11 | Knigge

Gott sei bedankt, daß es mir gelang, die holographische Nachricht zu Ende zu lesen, bevor sie zu einer Pfütze zerfiel. Sodann wischte ich sie auf, stellte die alte Ordnung aus aufgereihten Wassergläsern wieder her und begab mich nach oben. Der Wohnraum glühte fleischrot im Licht einer untergehenden Frühsommersonne. Meine Hand strich sachte und sanft über das neueste Exemplar des »Schwäbischen Bürgerblatts für Verstand, Herz und gute Laune«. Ich ließ mich müde in meinen Lesesessel fallen und verlor mich in einer düsteren wie diffusen Grübelei. Meine Gedanken standen im dichten Nebel wie nackte Zwerge, denen es somit nicht einmal vergönnt war, ein öffentliches Ärgernis zu erregen.

»Hallo, mein Lieber!« Maritta war ins Zimmer getreten. »Warum sitzt du im Dunkeln?«

»Ich denke nach.«

»Dazu brauchst du aber nicht Strom zu sparen«, sagte Maritta und drehte die Stehleuchte an.

»Ich muß morgen weg«, erklärte ich.

»Ach was?«

»Nach Solnhofen. Ich möchte einen Artikel über das dortige Museum schreiben. Wahrscheinlich wird es nötig sein, über Nacht zu bleiben.«

»Warum? Hat das Museum denn in der Nacht geöffnet?«

Ich lachte in der etwas blödsinnigen Art meines Alters und meinte: »Na, vielleicht habe ich ja eine Geliebte in Solnhofen.«

»Das ist kein Grund, dort zu übernachten«, erwiderte Maritta, wiederum in einer Weise, die suggerierte, daß ihr das Faktum einer Geliebten tatsächlich weniger schlimm erschiene als der Umstand, einer solchen Geliebten das Privileg der Nachtstunden zukommen zu lassen.

»Also gut«, sagte ich. »Ich werde zusehen, am Abend wieder hier zu sein. Aber ich kann’s nicht versprechen. Außerdem muß ich bald nach Amerika. Geschäftlich.«

Wenn ich dieses Wort wähle, dann weiß Maritta, daß damit nicht das »Schwäbische Bürgerblatt« gemeint ist, überhaupt nichts, was irgendwie mit guter Laune in Zusammenhang steht. Aber sie akzeptiert, daß auch ich ein paar Geheimnisse habe. Zum Beispiel, woher ich mein Geld nehme, um eine literarische Zeitschrift zu finanzieren. Denn interessanterweise kann man mit derartigen Journalen überhaupt kein Geld verdienen.

»Amerika also«, sagte sie und sank neben mich auf das Sofa. Sie kann das großartig: auf eine einschmeichelnde Weise Platz nehmen. Als würde sie diesen Platz mit ihrem schönen, runden Hinterteil ein klein wenig ersticken.

Ich umfaßte Marittas Schulter, zog sie an mich und roch an ihr. Natürlich waren da die Gerüche der Arztpraxis, in der sie den ganzen Tag zugebracht hatte. Ich weiß nicht, ob sie eine gute Ärztin ist, eine beliebte auf jeden Fall. Wie ich höre, verschreibt sie den Leuten genau das, was die Leute verschrieben haben möchten. Die Chemiefreunde kriegen Chemie, und die Pflanzenfreunde kriegen Pflanzen. Wer sich über winzig kleine Kügelchen freut, bekommt eben winzig kleine Kügelchen. Es geht ja allein um die Autorität, mit der etwas verschrieben wird, was sich ein halbwegs informierter Patient genausogut selber verschreiben könnte. Maritta erzählt mir oft von Kranken, die derart umfassend über die eigene Krankheit informiert seien, daß sogar sie, als die Ärztin, die sie ist, da nie und nimmer mithalten könne und sich gerne auch mal beraten ließe.

»Hab ich dir schon gesagt, wie hübsch du bist?« fragte ich und schnüffelte weiter an ihr.

»Gestern«, erinnerte sie. Und: »Aber man kann das natürlich jeden Tag sagen. Wenn es stimmt, wird es dadurch nicht falsch. Und wenn du mich anlügst, mein Liebling, schwächt sich die Lüge in der Wiederholung wenigstens deutlich ab. – Übrigens habe ich mich heute auf die Waage gestellt. Schon wieder ein Kilo mehr.«

Maritta kämpft, wie man so sagt, mit dem Gewicht. Und wie man so sagt: Es ist ein sinnloser Kampf. Sie nimmt eben zu. Ich finde aber, es steht ihr. Sie nimmt nur zu, was sie ohnehin zunehmen muß, als erfülle sie einen Plan, ja als würde sie bloß in ein Kleid hineinwachsen, ein selbstredend ideales Kleid. Damit kein Mißverständnis aufkommt, ich stehe nicht auf dicke oder gar fette Frauen. Doch der Umstand, daß Maritta mir soeben erklärt hatte, ein wenig zugenommen zu haben, erotisierte mich. Ich sagte ihr, ich hätte Lust auf sie.

»Das kommt davon, weil du dich den ganzen Tag mit Lyrik abgibst«, spöttelte Maritta und wollte sodann wissen, wohin nach Amerika ich reisen müsse.

»Mount Hood, in Oregon. Da ist so ein Berghotel, das Timberline Lodge.«

»Kann man da im Sommer Schi fahren?« fragte sie.

»Ich habe keine Ahnung.«

»Wenn man Schi fahren kann, komme ich mit.«

»Ich weiß nicht…«

»Ich störe dich schon nicht bei deinen Geschäften. Das weißt du.«

»Aber du kannst doch nicht so einfach Urlaub machen.«

»Das ist das mindeste, was ich kann«, erklärte Maritta, die es durchaus versteht, einige Dinge von der leichten Seite her anzupacken. Sie liebt dieses dumme Schifahren. Sie ist überhaupt auf eine kraftvolle Weise sehr sportlich. Tennis, Schwimmen, Handball. Ich frage sie oft, wozu das gut sein soll. Weil es Spaß macht, ist ihre Antwort. Das ist eine Antwort, die ich nicht verstehe. Wieso Spaß? Weil es sinn- und zwecklos ist? Weil es, zumindest bei einer Frau, Muskeln macht, wo man gar keine Muskeln haben möchte?

Maritta drückte sich sanft aus meiner Umklammerung, als gleite sie aus einem Bademantel, erhob sich und sagte: »Mach du mal das Essen. Ich gehe an den Computer.«

»Gut«, gab ich zur Antwort und wechselte in die Küche. Das ist ganz klar meine Sache. Und zwar nicht, weil ich so gut kochen kann. Aber ich habe eingesehen, daß man von einer Frau, die sich den ganzen Tag das Gejammer ihrer Patienten anhören muß, nicht verlangen kann, am Abend auch noch am Herd zu stehen. Schon gar nicht dann, wenn man ein Mann ist, der in der gleichen Zeit nicht viel mehr geleistet hat, als sich mit Sonetten, essayistischen Schriften und Landeskunde beschäftigt zu haben. Also koche ich, am liebsten irgendwelche Nudeln, weil Nudeln kaum schiefgehen können, nicht so schief wie all diese Aufläufe, die in den Backrohren ungeahnte Formen und Farben annehmen, mitunter zu roten Riesen anwachsen oder zu schrecklichen Löchern schrumpfen. Maritta findet es okay, daß ich auf Nudelniveau bleibe. Auch sehe ich zu, dabei kein Chaos anzurichten. Ich habe in irgendeinem Roman gelesen, man solle seine Küche putzen, bevor es zu spät sei. Das ist eine Aussage, die mir gefällt. Ich würde niemals ins Bett oder gar aus dem Hause gehen und eine verschmutzte Küche zurücklassen. Ich würde mich noch im Tod dafür genieren, der Nachwelt einen Haufen ungespültes Geschirr vermacht zu haben. Das ist so schlimm, wie nach dem Klogang die Spülung nicht zu betätigen.

Als sich Maritta eine viertel Stunde später an den Eßtisch setzte, hatte ich zwei Teller mit Hörnchennudeln serviert, darauf eine Tomatensauce aus dem Glas. (Man fühlt sich besser, wenn die Sauce aus dem Glas kommt. Genau so würde ich auch gute Gedichte definieren: Sie kommen alle aus dem Glas.) Ich griff nach einer Flasche Rotwein und betrachtete sie feindselig. Ich habe es nicht mit Korken. Diese Korken wollen ja gar nicht aus dem Flaschenhals heraus. Es ist, als versuche man ein Kaninchen aus seinem Bau zu ziehen.

»Mach du das, bitte«, ersuchte ich Maritta und reichte ihr den Wein.

Während sie mit Gleichmut das Gewinde in den Korken eindrehte, sagte sie: »Ich habe nachgesehen. Dieses Hotel in Amerika, wo du hinmußt, ist das Overlook-Hotel.«

»Nein«, korrigierte ich, »es heißt Timberline Lodge.«

»Ja, das Timberline Lodge ist das Overlook-Hotel aus diesem Stanley-Kubrick-Film, ›The Shining‹. Du weißt doch, die Sache mit Jack Nicholson, wo er so traumhaft böse ist. Ich mag den Film, ich mag auch Nicholson in dem Film, aber man muß schon sagen, daß er dann im Laufe seiner weiteren Karriere einigermaßen Probleme hatte, nicht unentwegt wie der verrückte Jack Torrance daherzukommen.«

»Wirklich dasselbe Hotel?«

»Zumindest ein Teil der Außenaufnahmen. Das schöne weitläufige Gebäude aus altem, grauem Holz. Und dahinter der hohe, weiße Berg. Mount Hood. Es stimmt, man kann dort auch im Sommer wunderbar Schi fahren. Hast du schon gebucht?«

Ich hätte jetzt lügen können. Aber was hätte mir das genutzt. Ich sagte: »Nein, noch nicht.«

»Sehr gut. Dann reserviere bitte für uns beide. Und lade halt die Schlampe aus, die du ursprünglich mitnehmen wolltest«, sagte sie ernst.

Und ich sagte ebenso ernst: »Ja, mache ich.«

Nach dem Essen fuhr ich noch rasch in die Stadt und holte mir in der Videothek den alten Kubrick-Film. Zusammen sahen wir ihn uns an. Gleich zu Anfang, wenn Jack Nicholson im Büro des Hotelmanagers sitzt und vor sich hingrinst, kennt man sich aus. Auf seiner gerunzelten Stirn steht: He, he, diesmal ist es nicht bloß ein Kuckucksnest, über das ich fliege, diesmal mache ich ernst. Und er macht ja dann auch ernst.

Was mich freilich sehr viel mehr beschäftigte, war das Hotel, welches da wildromantisch in einer tatsächlich beeindruckenden Landschaftskulisse stand, oberhalb der Baumgrenze, über sich nur noch den Gipfel. Na gut, das Ding war also weit oben plaziert, nahe am Himmel und damit auch irgendwie nahe am Universum. Andererseits mußte mir klar sein, daß im Unterschied zum Film, wo die Szenarien von winterlicher Einsamkeit geprägt sind, das reale Hotel einen ganzjährigen Anziehungspunkt für Touristen bildete. Ich konnte mir deshalb beim besten Willen nicht vorstellen, wieso meine Vorgesetzten ausgerechnet dieses Gebäude gewissermaßen als Startrampe ausgewählt hatten, um einen Archaeopteryx und einen Picasso nach X bringen zu lassen.

»Das Problem mit diesem Weib ist«, kommentierte Maritta die von Shelley Duvall mit großen Augen und Pferdegebiß nicht unattraktiv, doch extrem dünnhäutig gespielte weibliche Hauptfigur in »Shining«, »daß sie diesem Arschloch überhaupt nicht Paroli bietet. Ich glaube, daß die Männer genau von so was verrückt werden. Die einen werden verrückt, weil ihre Frauen machthungrige Furien sind, die anderen, weil ihre Frauen ständig mit offenem Mund dastehen und keinen Ton rauskriegen.«

»Na, soweit ich weiß, fängt sie im Laufe des Films ziemlich zu schreien an.«

»Ja, aber viel zu spät. Nichts ist schlimmer als ein Schreien, das mit Verspätung kommt. Lieber zu früh schreien, auch wenn kaum noch jemand begreift, was du eigentlich willst, als zu spät schreien. Man sollte Männer immer zur rechten Zeit einschüchtern. Bist du zu spät dran, stehst du als hysterische Kuh da.«

Während wir also gemeinsam zusahen, wie sich Shelley Duvall von einem grandios widerlichen Jack Nicholson zur Sau machen ließ und dabei nur ein weinerliches »Ja, Jack!« herausbrachte, faßte ich Maritta an die Brust. Ich liebe ihre Brüste. Vielleicht bin ich ein altersgeiler Trottel, aber ich kann nur sagen, daß Marittas Busen die perfekteste Form darstellt, die ich kenne. Und das sage ich nicht, weil ich meine Frau auf diesen Körperteil reduziere. Ich nehme die Form ja nicht für das Ganze. Man kann einen Busen lieben, ihn vergöttern, ohne deshalb den Charme und die Intelligenz oder auch nur die Augenfarbe seines Gegenübers zu übersehen. Zudem bin ich ganz sicher kein Busenfetischist, der immer und überall nur Brüste sieht. Die Busen anderer Frauen interessieren mich nicht. Marittas Busen genügt mir vollkommen, weil es einen schöneren nicht gibt. Ich sage ihr das auch, und zwar so oft, bis sie mich ermahnt, ihr nicht auf die Nerven zu gehen. Dann höre ich natürlich damit auf.

Wenn ich nun erklären müßte, wie dieser Busen aussieht – und wen würde das nicht interessieren? –, dann würde ich sagen… nein, ich werde jetzt nicht mit irgendwelchen dummen Melonen und anderen Früchten daherkommen oder Landschaftsformationen bemühen. Wenn schon, dann überirdisch, wenn schon, dann möchte ich von einem Doppelsternsystem sprechen, das von Nähe und Ausgewogenheit bestimmt wird, also nicht wie jenes über unseren Köpfen, wo zwischen den beiden ungleichen Sonnen eine ewige, dunkle, stark verdreckte Leere waltet.

Marittas Busen ist groß, aber nicht riesig, fest, aber nicht hart. Er ist hell, aber nicht weiß. Die Warzen und ihre Rondeaus haben etwas Gemaltes an sich. Und man weiß ja, daß der größte Reiz der Kunst eigentlich darin besteht, etwas zu berühren, was zu berühren die Museumsregeln verbieten.

Marittas Busen liegt in meinen Händen, als sei er genau dafür geschaffen worden, auch wenn das leider nicht die Wahrheit ist. Aber Liebe und Begeisterung führen zu Übertreibungen. Nun, es soll uns nichts Schlimmeres zustoßen!

Maritta plazierte ihre Hand besänftigend auf der meinen und erklärte: »Wir sehen uns jetzt den Film fertig an, okay?«

Mir war völlig entgangen, wie großartig das Finale ist, und damit meine ich nicht die Verfolgungsjagd durch das verschneite Labyrinth aus hohen Hecken, sondern die abschließende Kamerafahrt auf ein gerahmtes Foto hin, das an einer Wand im Hotel hängt und eine Ballgesellschaft aus dem Jahre 1921 zeigt. Ganz vorne erkennt man nach und nach einen Mann, der vollkommen identisch scheint mit jenem Jack Torrance, welcher ja gerade erst in den Wahnsinn gedriftet und sodann fulminant zu Tode gekommen ist. Natürlich bezieht sich der Film auf eine mysteriöse Zeitschleife, die hier irgendwie die Zwanzigerjahre mit dem Beginn der Achtzigerjahre verbindet. Für mich aber…nun, für mich ist es Normalität, daß jemand den Zeitraum von sechs Jahrzehnten ohne Einbußen des Äußeren überdauert. Allerdings ist das kein Grund, die eigene Familie umbringen zu wollen.

Nach dem Film gingen wir nach oben, legten uns ins Bett und hatten Sex. – So, wie ich sagen kann, ich liebe den Busen meiner Frau, aber eben nur den ihren, kann ich das auch für den Sex behaupten. Es ist die beste Art, einen Tag zu beenden. Besser noch, als ein Buch zu lesen, obwohl ich wahrlich ein Freund von Büchern bin. Und bedeutend besser, als Tabletten zu nehmen, obwohl ich dank meiner Frau einen idealen Zugang zu Tabletten hätte. Aber ich habe dank meiner Frau ja auch einen idealen Zugang zum Sex.

Danach gaben wir uns einen Kuß und drehten uns zur Seite, damit jeder in Ruhe ein paar letzten Gedanken nachhängen konnte. Es versteht sich, daß ich an meinen Auftrag dachte und mir überlegte, daß es im Grunde gut war, wenn Maritta mit nach Amerika kam. So konnte ich bis zum letzten Moment mir ihr zusammen sein. Denn schließlich hatten meine Vorgesetzten in keiner Weise erklärt, ich müsse alleine reisen. Ja, das war gut so. Wir würden Schi fahren gehen, vergnügliche Tage verbringen, genußvolle Abende, und irgendwann würde ich halt verschwunden sein. Wie Menschen das mitunter tun. Dort, wo Schnee liegt, sowieso.

Allerdings war da auch ein kleiner Zorn, der mich in meinem Schlaf begleitete: Warum ausgerechnet Picasso?

Am nächsten Tag stand ich wie immer vor Maritta auf und bereitete das Frühstück. Frühstück ist noch einfacher als Nudeln, vor allem dann, wenn man einen Eierkocher besitzt, der für einen die Minuten zählt. Die Blumen freilich, die ich auf den Tisch stellte, waren ganz allein mein Verdienst. Sie stammten aus meinem kleinen Garten, den ich nicht minder vermissen werde.

»Herrlich!« sagte Maritta.

Nicht, daß sie wirklich hingesehen hatte. Aber das verlange ich auch nicht. Ich bin ein großer Freund der Geste. Sollte ich mich entschließen, ein Buch mit nach X zu nehmen, so wird es Adolph Freiherr von Knigges »Über den Umgang mit Menschen« sein. Denn was Knigge über die Menschen sagt, das gilt für die Leute auf X in demselben Maße. Obgleich wir dort seit langem ohne echte Kriege auskommen, hat dies wenig am würdelosen Umgang der Individuen untereinander geändert. Wir werfen keine Bomben, das stimmt, aber sonst …

Kein Wunder, daß mich die Vorstellung beunruhigte, demnächst für mindestens zwei Jahrzehnte mit vier anderen Leuten, von denen wahrscheinlich keiner Knigge gelesen hat, in einem Raumschiff von der Größe eines Einfamilienhauses eingesperrt zu sein.

Nach dem Frühstück fuhr ich meine Frau in die Praxis und machte mich sodann auf den Weg nach Solnhofen. Ich wollte mir einen ersten Überblick verschaffen. Ich hatte Glück mit dem Wetter und auch Glück mit dem Wagen, der sich nicht immer wie vom Hersteller versprochen verhält. Nach dreistündiger Fahrt stand ich in dem kleinen Museum, das, in bräunlichen Tönen gehalten, eher den Eindruck eines Fliesengeschäfts aus den Achtzigerjahren vermittelt. Sauber und warm und ein wenig geschmacklos. Doch wie auch immer man das sehen mag, es handelt sich um eine ganz wunderbare Sammlung, die hier zusammengestellt wurde. Und am wunderbarsten natürlich jener Skelettfund eines Archaeopteryx. Wobei man gut verstehen kann, daß anfänglich spekuliert worden war, es mit einem kleinen Raubsaurier zu tun zu haben. Es ist nicht ganz einfach, aus dieser langschwänzigen Gestalt einen Vogel herauszulesen. Aber der Vogel steckt drin, das weiß man heute.

Die Solnhofener präsentieren ihren Urvogel in einer liebevoll-altbackenen Weise, eher so, wie man Juwelen und Reliquien ausstellt, mit einer seidenen, altmeisterlich drapierten Unterlage, von der die Gesteinsplatte mit dem Fossil hochragt und im Schutze eines kristallartigen Glassturzes hell erleuchtet sich dem Betrachter offenbart.

Mich bedrängte sofort ein schlechtes Gewissen, als ich vor diesem Objekt stand, welches so viele Millionen Jahre im Plattenkalk geschlummert hatte, um heute in einer derart respektablen Weise gezeigt zu werden. Als liege nicht bei den Hominiden, sondern bei den Vögeln der Ursprung der Menschheit. Und ich denke ja auch, daß nicht wenige Leute diese Vorstellung mit Beifall kommentieren würden. Trotz aller Intelligenz, die die Menschenaffen zu besitzen scheinen, fühlt sich der Homo sapiens eher zur Eleganz des Fliegens hingezogen als zum Schaukeln auf Lianen. – Und ausgerechnet an mir sollte es nun sein, die Solnhofener dieser Spur der Vergangenheit zu berauben.

Auch wenn ich kein Mensch bin, so bin ich noch lange kein Unmensch.

Als ich am selben Abend wieder zu Hause saß und Maritta ihren Kopf auf meiner Schulter hatte, überlegte ich, daß ein simpler Raub nicht in Frage kam. Mitunter ist es nämlich ein Ausdruck guten Benehmens, eine Lüge aufzutischen, wenn es denn eine gute Lüge ist. Eine Lüge, mit der die Menschen besser leben können als mit der Wahrheit.

Mein Beschluß bestand darin, eine haargenaue Kopie des Fossils herstellen zu lassen, um sodann eine Auswechslung vorzunehmen. So würde niemand unter dem Verlust zu leiden haben. Sagte ich mir. Daneben war freilich auch der Vorteil gegeben, daß es leichter sein würde, ein nicht vermißtes denn ein vermißtes Objekt außer Landes zu bringen. Doch in meinem Kopf steckte in erster Linie der Wille zu einer guten Lüge. Weil die Wahrheit hier eben nicht zumutbar war.

Als erstes benötigte ich jemanden, der in der Lage war, eine perfekte Nachbildung des Solnhofener Exemplars herzustellen. Und ich brauchte jemanden, der über die Alarmanlage Bescheid wußte, mit welcher der alte Vogel gesichert wurde.

Ich habe durchaus Verbindungen. Denn sosehr meine Umwelt mich als den gedankenverlorenen, allein von einer Unmenge von Freizeit konditionierten Ehemann einer sehr viel vitaleren und in jeder Hinsicht praktischen Ärztin empfinden mag, so steckt trotzdem der ausgebildete Agent in mir. Noch dazu ein Agent erster Klasse. Mein in fünf Jahrzehnten gewachsenes Bäuchlein ändert nichts an meiner Fähigkeit zu kämpfen, zu täuschen, zu tricksen und in der Not auch unkonventionelle Wege zu beschreiten. Zudem habe ich in diesen fünfzig Jahren ein kleines Netz von Informanten sowie einige Kontakte zur Unterwelt aufgebaut. Zur Unterwelt darum, weil man mit diesen Leuten besser reden kann. Weil sie verläßlicher sind. Manche von ihnen scheinen einen Hang zu gewaltvollen und inhumanen Lösungen zu haben, doch nicht wenige sind vernünftige Leute, die ein klares Wort zu schätzen wissen. Die Geschäfte, die sie machen, mögen unmoralisch sein, aber das ist das Wesen von Geschäften an sich. Das Geschäftemachen erzeugt nicht eine kriminelle Energie, sondern umgekehrt. Und das ist ja auch logisch. So wie ein Auto nicht das Benzin antreibt und der Vogel nicht den Himmel auf seinen Flügeln trägt. Viel Energie, viele Geschäfte. Ich rede nicht von der Milch, die jemand produziert, damit jemand anderer sie trinkt, sondern von den Leuten, die zwischen der Milch und dem Milchtrinker stehen und jede erdenkliche Komplikation provozieren und absolut kein Verbrechen auslassen, um von all den sinn- und zwecklosen Umwegen zu profitieren. Geschäftsleute empfinden derartiges als Geschicklichkeit, und so kann man es ja sehen. Kriminell ist es dennoch. – Auch wenn die Menschen sich dies nicht gerne eingestehen: Der Menschenhandel und der Milchhandel unterscheiden sich nur im Produkt, nicht in der Vorgehensweise.

Ich muß übrigens noch erwähnen, daß ich auf X das Töten erlernt habe. Es gehört dazu, selbst bei uns. Die Reduktion auf kleine und unwichtige Kriege und ein gewisses Stillhalten zwischen den Nationen haben nichts daran ändern können, daß das Spitzelwesen, das Agentenwesen, die Spionage, dieses Bedürfnis, Kontrolle zu gewinnen und Kontrolle zu verteidigen (auch wenn man dazu listigerweise Freiheit sagt, als würde man ein Haifischbecken als Aquarium bezeichnen, was man ja kann, aber…), kurz: daß dies alles genauso blüht und gedeiht wie auf der Erde.

Einer meiner Informanten riet mir davon ab, die Kopie eines solchen Fossils in Stuttgart herstellen zu lassen. Es könnte sich herumsprechen. Da sei es besser, die Fälschung im Ausland in Auftrag zu geben. In Österreich lebe ein Mann, der sich besser als jeder andere dafür eigne. Einerseits wegen seiner faktischen Fähigkeiten. Und andererseits, weil er dank seiner Leidenschaft für diese ganz Ausgraberei – dieses Auf-den-Kopf-Stellen der Erdgeschichte – in eine finanzielle Sackgasse geraten sei. Ideale Bedingungen also.

Ich informierte mich über den Mann. Ein Bäcker aus Wien. Ein Bäcker ohne Bäckerei, zumindest hatte er seinen Laden geschlossen, um sich nur noch einem Hobby zu widmen, für das ihm eigentlich das Geld fehlte. Sein Name war Nix. Komischer Name, dachte ich. Aber mir sind Namen nicht so wichtig. Ich schaue auch nicht auf die Hände einer Person oder ob jemand schwitzt oder schön trocken bleibt, sowenig, wie ich der Zahl 13 auszuweichen versuche. Nix also, von mir aus.

Ich rief ihn an und kam ohne Umschweife darauf zu sprechen, was ich von ihm wollte. Bevor er noch etwas Ablehnendes sagen konnte, nannte ich eine Geldsumme, welche klarmachte, daß ich erstens nur eine ausgezeichnete Arbeit akzeptieren würde und daß ich zweitens nicht zu den Leuten gehörte, die Ablehnungen duldeten. Das ist ganz wichtig: genau jenen Betrag zu nennen, dessen Höhe das Gegenüber paralysiert. Zuviel wäre dabei ebenso ein Fehler wie zuwenig. Die Höhe muß den Ernst der Situation symbolisieren. Bei der Bezahlung zu über- oder zu untertreiben ergibt stets eine Karikatur. Das verbindet Niedriglohnempfänger mit Topmanagern.

Nix begriff sofort, daß es eine Diskussion nicht geben würde. Er fragte nur: »Bis wann brauchen Sie den Vogel?«

Ich hätte sagen können: in fünf Wochen. Aber ich wollte meine Macht mittels Freundlichkeit unter Beweis stellen. Darum erkundigte ich mich: »Schaffen Sie es in fünf Wochen?«

Ich vernahm sein Nicken durch die Telefonleitung. Dann nannte er mir den Tag, an dem ich nach Wien kommen und das »Fossil« abholen sollte.

Es ist sicher keine Kleinigkeit, eine solche Kopie herzustellen, wenn einem das Original nur in Abbildungen zur Verfügung steht. Aber bekanntermaßen kann man auch einen Picasso ganz gut fälschen, ohne darum vor dem echten Bild sitzen zu müssen. Ja, im Grunde besteht eine Meisterschaft der Fälscher darin, mittels der Fälschung das bessere Werk zu schaffen. – Ich war überzeugt, daß Nix das hinbekommen würde. Ich war überzeugt, daß er einen Archaeopteryx modellieren könnte, der sich dank winzigster Details irgendwann als noch ergiebiger erweisen würde als der echte Vogel. Ich dachte mir die Sache so ideal – so human! – wie möglich.

Leider sollte sich die Wahrheit als weit komplizierter herausstellen. Nix mochte zwar ein paläontologisches Genie nicht weniger als ein begnadeter Fälscher von Fossilien sein (ein paar von den Tieren, die er angeblich entdeckt hat, haben nie existiert), aber in ihm steckte gleichwohl ein gewisser Irrsinn. Gemäß meinen Informationen war er bereits seit Monaten nicht mehr der Mieter des Ladens, in dem er einst seine kleine Bäckerei betrieben hatte. Doch obwohl jemand anderer das Geschäft soeben renovieren ließ, suchte Nix weiterhin Nacht für Nacht, eine Seitentüre benützend, die Räume auf, um in einem rückwärtigen, von der Welt abgetrennten Kämmerchen seiner Arbeit nachzugehen. Und nun bestand diese Arbeit ebendarin, einen besseren Solnhofener Archaeopteryx herzustellen.