| Mann und Kaktus

Nachdem er der Polizei seine Fingerabdrücke überlassen und sodann – unbewacht! – eine Stunde auf dem Gang gewartet hatte, wurde Lorenz in ein Büro geleitet, in welchem Spann und Stirling sowie eine Tasse Kaffee auf ihn warteten.

»Der Kaffee ist aus der Aida«, bemerkte Stirling und wies mit der Hand aus dem Fenster. Solcherart unterstrich er den Umstand, keine berüchtigte Wiener Polizeibrühe zu servieren, sondern vielmehr ein bekannt wohlschmeckendes Erzeugnis aus der Konditorei auf der gegenüberliegenden Straßenseite. – Aida also! Somit war klar, daß Stirling der gute Polizist sein würde. Während Spann mittels seines Schweigens wohl den Part des bösen Polizisten übernahm. So war das in Wien.

»Wir befragen Sie zunächst als Zeugen, versteht sich«, erklärte Stirling.

»Wie meinen Sie das: zunächst

»Ich bin kein Meteorologe. Ich kann das Wetter nicht voraussagen.«

»Na, ich hoffe, daß Sie nicht versuchen, das Wetter selbst zu bestimmen.«

»Keinesfalls. Aber Sie haben selbstverständlich die Möglichkeit, jetzt gleich Ihren Anwalt anzurufen.«

»Wozu? Ich habe nichts getan, außer im falschen Bett aufzuwachen.«

»Das kann man wohl sagen«, fand Stirling und klärte Lorenz über die Identität des Toten auf.

Es handelte sich um einen Herrn Nix, den ehemaligen Besitzer der gleichnamigen Bäckerei. Welcher ein nicht ganz unbedeutendes Mitglied der »Paläontologischen Gesellschaft« gewesen war. Obgleich Hobbyforscher, gingen ein paar interessante Entdeckungen auf ihn zurück. Ein Fisch aus dem Tertiär trug seinen Namen. Ein kleiner Fisch, aber dafür ein ganzer, also nicht nur eine Gräte oder ein Knorpel. In der Paläontologie galt die Regel: lieber die ganzen zwanzig Zentimeter als von acht Metern bloß die Hälfte. Jedenfalls besaß Herr Nix eine höchst umfangreiche Sammlung fossiler Muscheln und war der Autor von gleich zwei Büchern über die Trilobiten. Auf diese Weise allerdings hatte er seine Bäckerei vernachlässigt, obgleich einige Leute behaupteten, Nix sei einer der letzten wirklichen Bäcker in dieser von diabolischen Bäckereiketten unterwanderten Stadt gewesen. In seine Semmeln habe man beißen können, ohne das Gefühl zu bekommen, man befinde sich noch immer im Zweiten Weltkrieg. Denn diese Frage muß ja gestellt werden dürfen: Wieso die Semmeln immer schlechter werden, obwohl die Technik doch ständig fortschreitet? Stimmt vielleicht was mit der Technik nicht? Oder konzentrieren wir uns zu sehr auf den Kraftwerksbau und den Museumsbau und auf die Verkleinerung unserer Laptops und zuwenig auf die Qualität unserer Semmeln?

Das Problem mit Herrn Nix war nun gewesen, daß er oft tagelang sein Geschäft nicht aufgesperrt und eine irritierte Kundschaft zurückgelassen hatte, der nichts anderes übriggeblieben war, als zur Konkurrenz zu wechseln. Und irgendwann hatte Nix die Bäckerei aufgeben müssen. Seither hatte man ihn kaum gesehen.

Und jetzt war er tot. Eine erste Untersuchung der Leiche hatte nichts ergeben, was über das Offenkundige hinausgegangen wäre. Fabian Nix war ein neunundfünfzigjähriger, mittelmäßig gesunder oder eben mittelmäßig kranker Mensch gewesen, den nichts anderes umgebracht zu haben schien als ein Messer, das wirkungsvoll seine Luftröhre geöffnet und seine Halsschlagader durchtrennt hatte. Kampfspuren waren keine entdeckt worden. Der Schnitt mußte so rasch und glatt erfolgt sein, daß ein Mehr an Gewalt nicht nötig gewesen war. Die Schwierigkeit bei der Rekonstruktion der Tat ergab sich daraus, daß Lorenz Mohn von seinem Bett in die Blutlache gestiegen war, aus der Blutlache heraus, dann wieder hinein sowie in späterer Folge in den davor liegenden Raum getreten war, um erst dort mittels Handy die Polizei zu benachrichtigen. Auf diese Weise hatte er den Tatort dank eigener Fuß- und auch Handspuren derart verunstaltet, daß es schwer war, zwischen den Hinweisen zu unterscheiden, die auf die Mordtat verwiesen, und jenen, die Lorenz Mohn post mortem hatte entstehen lassen.

»Ja, das ist jetzt die Frage, die sich für uns stellt«, sagte Stirling, »ob wir Sie für ungeschickt oder für raffiniert halten sollen. Ob Sie wirklich unabsichtlich durch das Blut gelaufen und es im Raum verteilt haben oder ob Sie auf diese Weise die eigentlichen Spuren… verwischt haben.«

»Unsinn«, erwiderte Lorenz. »Und Sie wissen, daß das Unsinn ist. Ich hatte keinen Grund, diesem Mann etwas anzutun. Ich kannte ihn ja gar nicht. Warum reden Sie nicht zum Beispiel mit dem Vermieter? Der kannte Nix ganz sicher.«

»Weil der Vermieter kein Blut an den Händen hat. Sie schon.«

»Wie oft soll ich das noch erklären.«

»Schon gut. – Herr Nix war Bäcker. Und Sie waren, soweit wir das in der Eile feststellen konnten, im Pornogeschäft.«

»Das mußte jetzt kommen«, stöhnte Lorenz Mohn. »Und? Was wollen Sie mir damit sagen? Daß ich quasi vorbestraft bin? Nicht im juristischen Sinn, das nicht, aber im moralischen.«

»Als ich Sie nach Ihrem Beruf fragte, hätten Sie mir einfach antworten können.«

»Ich bin in diesem Beruf nicht mehr tätig. Wozu also Wind darum machen? Bin ich ein Windrad? Soll ich mich drehen, nur damit die Polizei eine dämliche Spur verfolgen kann? Eine Sexspur?«

»Niemand verlangt, daß Sie sich drehen. Bleiben Sie gerade stehen, und sagen Sie einfach die Wahrheit.«

»Das tue ich.«

»Würden Sie das wirklich tun, dann hätten Sie erwähnt, den Abend bei Frau Bilten verbracht zu haben.«

Lorenz zuckte. Doch er hatte sich rasch unter Kontrolle, bemühte sich um eine gleichzeitig aufrechte wie lockere Haltung, gleich diesen Turmspringern vom Zehnmeter, und sagte: »Das geht Sie sowenig an wie mein alter Beruf. Wo sind wir denn? Wollen Sie meine Unterwäsche kontrollieren?«

»Wir wollen uns ein Bild machen, das vollständig ist«, erklärte Stirling. »Wenn wir aber nur die Hälfte wissen, kommt auch nur ein halbes Bild zustande. – Also, Sie waren bei Frau Bilten.«

»Sie war so freundlich, mich unter ihre Dusche zu lassen. Ich war durchnäßt. Sie erinnern sich vielleicht an das Gewitter gestern.«

»Wir erinnern uns«, sagte Stirling und blickte hinüber zu Hauptkommissar Spann, der jedoch einen derart leeren Ausdruck im Gesicht trug, als könnte er sich zwar an seine Kindheit in Seebühl am Bühlsee erinnern, aber sicher nicht an ein blödes Gewitter vom Vortag.

Lorenz Mohn erzählte davon, Sera Bilten und den kleinen Paul von der Straßenbahn abgeholt zu haben. Während des Gewitters. »Danach ging’s unter die Dusche. Und dort hatte ich Verkehr. So, Herr Stirling, sind Sie jetzt glücklich?«

»Sie verkennen mein Bemühen«, meinte der schöne Grieche gelassen. »Na, macht nichts. Hauptsache, wir kommen weiter. Sie hatten also Sex mit Frau Bilten. Warum sind Sie nicht bei ihr geblieben?«

»Weil sie es nicht wollte.«

»Das wundert mich«, meinte Stirling.

»Sie können sie gerne fragen.«

»Gut. Und warum sind Sie danach nicht nach Hause gefahren?«

»Ich war einfach zu müde.«

»Im Ernst? Aber scheinbar nicht müde genug, um darauf zu verzichten, eine Metalltüre aus der Wand zu reißen.«

Verdammt! Das war wirklich ein Argument. Lorenz mußte erst nachdenken. In seinem Kopf war ein Stein. So ein Scheißstein. Ein fossiliertes Exkrement, das man mit viel gutem Willen für ein Hirn halten konnte. Der Stein machte ihn ganz wirr. Wie war das bloß gewesen? Richtig, er hatte genau unter Sera schlafen wollen. Unter ihrem Schlafzimmer. So war es gewesen. Das sagte er jetzt auch, obgleich es ziemlich unglaubwürdig klang.

Folgerichtig meinte Stirling: »Das klingt unglaubwürdig.«

»Na sicher«, erwiderte Lorenz. Er griff nach dem Kaffee und trank. Der beste Kaffee der Stadt. Wenigstens das.

Nachdem er die Tasse wieder abgestellt hatte, nahm er erneut seine Position auf dem imaginären Zehnmeterturm ein und sagte: »Ich habe eine Warnung erhalten.«

»Was für eine Warnung?«

»Man hat gedroht, mir die Fresse zu polieren, wenn ich das Geschäft anmiete. Und wenn ich die Finger nicht von Sera lasse. Wobei ich da meine Finger noch gar nicht an ihr dran hatte.«

»In welcher Form erfolgte diese Warnung?«

»Ein Brief.«

»Wo ist er?«

»Liegt bei mir zu Hause.«

»Sie haben sich davon offensichtlich nicht beeindrucken lassen«, stellte Stirling fest.

»Ein bißchen schon«, entgegnete Lorenz. »Ich bin kein Held. Wenn mich jemand anbellt, dann ängstigt mich das. Andererseits kann ich mich nicht in Luft auflösen, nur weil einer mich nicht mag. Dieser Laden ist meine Zukunft. Basta! Und Frau Bilten ist meine Zukunft.«

»Dann darf man also gratulieren?«

»So weit sind wir noch nicht. Aber wenn Gott will, wird alles gut werden.«

»Und wer, denken Sie, hat Ihnen diese Drohung zukommen lassen?«

»Dieselbe Person, die sich die Freiheit nahm, mir eine Leiche unters Bett zu schieben«, sagte Lorenz, dem diese Idee erst jetzt gekommen war. Gewissermaßen um von der eigenen Person abzulenken. Und es hatte ja auch etwas für sich, daß die schriftliche Androhung eines »Hängekiefers« und der Umstand einer Leiche unter seinem Bett in irgendeinem Zusammenhang standen.

Ein Zusammenhang, den Stirling sich gerne von Lorenz erklären lassen wollte. Doch Lorenz meinte: »Da kann ich Ihnen nicht helfen. Ich sehe nur das Atom, nicht die Teilchen, die es zusammenhalten.«

»Na gut. Ich lasse Sie von einem Kollegen nach Hause fahren, und Sie geben ihm den Brief. Hat jemand außer Ihnen das Papier in der Hand gehabt?«

»Meine Nachbarin«, sagte Lorenz und erklärte die Umstände. »Aber sie hat nur das Kuvert angefaßt.«

»Gut. Ich werde das überprüfen lassen. Im Moment findet gerade die Obduktion der Leiche statt. Am Nachmittag wissen wir mehr. Sie werden verstehen, daß ich Sie bitten muß, sich zu unserer Verfügung zu halten.«

»Sie meinen, ich soll froh sein, nicht eingesperrt zu werden.«

»Nun, im Gefängnis ist der Kaffee ganz sicher nicht so gut wie hier bei uns. Im übrigen können Sie davon ausgehen, daß wir unser Handwerk verstehen und nicht Leute einsperren, nur um unsere Zellen vollzukriegen. Unsere Zellen sind voll genug.«

»Dann werde ich also auf Ihr Handwerk vertrauen«, sagte Lorenz.

Stirling brachte ihn zur Türe, wo bereits ein Beamter wartete. Lorenz drehte sich nochmals um und schaute zu dem alten Kommissar. Spann blickte soeben gebannt auf einen vertrockneten Kaktus. Solcherart bildete er im Gegenlicht einen dunklen, gebogenen Flecken. Mann und Kaktus. Lorenz hätte gerne gefragt, welchen Beitrag dieser stumme Mensch zu der Ermittlung eigentlich beisteuere. Aber er ließ die Frage in seinem Mund, fügte sie zu den anderen ungestellten Fragen, die wie Speisereste zwischen seinen Zähnen steckten. Es sind diese Fragen, die unsere Zähne ruinieren. Karies ist bloß ein anderes Wort dafür.