ein Mann wie Lorenz in seinem bisherigen Leben genügend Sex gehabt hatte, versteht sich. Und dabei ist nicht nur sein Beruf gemeint, sondern auch sein Privatleben. Einerseits. Andererseits war es ihm verwehrt geblieben, eine Frau fürs Leben zu finden. Gerade das Faktum seiner filmischen Tätigkeit – und er ließ dies nie unerwähnt, denn Täuschungen waren ihm zuwider – schien viele Frauen, vor allem die bürgerlichen, in höchstem Maße anzuziehen. Offensichtlich stellten sie sich Lorenz als einen Sexmeister vor, einen Zauberer, einen Fingerkünstler, wenigstens einen Trickkünstler. Falsche Magie war immer noch besser als das, was diese Frauen gewohnt waren, nämlich gar keine Magie. In einer Welt des Mangels entstanden Luftschlösser.

Doch ganz gleich, ob selbige Frauen nun genau das erlebten, was sie sich von diesem Spezialisten erhofft hatten, oder auch nicht, sie wären nie und nimmer auf die Idee gekommen, mit einem solchen Mann zusammenleben zu wollen. Selbst dann nicht, wenn er bereit gewesen wäre, seine Profession gänzlich aufzugeben. Nicht zuletzt jene Damen, die ständig die Toleranz im Munde führten und vor lauter Aufgeschlossenheit sogar überlegten, ob sie nicht zur Abwechslung einen kleinen Neonazi adoptieren sollten, waren überaus kurz angebunden, wenn Lorenz sich nach einer ersten Nacht um ein Wiedersehen bemühte und dabei Dinge wie einen Theaterbesuch oder eine gemeinsame Bergwanderung ins Spiel brachte. Man wich ihm aus, als hätte er eine Krankheit, die immer erst beim zweiten Mal übertragen wird. (Auf die Idee werden die Viren auch noch kommen.) So lief das ab. Und die Möglichkeit, sich vielleicht mit einer seiner Filmpartnerinnen zu liieren, schloß Lorenz sowieso aus. Das wäre unsinnig gewesen. Seine Kolleginnen waren gefallene Prinzessinnen, die davon träumten, eines Tages in einem Ferrari aufzuwachen. Einem Ferrari, den sie dann selbst bezahlt hatten, aus so einer Art wachgeküßtem Prinzessinnenbankkonto.

Der Umstand, ohne echte Partnerin zu sein, hatte Lorenz über viele Jahre mit Wehmut erfüllt. Er empfand dies als eine Ungerechtigkeit. Als wollte man ihn dafür strafen, sich im Alter von zwanzig Jahren für das Pornogeschäft und gegen die Physik entschieden zu haben. Wobei er anfangs gemeint hatte, er könnte beides vereinen, sich zur Hauptsache seinem Studium widmen und ein wenig nebenher pornographieren. Doch er war mit seinem jungen, damals sehr viel weniger athletischen, sondern auf eine anmutige Weise magersüchtig wirkenden Körper gut angekommen bei den Produzenten (was das Publikum von seiner Erscheinung und seinen Leistungen hielt, blieb natürlich stets ein Geheimnis; er war ein Mann, er würde es nie zu einem Pornostar bringen, zumindest nicht in der heterosexuellen Sphäre, die zu verlassen er in keinem Moment bereit gewesen war). Er bekam mehr Aufträge, als er brauchte. Und nahm sie alle an. In Augenblicken leichter Berauschtheit kam es ihm vor, als könnte ihm die Pornographie helfen, die Welt zu begreifen. Und zwar sehr viel besser als die Physik. Das war ein Irrtum gewesen. Nun, vielleicht hätte es sich ebenso als Irrtum herausgestellt, auf die Physik zu setzen. Aber eines wäre ihm dank ihrer wohl eher gelungen, nämlich eine Partnerin fürs Leben zu finden, die üblichen Kinder zu zeugen und das übliche Haus in die Landschaft zu stellen. Statt dessen: ein kranker Schwertfisch, der um vier morgens durch sein Bett treibt und sich darüber klar wird, es endgültig satt zu haben.

»Ich werde aufhören«, sagte Lorenz. Und weil er das so vollkommen ernst meinte, konnte er sich zur Seite drehen und in einen Schlaf zurückfallen, der noch gute drei Stunden andauern sollte.

Als er erwachte, war der Tag da, groß und finster. Wie diese Polizisten im Film, wenn sie ihre schwarzen Lederschuhe in den Türspalt stellen und erklären, sie würden einen Dreck darauf geben, was in irgendeinem Gesetzbuch steht. Von wegen Durchsuchungsbefehl.

Nachdem Lorenz in einem benachbarten Park eine dreiviertel Stunde gejoggt war, ging er unter die Dusche, wo er abwechselnd heißes und kaltes Wasser über seinen Körper laufen ließ. Er betrachtete die makellos gleichförmige Struktur seiner Bauchmuskeln, diese armeeartige Formation, die Reihen enggeschlossener, dumpf dahinmarschierender Soldaten. Die üblichen Römer. Und man weiß aus »Asterix und Obelix«, wie wenig solche Soldaten ausrichten können gegen ein bißchen Zauberkraft. Gegen einen einzigen dicken Mann. Lorenz war verbittert. Nicht wegen des Anblicks, sondern darüber, daß ihm dieser Anblick so wenig bedeutete. Ja, dies war ein Bauch für die anderen, für die neidvollen Blicke der Männer und die sehnsüchtigen der Frauen. Doch es war kein Bauch, der Lorenz selbst zur Freude verhalf.

Und als Lorenz sich nun an den Fenstertisch in der Küche setzte und damit begann, verschiedene getrocknete Früchte, Haferflocken, Nüsse sowie eine in präzise Scheiben zerteilte Banane mit einem fettarmen Joghurt zu vermengen, da beschloß er, daß er ab morgen mit dieser Müslischeiße aufhören würde. Nicht, daß er vorhatte, sich in Zukunft dank gebratenem Speck den Magen und vor allem die Haut zu verderben. Auch sehnte er sich in keiner Weise nach jenen Wampen und Bäuchen und Umrundungen, an denen seine Altersgenossen so erfolgreich modellierten, aber er wollte nicht weiter eine Norm verfolgen, die allein seinem Beruf diente. Einem Beruf, den er, entsprechend einer um vier Uhr morgens getroffenen Entscheidung, an den Nagel hängen würde. Und zwar noch heute, gleich nachdem die Dreharbeiten abgeschlossen waren. – Es gibt Dinge, die kann man nicht aufschieben. Es gibt Bomben, die man sofort entschärfen muß. Es gibt Insekten, die man lieber töten sollte, bevor sie einen stechen. Und nicht erst zuschlagen, wenn das Viech schon auf der Haut sitzt und man mittels des Schlags sich dessen Mundwerkzeug nur noch tiefer ins eigene Fleisch stößt. Man sollte also beim Töten nicht bloß auf die Verhältnismäßigkeit, sondern ebenso auf die Rechtzeitigkeit achten.

Kurz nach zehn betrat Lorenz Mohn das Haus, in dem der Film zu Ende gedreht wurde. Der Plot war denkbar einfach. Lorenz spielte darin einen Hollywoodregisseur, der sich auf der Suche nach der Idealbesetzung für einen Thriller befindet, einen Thriller mit dem Titel »Krieg der Frauen«. Und darum also sitzt er da in seiner Hollywoodvilla und empfängt eine angehende Schauspielerin nach der anderen. Woraus sich in Null Komma nichts die obligaten Körpersaftvermengungen ergeben. Dabei spielt ein gigantisches Sofa eine Rolle, dem eine mirakulöse Kraft nachgesagt wird, sprich, die Ermöglichung eines geradezu überirdischen Geschlechtsverkehrs. Was dann natürlich ein jedes Mal der Fall ist.

»Warum Hollywood?« hatte Lorenz gleich zu Beginn der Dreharbeiten gefragt. »Ich meine, dieses Zimmer hier, diese sogenannte Villa…so sieht es in Hollywood nicht aus.«

Aber das schien nun mal nicht das Thema des Streifens zu sein, wie es in Hollywood aussieht. Und die fehlende Authentizität filmischer Lokalitäten ist ja auch sicher kein Privileg von Pornostreifen. Zudem war Lorenz zwar ein Pedant, doch kein Nörgler. Er fragte sich nur, wofür man eigentlich die Requisite bezahlte.

Nun, das alles würde bald vorbei sein. Dies sollte der letzte Tag sein, an dem er sich solche Fragen stellen mußte.

Der Regisseur, der tatsächliche Regisseur, erklärte, worum es heute ging. Er nahm sich allerdings ziemlich ernst dabei. Er gehörte wohl auch zu denen, die vor zwanzig Jahren Kunst gemacht hatten. Lorenz hörte nur halb zu, zog sich in der Zwischenzeit aus und legte seine Kleidung sehr ordentlich auf einen Sessel. Dabei dachte er, wie nett es wäre, genau diese Handlung zu filmen, dieses akkurate Zusammenlegen der Kleidung, dieses Bemühen, keine Falten entstehen zu lassen, zumindest keine ungeplanten Falten.

Entsprechend den Anweisungen des Regisseurs setzte sich Lorenz auf das mit einem hellrosafarbenen Satinstoff bezogene monumentale Sofa, streckte seine muskulösen Arme über eine Gruppe pinguinartig gedrängter Polster, bildete mit den Beinen ein geknicktes V, spannte seine Bauchmuskeln an und zwang einen herausfordernden Blick in sein Gesicht. In erster Linie freilich bemühte er sich, nicht zu lachen. Darüber zu lachen, wie nun der Regisseur einer Frau mit feuerrotem Kunsthaar akribisch beschrieb, was sie längst wußte. Sie stand da, nackt bis auf die Perücke, die Hände in die geraden Hüften gestützt und verdrehte die Augen.

»Hör auf, Schätzchen, die Augen zu verdrehen«, sagte der Regisseur.

»Ich weiß schon«, sagte das Schätzchen, »daß Sie einmal mit Polanski zusammengearbeitet haben. Na und? Soll ich dem Lorenz jetzt einen blasen oder nicht?«

Die Sache mit Polanski war eher ein Witz. Niemand glaubte dem Regisseur, daß er allen Ernstes mit der Superlegende Polanski auch nur auf derselben Party gewesen war. Polanski, das klang wie Andromeda oder Kreuz des Südens, als spreche man von einer sehr fremden, sehr fernen Welt. Was aber niemand hier ahnen konnte, war, daß der Regisseur von »Sexsofa« (unter diesem Titel sollte der Film in die einschlägigen Kinos kommen) tatsächlich einst für Polanski tätig gewesen war, nämlich in jener frühen Produktion mit dem Titel »Wenn Katelbach kommt«, einer von diesen Geschichten, deren Sinn darin besteht, daß jemand kommt. Das ist überhaupt der Unterschied zwischen Moderne und Postmoderne. In der Moderne hatten wir noch das Glück, auf jemanden zu warten, der sich niemals würde blicken lassen, ob er jetzt Godot oder Katelbach hieß oder bloß ein Linienbus war. Heute aber geschieht alles, alle kommen, jede Vorhersage wird erfüllt, übererfüllt; wenn ein Katelbach sich ankündigt, kommen nachher drei Katelbachs, jeder mieser und brutaler als der andere. Oder gütiger.

Moderne ist also, wenn jemand ausbleibt. Leider ist die Moderne tot (von den Linienbussen einmal abgesehen). Eine Sache, an der auch der Regisseur von »Sexsofa« nicht unwesentlich litt.

Wofür seine Schauspieler wenig Verständnis hatten. Die Frau mit der Perücke ließ sich nicht weiter abhalten und gab dem Skriptgirl ein Zeichen. Eine elektronische Klappe wurde betätigt. Der Regisseur war gewissermaßen überstimmt. Die Kamera lief, die Scheinwerfer leuchteten, das Mikro hing in den Raum. Die Perükkenfrau bewegte sich auf Lorenz zu und fragte, ob sie die Rolle der Vanessa in »Krieg der Frauen« bekommen würde. Lorenz antwortete, das habe nicht er zu entscheiden, sondern er. Dabei zeigte er mit einem gewürzten Lächeln auf sein aufgerichtetes Glied. Sofort ging die Rothaarige in die Knie, schob sich mit den gespreizten Fingern das Haar hinters rechte Ohr, öffnete ihren Mund und ergab sich dem Unweigerlichen. (Eines ist die Pornographie ganz sicher nicht, ein Hort überraschender Wendungen.) Auch der Kameramann ging in die Knie und bemühte sich, ins Bild zu bekommen, was nun mal in dieses Bild hineinmußte.

Während Lorenz da saß und die üblichen geistreichen Kommentare von sich gab, wie gut sie es ihm besorge (wo er doch in Wirklichkeit gelernt hatte, sein Glied praktisch zu hypnotisieren, ja selbiges in eine lang anhaltende künstliche Steifheit zu versetzen, ganz in der Art einer zwischen zwei Sesseln gespannten Person im Varieté), währenddessen also fiel Lorenz’ Blick auf eine Frau, die im hinteren Teil des Raums in einem Fauteuil saß. Lorenz wußte, daß es sich um eine weitere Darstellerin handelte, mit der zusammen ein Dreier geplant war, eine aktionsreiche Verdeutlichung der Krieg-der-Frauen-Thematik. Eine recht üppige Blondine, deren schwere Brüste in einem fleischfarbenen Büstenhalter einsaßen. Das war jetzt nämlich wieder Mode, diese BHs aus Großmütterzeiten, die wie eine Form von Mimikry funktionierten – die Haut vortäuschend, die sie verbargen. Die Frau machte keine Anstalten, herüberzusehen, sondern hatte ihren Blick auf das Strickzeug zwischen ihren Händen gerichtet, auf das kirschrote Wollstück, an dem sie gerade arbeitete. Schwer zu sagen, was es war. Beziehungsweise was am Ende dieser Arbeit stehen sollte. Vielleicht ein Schal oder ein Pullover, wohl eher ein Pulloverchen, etwas für kleine Kinder oder kleine Hunde.

Seit diesem Moment um vier Uhr morgens, als sich Lorenz entschlossen hatte, sein Pornodarstellerdasein aufzugeben, war die Frage im Raum gestanden, was er statt dessen tun würde. Denn leider hatte er es zu keinem Vermögen gebracht, von dem er hätte zehren können. Abgesehen davon, daß er sich ein Leben ohne Arbeit nicht vorstellen konnte. Vielmehr war ihm vom Beginn seiner Entscheidung an klar gewesen, daß er einen Beruf ergreifen wollte, der seinem bisherigen diametral entgegenstand. Nicht jedoch aus moralischen Gründen, denn vorzuwerfen hatte er sich nichts. Er hatte in keiner Weise etwas Unanständiges getan, niemanden geschädigt oder betrogen, so wie es im modernen Geschäftsleben geradezu zum guten Ton gehörte. Die Filmproduktionen, an denen er beteiligt gewesen war, hatten niemals den Bereich des Legalen verlassen. Nein, wenn er sich etwas vollkommen Andersgeartetes wünschte, dann geschah dies im Sinn einer Evolution, wie bei einem Wesen, das nach einem Leben im Wasser ans Ufer kriecht, Füße ausbildet und sich in ein Landtier verwandelt. Oder umgekehrt. Und wenn also zuvor gesagt worden war, Lorenz Mohn sei ein Schwertfisch, so hatte er jetzt beschlossen, sich zu etwas zu entwickeln, was in keinem Punkt – zumindest nicht auf den ersten Blick – an einen solchen Schwertfisch erinnerte. Statt dessen wollte er die Karriere eines Landsäugetiers einschlagen. Und zwar eines undramatischen Landsäugetiers.

Der Anblick dieser Frau, die da seelenruhig an einem roten Ding strickte, während wenige Meter entfernt von ihr eine fiktive Erregung ablief, an der sie sich auftragsgemäß demnächst würde beteiligen müssen, dieser Anblick brachte Lorenz auf die richtige Idee. Auf die Idee nämlich, daß es Stricksachen, Knöpfe, Häkelzubehör, Nähzeug, vor allem aber in sämtlichen Farben erstrahlende Wollfäden sein würden, die sein zukünftiges Leben bestimmen sollten.

Er beschloß also in diesem heiligen Moment, ein Handarbeitsgeschäft zu gründen, jawohl, einen kleinen, gemütlichen, warmen Laden mit Regalen und Fächern bis zur Decke, in denen man die ganze Skala der Farben unterbringen konnte, vom reinsten Weiß bis zum dichtesten Schwarz, von der im Sonnenlicht gleißenden, schneebesetzten Bergspitze bis zur tiefsten, in ewige Nacht eingehüllten Stelle im Meer. Genau so würde er es anlegen: in der obersten linken Ecke das erste Weiß und in der rechten untersten Ecke das letzte Schwarz. Und dazwischen, in der schönsten Ordnung ihrer Abstufungen, die Farben, gepackt in weiche, handliche Knäuel. Knäuel, die mehr Zufriedenheit und Glück in das Leben der Frauen brachten als Männer und Beruf und Fitneß und Hormone.

Nicht, daß sich Lorenz plötzlich als Idealist fühlte und eine Weltrettung mittels des Glücks der Frauen im Sinne hatte. Aber zu einem guten Laden, einem funktionierenden Geschäft gehörte naturgemäß die Zufriedenheit der Kundschaft, und diese Kundschaft würde im Falle von Näharbeit und Strickarbeit und Häkelei und Klöppelspitze nun mal in erster Linie weiblich sein. Ein Faktum, welches eine bemerkenswerte Verbindungslinie zwischen Lorenz’ alter und neuer Tätigkeit bildete, eine Achse zwischen den Extremen, einen perfekten Antipodendurchstoß.

Welch besänftigende Vorstellung war es doch, die Frauen in Zukunft auf eine ganz andere Weise zu befriedigen. Keine hyperpotente Fickmaschine mehr zu sein, auch kein Mann, der bloß für eine Nacht taugte, bloß für einen Orgasmus, der nicht viel länger dauerte, als dreimal »Grüß Gott!« gesagt zu haben. Nein, Lorenz wollte als ein Meister der Wolle fungieren, dafür geliebt und verehrt werden, so gut wie jede Farbe anbieten zu können, und zwar auf engstem Raum. Eng darum, weil es sich um ein kleines Geschäft handeln mußte.

Warum denn klein? Lorenz hätte es nicht sagen können, aber so war es eben. Er schaute in die Zukunft, und dort in der Zukunft sah er halt keinen großen, sondern einen kleinen Laden.

Die Frau, die ihn auf diese wundervolle Idee gebracht hatte, legte nun mit einem sichtbaren Ausdruck des Bedauerns ihr Strickzeug zur Seite, erhob sich und ging daran, quasi ins Bild zu steigen. Sie setzte sich neben Lorenz aufs Sofa, zog die Schalen ihres Büstenhalters herunter und klemmte sie in den Ansatz ihrer Brüste. Dann schob sie Lorenz ihr helles Fleisch entgegen. Der Regisseur schnitt dazu Grimassen, die ihr signalisieren sollten, daß sie ruhig ein wenig mehr Leidenschaft zeigen könne und nicht so zu tun brauche, als lege sie sich einen ungeliebten Säugling an die Brust.

Lorenz aber konnte die Frau gut verstehen. Wieviel besser war es – um nun endlich dieses Wortspiel zu verwenden –, zu stricken statt zu ficken. Und weil Lorenz dies so gut verstehen konnte, wurde ihm jetzt klar, daß er diese Szene nicht zu Ende spielen konnte. Er hatte bereits das Ufer erreicht, war kein Schwertfisch mehr. Denn auch wenn ein solches Handarbeitsgeschäft noch gar nicht existierte, so bestand es bereits in einer theoretischen Weise. Und eine gute Theorie ist mehr wert als eine schlechte Praxis. Lorenz Mohn war der sich selbst vorausdenkende Besitzer eines idealen kleinen Ladens, und darum konnte er nicht mehr der reale Darsteller in einem Pornofilm sein. Das, was hier geschah, das träumte er bloß. Und aus einem Traum konnte man schließlich aufwachen. Man brauchte sich nur einzubilden, daß ein Wecker läutete.

Und genau das geschah in diesem Moment. Der Wecker war nicht zu überhören.

Lorenz schob die Frau, die über seinem Unterleib kniete, fürsorglich von sich herunter. Sie sah ihn verwundert an und erkundigte sich, als sei sie nicht in einem Film, sondern im wirklichen Leben: »Kommt’s dir schon?«

»Du, ich habe zu tun. Sei nicht böse.«

Er verabschiedete sich freundlich von den beiden Frauen, wobei er eine Höflichkeit einsetzte, die sich bereits darauf bezog, es hier mit zukünftigen Kundinnen zu tun zu haben. Sodann trat er aus der Szene, zog sich an und verließ den Raum, ohne in irgendeiner Weise auf den geradezu dirigentenhaften Wutausbruch des Regisseurs zu reagieren. (Allerdings auch nur darum, weil dieser Mann mit größter Wahrscheinlichkeit niemals zu seiner, Lorenz’, Kundschaft zählen würde.)

Lorenz trat hinaus auf die Straße. Es war Juli, so wie man sagt: Migräne ist kein Spaß. Seit Wochen wackelte das Wetter hin und her, mal kühl, mal heiß, mal unentschlossen. Die Wetterfühligen fühlten sich verfolgt. Aber wer hielt sich nicht für wetterfühlig? Es gab fast so viele Wetterfühlige wie Weinkenner und Fußballalleswisser. Lorenz blickte zu einem klaren blauen Himmel hoch, welcher aussah, als hätte er nichts anderes vor, als ein paar Pflanzen zum Sprießen zu bringen und einige Früchte in der warmen Luft zu backen. Lorenz dachte an sein Geschäft, seinen Laden. Seinen Laden als Liebling der Frauen.

Ein Geschäft braucht nun in erster Linie einen Namen. Und weil man es bei einem Handarbeitsladen glücklicherweise nicht mit einer Gaunerei zu tun hat, bestand kein Grund, eine dieser harten Kombinationen auszuwählen, die alle wie »Deutsche Bank« oder »Auf die Knie, ihr versicherten Würmer!« klingen oder sich in rätselhaften Abkürzungen ergehen. Logischer- und sinnigerweise dachte Lorenz natürlich wie alle Kleingewerbetreibenden sofort an seinen eigenen Namen: Mohn. Und ebenso rasch und unbekümmert überlegte er, seinen Laden Mohns Haupt zu nennen.

Im Spazierengehen aber erinnerte er sich daran, daß doch eine RAF-Terroristin so oder so ähnlich geheißen hatte. Er persönlich hatte nichts gegen diese Leute. Oder besser gesagt, es war ihm gleichgültig, was damals geschehen war, dieser Spezialkrieg, diese Familienfehde. Aber selbstverständlich wollte er keinen Namen für sein Geschäft wählen, welcher in irgendeiner Weise eine Verbindung zum Schmutz der Politik herstellte. Es ging ihm ja genau um das Gegenteil von Schmutz. Es ging ihm um absolute Reinheit, die nur in einer gewissen Weltferne ihren Ausdruck finden konnte. Denn das Stricken und Häkeln und sogar noch das Löcherstopfen und das Knöpfeannähen waren nun mal weltferne Tätigkeiten, heutzutage, da die wenigsten Kinder noch selbstgestrickte Pullover trugen und man eher ein neues Hemd kaufte, als einen Knopf anzunähen. Nur für Babys, ja für Babys konnte man noch stricken. Aber gerade Babys waren ziemlich weltferne Wesen.

Es mußte also ein Name her, der das Weltferne verkörperte. Was aber ist denn weltfern? Außer Babys. Nun, Inseln sind weltfern. Und noch weltferner sind die äußeren Planeten. Über das Sonnensystem hinauszugehen wäre wiederum Unsinn gewesen. Selbst die Weltferne hat ihre Grenzen. Daran wollte auch Lorenz sich halten.

Weil er nun zu denen gehörte, die noch mit neun Planeten aufgewachsen waren und nicht wie heute mit acht und er aus Überzeugung die Knauserigkeit von Leuten ignorierte, die einfach einen Planeten durchstrichen, als hätten sie dazu irgendeine Befugnis, darum also dachte Lorenz daran, sich des neunten und fernsten Planeten im Sonnensystem zu bedienen. Wobei es ihn überhaupt nicht störte, daß dessen Name auf den Totengott, den Herrscher der Unterwelt verwies. Denn welche Weltferne wäre perfekter als der Tod?

Man kann zudem sagen, daß Stricken und Nähen eine Verbindung des Weltfernen mit einem zutiefst menschlichen Harmoniebedürfnis darstellen. Und da sich Lorenz gerne einen handarbeitenden Totengott vorstellte, ergab sich der Name für sein zukünftiges Geschäft wie von selbst: Plutos Liebe.

Bei alldem wäre freilich zu erwähnen, daß Lorenz Mohn nie in seinem Leben eine Strick- oder Nähnadel oder sonst ein Handarbeitsgerät in Händen gehalten hatte. Aber was soll’s? Der Gott der Toten war ja wahrscheinlich auch noch nie tot gewesen.