25 | Viel Holz
Es war wirklich viel Holz in diesem Restaurant. Etwa die Ausschank, die man, gleich einem schottischen Schloß in Amerika, aus einem alten Wirtshaus herausgerissen und hier wieder aufgestellt hatte; die dunklen Tische und Sessel, die Wände und Bänke, wobei letztere an die Deckel geschlossener Klaviere erinnerten; selbst der Plafond war mit rötlichbraunen, dank einer Glasur stark glänzenden Latten ausgelegt. Das ganze Lokal besaß einen ausgesprochen französischen Charme mit seinem Zuviel an Gegenständen – den enggestellten Tischen und aufwendigen Gedecken –, seinem warmen Licht und der Noblesse, die sich daraus ergab, echte Kunst und minderwertigen Kitsch so nebeneinander zu plazieren, daß nicht mehr klar herauskam, was hier was war. Das galt vor allem für die zahlreichen Bilder an den Wänden, die da dicht gedrängt den Eindruck hinterließen, die Künstler hätten vor Urzeiten damit ihr Essen bezahlt. Ja, hier hingen tatsächlich kleine Meisterwerke von Braque und Picasso, ferner Österreichisches, die üblichen belanglosen, dafür gut wiedererkennbaren malerischen Kulinarien von Rainer und Nitsch, aber ebenso ein ganz wundervolles Londonbild von Gustav Thöny, das umgeben war von schrecklichen Pastellen, wer auch immer die verbrochen hatte.
Leider war es nun so, daß alles zusammen zu einer Tapete bohemienhafter Verwicklung verschwamm, und nur besonders aufmerksame Betrachter stellten fest, daß etwa gleich neben der Klimt-Fälschung – es gibt ausschließlich Fälschungen vom Klimt, weil nämlich Klimt nie gelebt hat, sondern eine Erfindung der österreichischen Kunsthändler ist –, daß also neben dieser kleinen, blassen Zeichnung ein durchaus kraftvoller, wenn nicht sogar erstaunlich grob zu nennender Scherenschnitt einer höchst angesagten Künstlerin namens Lou Bilten hing. Ein Scherenschnitt als wuchtig hingeworfene Skizze, mehr die Schere, mit der sie geschaffen wurde, porträtierend als sonstwas. Ein echtes Glanzstück, das allerdings kaum jemand bemerkte. Denn wie gesagt, man kam ja gerade darum hierher, weil sogar ein echter Picasso im Gewirr der Dekoration unterging und sich der allgemeinen Atmosphäre unterordnete. Einer Atmosphäre, die sich aus der massiven Selbstüberschätzung der Gäste ergab, Leute, denen das Betreten dieses Lokals als ein deutliches Zeichen ihres exklusiven Rangs erschien. Ein deutlicheres gab es in dieser Stadt kaum noch. Denn es nützte ja nichts, wie das sonst üblich war, jemanden zu kennen, der jemanden kannte und so weiter.
Im Prinzipal tickten die Uhren anders. Hier bestand ein mysteriöses System, das dazu führte, daß manche Leute selbst in höchsten Positionen keine Chance bekamen, je dieses Lokal zu besuchen. Da konnten sie Männchen machen, soviel sie wollten. Der Chef dieses Restaurants bestimmte mit der gleichen Entschlossenheit, wie man das wohl bei der eigenen Wohnung tun würde, wer sein Lokal frequentieren durfte und wer nicht. Natürlich waren es fast nur Leute der höheren Gesellschaft, die hier ein und aus gingen, aber die Selektion, die der Manager betrieb, irritierte und verstörte dennoch. Eigentlich widersprach sie den guten Sitten, nicht zuletzt dem Gesetz. Etwa das unausgesprochene, nichtsdestoweniger allgemein bekannte Lokalverbot für den amtierenden Bundespräsidenten oder das für den Direktor der Albertina und damit Bewahrer der größten Sammlung von Fälschungen, nicht nur von Klimt-Fälschungen, in Europa. Auch bekannte Vorstände, Schauspieler, Sportler, Wissenschaftler oder hohe Beamte gehörten zu den Verbannten. Und es ging das Gerücht um, daß dies darum so war, weil diese Leute einfach nichts zu sagen hatten und ihre Macht in Staat und Gesellschaft nur eine scheinbare war, sie jedenfalls in keiner Weise dazu qualifizierte, einen Abend im Prinzipal zu verbringen.
Klaus Soonwald hatte sieben Jahre zuvor die Leitung dieses Restaurants übernommen. Er war in den hiesigen Kreisen völlig unbekannt gewesen. Ein Mann aus Deutschland, hatte es geheißen, wie man sagt: Das Unglück ist ein Pferd. – Warum ein Pferd? möchte man fragen. Aber für Leute, die einmal von einem Pferd gefallen sind, stellt sich diese Frage nicht.
Soonwald hatte weder als versierter Gastronom gegolten noch als Mann der oberen Zehntausend. Und der Umstand, daß er in seiner alten Heimat als Herausgeber des »Schwäbischen Bürgerblattes für Verstand, Herz und gute Laune« fungiert hatte, hatte eher zu einem abfälligen Lächeln geführt. Die Wiener Gesellschaft fühlte sich zwar als Inbegriff einer kulturellen Wesenheit, meinte damit jedoch in erster Linie den Besuch eines Theaters oder das Theater eines Besuchs und hatte folglich wenig damit anfangen können, daß jemand ernsthaft die Verbreitung theoretischer Schriften betrieb. Viel Text, kaum Bilder – das war für die Wiener nicht Kultur, sondern schlichtweg Unkraut. Sodaß also für einen Moment der Verdacht im Raum gestanden hatte, ein Unkraut produzierender Deutscher würde eine der besten gastronomischen Adressen der Stadt übernehmen.
Dann allerdings war rasch ruchbar geworden, daß Soonwald ein enger Freund oder Berater oder sogar Kompagnon von Claire Montbard war, einer Frau, deren eigentliche Funktion zwar ebenfalls recht nebulös blieb, über die zu lächeln indes keiner in dieser Stadt gewagt hätte. Ihr Ruf war vergleichbar dem einer Kriegsgöttin, die ja zur Not auch den Frieden begünstigen konnte, wenn sie denn wollte. Wie auch immer, das Gerücht einer Verbindung zwischen Montbard und Soonwald hatte rasch zur Reputation des Neulings geführt. Einer Reputation, die sich noch dadurch steigerte, daß Soonwald die bisherige umfangreiche Speisekarte abschaffte, erst recht die nicht minder umfangreiche Weinkarte und nur noch einen roten Hauswein, einen weißen Hauswein sowie eine einzelne Tagesspeise anbot. Nicht etwa ein ganzes Menü, sondern wirklich nur ein bestimmtes Gericht, welches wesentlich vom Charakter sogenannter Hausmannskost dominiert wurde, in keiner Weise also mit jener nasalen Kochkunst zusammenhing, die ihren Höhenpunkt dadurch erfährt, möglichst wenig Dinge über möglichst große Teller zu verteilen. Wodurch weniger ein Essen stattfindet als die Vorstellung von einem Essen, mehr ein Essen im Kopf als ein tatsächliches.
Im Prinzipal hingegen waren die Portionen so ausreichend, daß sich eine unendliche Folge verschiedener Gänge als unnötig erwies, um ausgewachsene Männer und Frauen satt zu machen (und Prominenz ändert ja nichts am grundsätzlichen Zustand des Ausgewachsenseins wie des Hungrigseins). Freilich war es so, daß diese jeweilige Tagesspeise, gleich ob geröstete Leber, Hirn mit Ei oder Schlutzkrapfen, so teuer war wie ein umfangreiches Menü. Aber die Gäste zahlten gerne. Zum einen, weil die wenigsten dazu ihr eigenes Geld verwendeten (das wäre ihnen geradezu unanständig erschienen), und zum anderen war die Küche im Prinzipal wirklich hervorragend. Soonwald hatte irgendein altes Weibchen hinter den sieben Bergen hervorgezaubert, oder wenigstens in Tschechien oder Rumänien aufgetrieben, auf jeden Fall eine Meisterköchin nach Wien geholt. Vielleicht auch eine böse Hexe. Fakt war, daß diese Frau alles, was sie zubereitete, mit einer eigenen Gewürzmischung versetzte, welche den Namen Fanta trug. Das hatte natürlich nichts mit dem gleichnamigen Getränk zu tun. – Womit dann? Nun, das wußte niemand. Und Soonwald schwieg. Ebensowenig bekam man seine famose Köchin je zu Gesicht. Sie blieb in ihrer Küche, unterstützt von einer einzigen Hilfe, einer leicht behinderten jungen Frau, die man ab und zu beim Zigarettenrauchen im Hof traf. Und dank derer man wenigstens den Eindruck gewinnen konnte, daß richtige Menschen in dieser Küche standen. Und nicht etwa Zwerge, die es ja in der Zwischenzeit zu einiger Berühmtheit gebracht hatten.
Soonwald selbst tat nicht viel mehr, als daß er einfach anwesend war und sich mit einigen bevorzugten Gästen unterhielt, wobei sich die Bevorzugung daraus ergab, daß jemand intelligent und gebildet genug war, Soonwalds Ausführungen zu Fragen der Literatur oder ähnlich Schöngeistigem folgen zu können. Die Bedienung der Gäste hingegen überließ der Chef völlig seinen Angestellten. Das kriegten die schon alleine hin. Sie waren übrigens berühmt für ihre weißen, überaus steifen Schürzen, die weniger herunterhingen, als daß sie herunterstanden, hart und glänzend wie Marmor. Und hinter den Schürzen schöne junge Menschen, jedoch kalt und ausdruckslos. Von den Mädchen hieß es, sie seien alle Lesben und die Burschen alle schwul. Jemand Betrunkener sagte einmal sehr richtig: »Ich glaube viel eher, die sind alle tot.«
Das soll jetzt nicht heißen, daß die Stimmung im Prinzipal eine frostige war. Ganz im Gegenteil. Kaum ein Ort in dieser Stadt durfte als gemütlicher gelten, zumindest für Leute, die ansonsten in Firmenzentralen und Parteizentralen, in Fernsehstudios und im unbarmherzigen Blitzlicht ihr Dasein fristeten. Ständig herrschte eine große Ausgelassenheit, nicht selten wechselten einzelne Gäste die Tische, sodaß kleine wie große Runden entstanden, Offizielles gleich neben Intimem zur Sprache kam, Privates wie Öffentliches. Vor allem wurden Entscheidungen getroffen, die zu treffen man eigentlich den ganzen Tag Zeit gehabt hatte und genau dafür auch bezahlt wurde. Doch erst im wohligen, nestartigen Gewölbe eines mit kleiner und großer Kunst zugehängten Nobelrestaurants schienen die Mächtigen willens, über die Interessen ihrer Interessengruppen hinweg sich im Handschlag des Kompromisses zu treffen. Zumindest war das ihr eigener Eindruck, und zwar genau darum, weil sie sich dank ihres gesellschaftlichen Auserwähltseins für Marionettenspieler hielten. Aber die Wahrheit war natürlich die: Sie waren die Marionetten. Ein Haufen mechanischer Puppen, die keine Ahnung davon hatten, in einem Doppelsternsystem zu leben.
Und diese Puppen saßen und standen wie auf einer Bühne, da nämlich das Prinzipal zur Straße hin über hohe Fensterscheiben verfügte, die man im Sommer so ineinander verschob, daß sie fast vollständig verschwanden. Jedenfalls konnten die Spaziergeher zu jeder Jahreszeit einen guten Blick in die berühmte Örtlichkeit werfen. Niemand jedoch blieb stehen, um irgendeinem Staatssekretär beim Verzehr einer herzhaften Gulaschsuppe zuzusehen. Das gehörte sich nicht. Und merkwürdigerweise hielten sich die meisten Wiener daran. Was eigentlich gar nicht zu ihnen paßte. Aber offensichtlich waren sie in diesem speziellen Fall äußerst vorsichtig. So, wie man ja auch nicht in die taghelle Sonne oder in eine leuchtende Glühbirne schaut.
Es war ein aufregender Tag gewesen. Die Bilder, die von der Plutosonde New Horizons zur Erde gefunkt worden waren, hatten den Verdacht genährt, daß entweder mit den Kameras etwas nicht stimmte oder mit dem Zwergplaneten. Doch wenn man ersteres ausschloß, mußte man zu der Einsicht kommen, daß es sich bei den Gebilden um mehr handelte als um bloß zufälligerweise ein bißchen hausartig dastehende geologische Formationen. Nein, diese Gebilde ragten derart kompakt aus der ansonsten öden Oberfläche auf und muteten derart technoid an, daß kaum anzunehmen war, der kleine, kalte Pluto hätte sie ganz von alleine hervorgebracht. Vielmehr schien es so zu sein, daß zum ersten Mal die Spuren einer fremden Zivilisation entdeckt worden waren. Oder vielleicht sogar der eigenen, als sich selbige noch auf Pluto befunden hatte. (Dieser Gedanke würde es sein, der bald die Köpfe beherrschen sollte: die Vorstellung gottgleicher Urmenschen, die wegen irgendeines vorzeitlichen Dramas ihren Standort gewechselt und von der klaren Kühle der Peripherie in die gemäßigte Zone der inneren Planeten umgezogen waren, damit aber auch ein wenig das Gottgleiche eingebüßt hatten. Was freilich logisch ist: Die klimatischen Bedingungen der Erde bedingen spirituelle Trägheit und ein Dasein zwischen Raubrittertum und Hängematte.
Die Theorie von der Existenz von Göttern, die einst von Pluto emigriert waren und sodann ihre Zuflucht auf der Erde mit Degeneration und Rückfall in die Barbarei, den Sexus und die Besserwisserei hatten bezahlen müssen, jedoch erst nach Jahrtausenden den Tiefpunkt erreicht hatten, nämlich die Herausbildung der Automobilindustrie, diese Theorie fand ihre Bestätigung in einem Fund, welchen der deutsche Paläontologe Maximilian Rorschach bereits 2010 der Öffentlichkeit präsentiert hatte. Und zwar vom Gefängnis aus, in welchem er eine lebenslange Haftstrafe absaß wegen des Mordes an seiner Frau, einer einst berühmten Schubert-Sängerin. Darum wohl hatte man Rorschach nicht wirklich zugehört. Jetzt aber konnte man kaum noch ignorieren, daß dieser Mann einen Stein analysiert hatte, dessen fossile Struktur eindeutig und in oftmaliger Wiederholung die Kleinplanetennummer von Pluto offenbarte. Einen Stein aus Dinosaurierzeiten.
Rorschach wurde der Held einer neuen Bewegung, die – eingedenk des bekannten Rousseauschen Diktums – dem Schlachtruf »Zurück zu Pluto« folgte. Wie auch immer man sich das dachte. Jedenfalls erhielt jene Nummer 134340 einen völlig neuen Status, wurde zur magischen Zahl, zum Tischlein-deck-dich einer revolutionären Gottsuche. Und mit einem Mal dachte niemand mehr, wenn er den Namen Rorschach hörte, an einen blöden Psychotest, sondern nur noch an einen weisen Stein und seinen Entdecker.
Was indes nie bekannt wurde, war die Herkunft dieses Steins. Darüber schwieg sich Rorschach beharrlich aus. Ebenso verweigerte er eine Antwort auf die Frage, wie es möglich sein konnte, daß eine mindestens zweihundert Millionen Jahre alte Ziffernfolge mit einer neuzeitlichen Numerierung zusammenpaßte. Denn schließlich ergab sich die 134340 aus der schlichten Einreihung des Explaneten Pluto in die lange Liste des offiziellen Kleinplanetenkatalogs. Es war also ein banaler, wenn auch von der Boshaftigkeit der Internationalen Astronomischen Union getragener bürokratischer Akt, der auf rätselhafte Weise bereits in einer Zeit, da noch nicht einmal der Archaeopteryx existiert hatte, in einen Stein gemeißelt worden war. Doch genau dieser Sonderbarkeit war es zu verdanken, daß der Verdacht, es handle sich um eine Fälschung, von den meisten Menschen ausgeschlossen wurde. Denn man konnte sich nun mal nicht vorstellen, daß jemand so dumm gewesen war, eine derartige Ungereimtheit zu riskieren. Nein, gerade dieser märchenhaft dubiose Umstand schien die Plausibilität zu verstärken. Bestätigte die Realität einer Zahl, die von Beginn an existiert hatte und welche ganz sicher mehr bedeutete als bloß eine fortlaufende Nummer in einem ziemlich dicken Verzeichnis.
So war es also gekommen, daß man mit dieser Zahl den Namen Rorschach unauflöslich verband, ja von der Rorschachzahl sprach. Und es gab eine Menge Leute, die sämtliche Hebel in Bewegung setzten, diesen Mann aus dem Gefängnis zu bekommen. Mord hin oder her, es gab Wichtigeres als Schubert-Sängerinnen.)
Natürlich diskutierten auch die Gäste, die gerade im Prinzipal saßen, das Ereignis, gaben sich dabei aber gelassen und zugleich ein wenig skeptisch. Immerhin war man ja vor einigen Jahren den Amerikanern wegen der Mondsache auf die Schliche gekommen. Ein langgehegter Verdacht hatte sich bestätigt. Der amerikanische Präsident war gezwungen gewesen, zuzugeben, daß die erste Mondlandung gewissermaßen ein künstlerisch-cineastisches Geschenk der NASA an Kennedy gewesen war, ganz nach dem Motto: Was wir wollen, können wir auch filmen.
Jedenfalls hielt sich zumindest im Prinzipal an diesem Abend die Aufregung ob der taufrischen Plutobilder noch in Grenzen.
Es war kurz vor neun, als Lorenz Mohn das Lokal betrat. Er trug einen schwarzen Anzug, in dem er so schlank und leichtgewichtig und gleichzeitig stabil wirkte wie diese Radrennfahrer, die in die Wirtschaft wechseln. Einer der beschürzten Kellner trat auf ihn zu, allerdings von der falschen Seite her, sodaß eine kleine Weile verging, bevor Lorenz im Zuge einer gedankenlosen Schwenkung seines Kopfes den jungen Mann wahrnahm und dessen bereits zum wiederholten Male vorgetragene Frage nach einer Reservierung beantwortete.
In der Folge wurde Lorenz an einen kleinen Tisch im rückwärtigen Teil des vollbesetzten Lokals geführt, nahe einer in viele kleine Fenster unterteilten Trennwand. Dahinter befand sich ein Extraraum, der einen einzelnen großen Tisch beherbergte und jenseits dessen der Innenhof lag, in welchem immer wieder mal die rauchende Küchenhilfe zu beobachten war.
Lorenz nahm Platz und erkundigte sich – offensichtlich in Kenntnis der hiesigen Gepflogenheiten – nach dem Tagesgericht, das im Prinzipal immer zugleich als Abend- und Nachtgericht fungierte.
»Rehrücken«, sagte der Kellner mit einer plötzlichen Traurigkeit in seiner Stimme, als wollte er sagen: »Das Reh war zum Schluß schon sehr krank.«
Doch selbst kranke Rehe können gut schmecken, wenn die Köchin sie zuzubereiten weiß.
Lorenz nickte und bestellte zum Essen eine Flasche Weißwein. Er sah sich in keiner Weise verpflichtet, diesen Abend, was auch immer ihm selbiger abverlangen würde, in nüchternem Zustand zu überstehen.
Der Kellner verschwand mit einer affektierten Grazie. Die Schürze vor seinem Unterleib und seinen Beinen verblieb dabei vollkommen faltenlos.
Lorenz blickte sich um. Er war der einzige Gast, der alleine saß. Um ihn herum herrschte die Lebendigkeit einer vom grandiosen Rehrücken gestärkten, ja inspirierten gesellschaftlichen Prominenz. So sah er etwa eine bekannte Schauspielerin, die wie eine mächtige weiße Kerze aus dem Kreis ihrer Bewunderer herausstach. Dort einen Politiker, dem nachgesagt wurde, er gehe über Leichen, das aber ausgesprochen versiert. Ein Vibrieren war im Raum. Eine Rotwangigkeit der Gespräche und Gefühle.
Lorenz selbst hingegen fühlte sich deplaziert, obwohl seine Gestalt und Erscheinung perfekt in das noble Ambiente paßten. Ja, er mutete wie jemand an, der Abend für Abend an diesen Ort kam und dessen Alleinsein ein gewolltes war. Ein schöner Mann, der gleich einem monolithischen Grabstein eine kleine, intime Sphäre beherrschte und dessen Schönheit pur und unkommentiert blieb. Denn was wäre zum Beispiel eine aufregende Frau an seinem Tisch anderes gewesen als die Bestätigung seiner Aura? So, als wollte man einen Spiegel bespiegeln oder einen Teich gießen.
Nein, so, wie er hier saß – ganz für sich, gewissermaßen unbefleckt –, strahlte er eine kafkaeske Würde aus. Und damit ist nicht gemeint, daß er an einen hilflosen Käfer oder verwirrten Antragsteller erinnerte, sondern vielmehr die Vorstellung eines in seiner Einsamkeit und Schwermut perlenartig verankerten Jahrhundertgenies erfüllte.
Mit ebendieser Würde aß er, trank er, bestellte Kaffee und verbarg, daß er wartete. Darauf wartete, ein Leben zu retten und seine Schuld zu begleichen.