15 | An die Musik
In der stummen Hitze eines über den Kontinent gewölbten Nachmittags erreichten Stirling und Mohn den kleinen Ort Solnhofen. Es war im Grunde wie im Abenteuerroman, wenn die Helden einer Geschichte endlich auf dem richtigen Eiland ankommen. Dort, wo der Schatz begraben liegt. Oder sich zumindest die Erkenntnis verfestigt, daß ein solcher Schatz gar nicht existiert. Und daß es in Wirklichkeit Liebe und Freundschaft sind, die den Menschen ins Glück versetzen.
Die beiden verließen den kleinen, schwarzen, flachen Fiat, der sich in den vergangenen Stunden tatsächlich als ein braves Auto erwiesen hatte, ein trotz seiner sportiven Erscheinung eher zurückhaltender Wagen. Ein Wagen ohne Allüren, aber mit Profil. In der Art muskulöser Männer, die freilich niemals ein kurzärmeliges Hemd tragen würden. Oder auch nur ohne Jackett auf die Straße gehen.
Auf der Fahrt hatten die zwei Männer wenig gesprochen. Doch es war nicht etwa ein peinliches Schweigen gewesen. Eher wie man schweigt, wenn man gerade nichts zu sagen hat und sich der Anblick der vorbeiziehenden Landschaft als reizvoll genug erweist, um es dabei auch zu belassen.
»Also, ins Museum«, gab Stirling die Richtung vor.
Vor dem Eingang des schlichten Gebäudes standen mehrere Gruppen von Radfahrern. Leute in engen Hosen und engen Leibchen, alle wie Profisportler ausgestattet, aber mit fleischigen, weißen Beinen und kleinen und großen Bäuchen, die das elastische Material formschön spannten. Diese Männer und Frauen wirkten ausgeruht und vergnügt. Keine Spur einer Strapaze war ihnen anzusehen. Es handelte sich ganz eindeutig um Meister im Neben-dem-Rad-Stehen und Meister im Faltplanlesen.
An den Leuten vorbei betraten Stirling und Mohn das Museumsgebäude. Durch ein schmales Entree ging es in den Ausstellungsbereich. Niedrige Räume, die von Brauntönen beherrscht wurden, welche an die taillierten und mit allerlei Täschchen ausgestatteten Männerhemden erinnerten, wie man sie früher in Reader’s-Digest-Heftchen beworben hatte.
Obgleich Stirling und Mohn ja Laien waren, begriffen sie rasch, welch wunderbare Objekte hier ausgestellt wurden. Kronjuwelen der Erdgeschichte. Und genauso waren sie auch präsentiert. Vor allem der herausragende, wie ein Heiligtum unter einem sakral geformten Glassturz plazierte Stein, der das Fossil eines Archaeopteryx lithographica beherbergte. Der Stein das Skelett, der Glassturz den Stein, das Gebäude den Glassturz, Solnhofen das Gebäude und der liebe Gott – so kann man hoffen – Solnhofen.
Die beiden Männer starrten durch die Scheibe auf das hell erleuchtete Objekt. Auch sie bemerkten natürlich, wie wenig dieses Fossil an einen Vogel erinnerte und wie sehr an eine Echse, einen Teufel, einen kompakten Dämon. Allerdings einen scheinbar unbeflügelten Dämon. Darum war es recht bedeutsam, daß hinter diesem Stein, in einer an die Wand gefügten Vitrine, ein weiteres Archaeopteryxfossil ausgestellt war, welches sich jedoch auf das isolierte Skelett eines rechten Flügels beschränkte. Ein Mensch mit Vorstellungskraft konnte somit auch ohne diverse Lebendrekonstruktionen sich ein Bild davon machen, wie dieser Vogel ausgesehen haben mußte. Ein Teufel als Taube. Ein Alien als Elster.
So faszinierend der Anblick all dieser Ausstellungsstücke war, sosehr das ganze Museum auf eine intime und undramatische Weise eben nicht nur die Fossilien, sondern nicht weniger die Besucher schirmartig schützte, einen jeden in das Gefüge der Zeit und der Evolution einspann (denn was wäre der Mensch anderes als ein aus der Evolution geborener Museumsbesucher, ein Betrachter der eigenen Entwicklung?), so wenig Informationen ergaben sich in bezug auf den Kriminalfall, in den Mohn und Stirling ja nicht minder eingesponnen waren. Aber es war auch nicht zu erwarten gewesen, daß die Antwort auf die Frage, wieso ein ehemaliger Bäcker tot unter Mohns Bett gelegen hatte, nun aus dem urzeitlichen Stein praktisch herausspringen würde. Immerhin aber verstärkte sich sowohl bei Mohn als auch bei Stirling der Verdacht, daß diesem Fossil nicht nur für den Darwinismus und die Paläontologie eine große Bedeutung zukam, sondern ebenso für die Aufklärung besagten Verbrechens. Es war bloß ein Gefühl, doch es war ein starkes Gefühl. Und Gefühle sind immerhin abstrakte Gewißheiten, esoterisch verzerrte Fakten. Ja, dieser Vogel hatte Nix das Leben gekostet. Dieser Vogel hatte wahrscheinlich auf die eine oder andere Weise schon eine ganze Menge Menschen das Leben gekostet. Und je mehr man diesen Vogel begriff, seine Bedeutung zu Lebzeiten wie seine Bedeutung hundertfünfzig Millionen Jahre danach, umso eher würde man verstehen können, wieso eine bestimmte Person hatte sterben müssen.
Die beiden schönen Männer durchwanderten das kleine Museum, betrachteten alte Fische und alte Schalentiere, Seelilien und Seegurken, durchwanderten die frühen Meere und empfanden bei alldem eine gewisse Zufriedenheit ob einer ausgewogen und diszipliniert dastehenden Natur. Wobei dieser Eindruck vielleicht auch ein wenig der Aufgeräumtheit des Museums zu verdanken war, den sauber ausgeleuchteten Schaukästen und Vitrinen, den Inventarnummern und bildhaften Beschreibungen, vor allem aber der Übersichtlichkeit, während man in den Sammlungen der großen Naturkundemuseen einer geradezu absurden, wenn nicht sogar von Hilflosigkeit und Verwirrung zeugenden Vielfalt begegnet. Hier in Solnhofen hingegen schien die Natur in all den Millionen Jahren immer gewußt zu haben, was als nächstes zu tun sei. Und als sich dann für ebendiese Natur die Frage aufgedrängt hatte, ob unhandliche und zur Maßlosigkeit und Großmannssucht neigende Saurier wirklich als Höhepunkt der Schöpfung fungieren sollten, hatte sie sich dazu entschlossen, den Archaeopteryx in die Welt zu setzen. Selbst bei heutiger Betrachtung kann eigentlich gesagt werden, daß Vögel unter dem Strich sicher die perfektesten Wesen sind. Den Göttern am nächsten, zumindest, wenn man sich Götter als elegante, freifliegende Wesen vorstellt und nicht als Leute, die in den Passagierräumen klobiger Jets ihre Beine ausstrecken und den banalen Service einer ersten Klasse als Kulminationspunkt der Zivilisation ansehen.
So war es also auch in einem quasi religiösen Sinn naheliegend, daß die beiden Männer nach ihrer kleinen Wanderung durch die Zeiten und Welten erneut vor dem Archaeopteryx stehenblieben, der von einer kunstvoll drapierten samtenen Unterlage aufragte.
»Ich wundere mich«, sagte Stirling, »daß Sie unserem toten Nix, als er noch nicht tot war, niemals begegnet sind. Der Mann hatte Sie ja offensichtlich im Visier. Er hat Sie bedroht, hat davon gesprochen, Ihnen weiß Gott was anzutun, wenn Sie nicht die Hände von Sera Bilten lassen.«
»Ich glaube doch eher, daß es Nix um den Laden ging. Immerhin hatte er da seine Werkstatt.«
»Mir kommt vor, als wollten Sie einem Gespräch über Ihre neue Freundin ausweichen.«
»Keineswegs. Aber ich wüßte nicht, was sie mit der Sache zu tun hat.«
»Na ja«, sagte Stirling, so wie man sagt: Im Herbst hört der Sommer langsam auf. Um gleich darauf anzufügen: »Immerhin war Sera Bilten einmal mit diesem Nix verheiratet.«
»Bitte?« Lorenz Mohn faßte unwillkürlich Stirlings Arm.
Was sich dieser einen Moment gefallen ließ, sodann sachte die fremde Hand und den auf eine verzweifelte Weise festen Griff von seinem Arm strich und meinte: »Aha, wie es scheint, wußten Sie das nicht.«
»Nein…nein, ich hatte keine Ahnung.«
»Sie muß sehr jung gewesen sein. Die Wohnung, in der sie jetzt lebt, gehörte einmal Nix. Es war eine kurze Ehe, die Scheidung ging ohne großen Krach über die Bühne, allerdings heißt es, Nix hätte darunter gelitten. Ich denke, er hat diese Frau wirklich geliebt.«
»Ich bin der erste, der das verstehen kann«, meinte Lorenz. »Ich begreife nur nicht, warum mir Sera davon nichts erzählt hat.«
»Ja, das sollte man herausfinden.«
»Haben Sie mit Sera darüber gesprochen?«
»Das habe ich. Kurz nur. Aber da war leider nichts, was sie mir sagen konnte oder wollte. Ich weiß nicht, wie man diese Frau einschätzen soll. Jedenfalls spielt sie ganz sicher nicht mit offenen Karten.«
»So sieht es aus«, meinte Lorenz mit einer Stimme so voll von Bitterkeit, als würde er an jeden Buchstaben ein Beatmungsgerät anfügen.
»Kommen Sie, gehen wir«, sagte Stirling. »Die Luft wird uns guttun.«
Nun, die Luft half nicht direkt. Es war heißer als zuvor. Die beiden Männer setzten sich auf eine Bank, die im Schatten lag. Ein Schatten, in dem wenigstens ein bißchen von der Kühle des nahen Waldes lagerte. Kühle in der Art eines Zwischenrufs.
»Zigarette?« fragte Stirling und hielt Lorenz seine Packung hin.
»Kann nicht schaden«, sagte Lorenz und zog eine heraus. Er fühlte sich miserabel. Auf eine zynische Weise war ihm nach Lungenkrebs zumute. Er rauchte die Zigarette so, als könnte man sich mit einer einzigen davon umbringen. Stirling merkte das. Er hätte gerne gesagt, daß es wirklich nichts zu bedeuten brauchte, wenn Sera diese Ehe unerwähnt gelassen hatte. Aber das stimmte nun mal nicht. Spätestens nachdem Nix ermordet worden war – man bedenke: da liegt der tote Ex genau unter dem lebenden Liebhaber!–, hätte Sera davon erzählen müssen. Ihr Schweigen mußte etwas bedeuten. Und beide Männer befürchteten, daß es nichts Gutes war.
Nachdem sie ausgeraucht hatten, stiegen sie in den Wagen und verließen den Ort, ohne sich mehr als den Vogel und das Museum angesehen zu haben. Sie fuhren hinüber nach Eichstätt, jenem Ort, welcher gewissermaßen aus dem Jurameer hochgestiegen war, um dem deutschen Katholizismus als Ausbildungsstätte und als eine Art Bühnenbild repräsentativer Glaubenslehre zu dienen. Wenn man hierherkam und durch das barocke Stadtzentrum schlenderte, wähnte man sich selbst als kleiner Bischof, verspürte zumindest ein theologisches Empfinden, einen klerikalen Muskel. Gelegen war dieser Ort im Altmühltal, das nun ganz sicher eins der lieblichsten Täler ist, das sich denken läßt. Auch trotz der Felsen, die an mancher Stelle wuchtig aus den Hügeln treten und ihrerseits eine bischofsartige Präsenz besitzen, etwas Unverwüstliches und Unbelehrbares. Ja, diese Felsen sind katholisch. Man kann sich an ihnen die Zähne ausbeißen. Aber wer wollte das tun? Wer wollte seine Zähne in den Katholizismus schlagen, in diese Versteinerung einer blutenden Wunde?
Sicher auch Mohn und Stirling nicht. Der Grund, nach Eichstätt zu fahren, war der, daß neben aller katholischen Pracht dieser Ort außerdem ein Zentrum der Paläontologie war, was man den knöchernen Schätzen der hiesigen Plattenkalke verdankte. Stirlings Vorgesetzter, welcher selbstverständlich über die geplante Reise informiert worden war, hatte einst in Eichstätt ein Studienjahr absolviert und kannte aus dieser Zeit einen Mann namens Rorschach, Maximilian Rorschach, der sowohl als Paläontologe wie auch als Ehemann einer berühmten Opernsängerin Furore gemacht hatte. Hauptkommissar Boris Spann, der – wenn der Zweck es gebot – durchaus den Mund aufmachen konnte, hatte jenen Freund aus alten Tagen telefonisch kontaktiert und ihn ohne große Umschweife nach dem toten Nix gefragt. Auch Rorschach hatte jegliche Umschweife oder Vorsichten gemieden und erklärt, Nix sogar recht gut gekannt zu haben. Allerdings wäre ihm neu, daß dieser gestorben sei.
»Ermordet, um das Unglück beim Namen zu nennen«, hatte Spann gesagt.
»Das wundert mich gar nicht.«
»Wieso?«
»Nix war ein Verrückter. Ein großartiger Verrückter, aber eben eine Zumutung für sein Umfeld.«
»Augenscheinlich eine sehr große Zumutung«, hatte Spann gemeint und erzählt, in welchem Zustand Nix aufgefunden worden war.
»Das ist nicht sehr schön«, war Rorschachs Kommentar gewesen.
»Wäre es denn möglich«, hatte sich Spann erkundigt, »wenn morgen mein Assistent bei dir vorbeischaut? Wir haben so gar kein Bild von diesem Nix. Vielleicht könntest du uns in dem Punkt ein bißchen helfen. Außer du findest, das sei eine Zumutung.«
»Solange du mich nicht verdächtigst, alter Polizist.«
»Um ehrlich zu sein, alter Leichenschänder, ich verdächtige das Gras, daß es wächst.«
»Hauptsache, du kommst nicht selbst her und weist mir einen Mord nach, den ich gar nicht begangen habe. Dir trau ich so was zu. Du bist eine Figur wie aus einem Dürrenmatt-Roman. Ein Glück, daß diese Figuren langsam aussterben.«
»Ja, das ist wahr«, hatte Spann gesagt. »Die Welt verliert ihre dürrenmattschen Figuren. Es gibt fast nur mehr Polizisten, die entweder wie Kleinkriminelle oder wie Börsenmakler daherkommen.«
Spann und Rorschach hatten eine Weile in dieser Art herumgealbert, den Ernst und den Spaß zu einer Maschenreihe verwebend, um dann doch noch das Wesentliche zu besprechen. Rorschach erklärte sich bereit, Stirling und dessen Begleiter Lorenz Mohn zu empfangen und ihnen von Fabian Nix zu erzählen.
Und darum also waren die beiden schönen Männer in Eichstätt gelandet.
Man traf sich in einem gemütlichen kleinen Restaurant, welches so früh am Abend fast leer war. Rorschach erwies sich als ein vornehmer Mensch um die Sechzig. Trotz der Hitze des Tages trug er Anzug und Krawatte. Er hatte eine gute Flasche Weißwein bestellt, ohne sich jedoch in der bekannt peinlichen Weise als Weinkenner aufzuspielen. Er erinnerte an den alternden Richard Burton. Es war etwas Kaltes an ihm, aber etwas warmes Kaltes. Seine Traurigkeit, seine Gebrochenheit, dieser alkoholisch-depressive Zug, das alles wirkte kunstvoll und diszipliniert. Hier saß ein Mann, der sein Unglück gewollt hatte, es auf dem Rücken trug – und fast gar nicht damit angab.
Stirling legte die Karte mit dem Archaeopteryx vor Rorschach auf den Tisch.
»Und?« fragte Rorschach, ohne die Karte zu berühren.
»Auf der Rückseite steht etwas geschrieben.«
Rorschach nahm die Karte, drehte sie um und las laut: »Keine Angst vor toten Tieren. – Na, wer das geschrieben hat, kennt sich entweder nicht aus oder ist ein Zyniker. Tote Tiere – und hier sind ja wohl sehr alte tote Tiere gemeint – neigen dazu, mehr Fragen aufzuwerfen als zu beantworten. Paläontologen sind arme Schweine, fast so arm wie die Astrophysiker. Absolut labyrinthische Wissenschaften. Kaum taucht man ein, ist man auch schon verloren. Darum ist es nur verständlich, daß wir gerne so tun, als hätten wir den Überblick. Die moderne Technik hilft uns bei dieser Lüge. Computermodelle, neue Analyseverfahren, Hochrechnungen in die Vergangenheit, nicht zuletzt die Popularität von Saurierfilmen, ich meine nicht nur ›Jurassic Park‹ und so, selbst die wissenschaftlichen Dokumentationen und Animationen. Ich sage immer, Saurierfilme sind wie Sexfilme.«
Lorenz Mohn zuckte ein wenig.
Rorschach schenkte Wein in die drei Gläser und erzählte, daß er Nix bei einem Symposium in Wien kennengelernt habe. »Ein ausgezeichneter Mann. Leider ziemlich besessen, wie viele Laien. Er hat davon geträumt, etwas Außerordentliches zu entdecken, nicht bloß die üblichen Käfer und Würmer und Flossen, alten Kot und alte Eier – oder sagen wir so, wenn schon Eier, dann Eier, die unser ganzes bisheriges Denken auf den Kopf stellen. Das ist typisch für Laien. Ihnen fehlt die Trägheit der Profis, deren Ehrgeiz dadurch befriedigt wird, daß sie Lehrstühle besetzen, Institute leiten, Buch um Buch veröffentlichen, Gehälter beziehen, Pensionen, Ehrungen. Laien hingegen sind Umstürzler. Sie wollen die Welt verändern, weil sie die Welt, die ihnen nicht zuletzt Lehrstühle und Institutsleitungen verwehrt, hassen. Sie wollen etwas entdecken, was die verhaßte Welt zur Explosion bringt.«
»Und wie wollte Nix die Welt sprengen?« fragte Stirling.
Rorschach antwortete: »Er dachte an die Intelligenz. An eine kognitive Intelligenz, wie wir sie heute definieren, bloß daß er meinte, sie hätte sehr viel früher bestanden als angenommen. Eine animalische Intelligenz lange vor der menschlichen. Ich will es einmal ganz drastisch ausdrücken: Nix war auf der Suche nach einem versteinerten Gehirn. Nur daß Gehirne halt leider nicht zur Fossilisation neigen. Aber etwas in dieser Art hatte er wohl im Sinn. Er wollte den Umstand einer prähistorischen Vernunftbegabung beweisen. Was verständlicherweise nicht so gut angekommen ist. Man hat Nix vorgeworfen, unter einem Däniken-Syndrom zu leiden. Andererseits hat Nix aber auch konventionelle Arbeit geleistet, ganz ausgezeichnete Arbeit, und damit gezeigt, daß er kein reiner Spinner ist. Das sind freilich die Schlimmsten, diese Leute, die man einerseits ernst nehmen muß, anderseits für verrückt hält. Trotzdem, ich konnte ihn ganz gut leiden.«
»Es heißt, er hätte Sie einmal öffentlich beschimpft«, zeigte sich Stirling erstaunlich gut informiert.
»Er hat einen jeden von uns einmal öffentlich beschimpft. Manche ärgert so was, andere nicht. Sehe ich so aus, als würde es mich aus der Bahn werfen, von einem Mann verunglimpft zu werden, welcher – vergessen Sie das nicht – sein Leben als Bäcker gefristet hat?«
»Das klingt jetzt recht hochmütig.«
»Mag sein. Doch es ist nun mal ein Unterschied, wer Sie attackiert. Ein anerkannter Kollege oder ein als verrückt verschriener Laie.«
»Das hat natürlich etwas für sich«, gab Stirling zu und erkundigte sich sodann nach der Bedeutung des Archaeopteryx.
»Bedeutung für wen?«
»Für Nix.«
»Ich denke, er mochte den Vogel. Er mochte diese ganze Gegend hier. Welcher Paläontologe nicht? Trotzdem glaube ich kaum, daß er gehofft hat, über diesen Vogel an sein gesuchtes Gehirn zu gelangen.«
»Wie wörtlich soll ich das mit dem Gehirn nehmen?« wollte Stirling wissen.
»Nun, Nix hatte wohl eher ein Artefakt im Sinn, welches die Existenz jener frühen Intelligenz belegen würde.«
»Eine versteinerte Laserpistole?«
»Vielleicht nicht ganz so dramatisch, lieber Kommissar. Aber doch…etwas in dieser Art.«
Stirling dachte an den Stein, den er in Nix’ Werkstätte an sich genommen hatte und welchen er, in eine kleine Umhängetasche gepackt, noch immer mit sich führte. Er holte das Objekt von der Größe einer Kinderhand aus dem Beutel und legte es neben die Archaeopteryxkarte auf den Tisch.
»Was ist das?« fragte Rorschach.
»Das würde ich gerne von Ihnen erfahren.«
Rorschach beugte sich zu dem Stein hin, berührte ihn vorsichtig, drehte ihn um, registrierte die sechsstellige Zahlenreihe und fragte Stirling, von wo er das herhabe.
»Vom Tatort. Zumindest vom Fundort der Leiche. Dem Arbeitsraum des Herrn Nix. Eine Art Bunker.«
»Merkwürdiges Ding«, kommentierte Rorschach. »Sieht künstlich aus. Eine symmetrische, geordnete, sich wiederholende Struktur. Sehen Sie, es ist ein richtiges System von parallel geführten Gruppen von Linien, die durch Abstände voneinander getrennt sind. Andererseits … es schaut so aus, als liege ein Teil dieser Struktur noch im Inneren des Steins. Man müßte also versuchen, sie ganz freizulegen. Nicht zuletzt, um sichergehen zu können, daß wir es hier nicht etwa mit einer kleinen, äußerst engagierten Steinmetzarbeit zu tun haben, nicht wahr? Kunst am Stein.«
»Genau darum würde ich Sie gerne bitten: das herauszufinden. Und für den Fall, daß es sich nicht um moderne Kunst handelt, sagen Sie mir dann bitte, wie alt das Stück ist.«
»Hat das irgendwas mit der Ermordung dieses armen Mannes zu tun?«
»Das wird noch festzustellen sein«, sprach Stirling.
Rorschach hob den Stein vorsichtig in die Höhe, als versuche er, ein Küken in den Schlaf zu wiegen. In seinem Blick lag eine Mischung aus Skepsis und Vorfreude. Nicht nur, daß er sich im unklaren darüber war, was das Ding darstellte, fragte er sich zusätzlich, ob es besser wäre, bloß eine Fälschung aufzudecken. Oder aber das Gegenteil. Doch worin genau würde das Gegenteil bestehen?
Rorschach hob den Kopf an. »Darf ich einen Vorschlag machen? Kommen Sie doch mit mir mit. Meine Frau gibt heute abend einen Liederabend. Drüben im Bischöflichen Palais.«
»Ich dachte, sie tritt nicht mehr auf«, bewies jetzt auch Lorenz seinen guten Informationsstand. Er liebte klassische Musik (wie erstaunlicherweise auffallend viele Leute aus dem Pornogeschäft), und darum war ihm Rorschachs Frau ein Begriff. Er besaß sogar mehrere Aufnahmen von Mai Hillsand, deren Sopranstimme die Kritiker gerne eine magische Qualität zusprachen. Zugesprochen hatten, um genau zu sein. Denn vor einigen Jahren hatte sich Hillsand mit der Plötzlichkeit eines Sekundentods aus dem Konzertbetrieb zurückgezogen. Ohne ein Wort an ihre Fans. Geradezu bösartig. Und rasch war es still um sie geworden, was aber wohl ganz in ihrem Sinne gewesen war. Dieses Hinaussterben aus dem Wahnsinn der Hochkultur, der Gigantomanie gesprochener oder gesungener Worte.
Mai Hillsand entstammte der Ehe eines deutschen Unternehmers mit einer Japanerin, die als Dolmetscherin in die Bundesrepublik gekommen war. Hillsand war also der Name des Vaters, während der Vorname Mai die japanische Wurzel verriet, gleichzeitig aber auch in deutschen Ohren einen vertrauten Klang besaß. Mai Hillsand hatte spät zu singen begonnen und im Alter von fünfundvierzig wieder damit aufgehört. Das hatte genügt, um einigen der großen Gesangsrollen in einer unverwechselbaren Weise Gestalt zu verleihen. Die Kritiker hatten sich gerne damit beholfen, die beinahe statische Präsenz dieser Sängerin mit ihrem östlichen Hintergrund in Verbindung zu bringen. Man könnte jedoch ebenso sagen, daß Hillsand schlichterweise darauf verzichtet hatte, wie ein verrücktes Huhn über die Bühne zu springen, ohne darum den Stil riesenhafter Walküren zu pflegen, die in Inbrunst dahinschmelzen, jedoch leider nicht an Masse verlieren. Nein, sie hatte ihre Rollen zu einer präzisen Geste verdichtet. Vielleicht war das japanisch, konnte aber genausogut ein Hinweis auf die kaufmännische Geradlinigkeit des Vaters sein. Wenn man schon unbedingt die Gene ins Spiel bringen mußte.
Warum die berühmte und schöne Mai ausgerechnet einen zwölf Jahre älteren Paläontologen geheiratet hatte – der ja nur dem Wesen, nicht dem Aussehen nach an Richard Burton erinnerte –, blieb ein Rätsel. Rorschach galt in Gesellschaftskreisen als Langeweiler, als ein Mann, der mit Knochen spielte, was im Grunde weder Künstler noch Politiker interessiert. Die Begeisterung für Saurier besteht sehr viel mehr bei den sogenannten kleinen Menschen als bei den adulten Eliten. Jeder Sechsjährige kann heute einen Allosaurus von einem T-Rex unterscheiden. Im deutschen Bundestag dagegen …
Aber geheiratet hatten sie eben doch. Zur Bestürzung einer ganzen Menge Verehrer.
Ja, es stimmte, Mai Hillsand hatte aufgehört, die Konzert- und Opernhäuser zu bereisen. Und ebenso damit aufgehört, ihre Stimme auf dünne Tonträger pressen zu lassen. Kaum jemand wußte, was sie eigentlich tat, in ihrem Haus nahe Eichstätt.
Rorschach berichtete nun, daß zur Zeit ein gewisser Kardinal in der Stadt zu Besuch sei, ein Verehrer der Kunst seiner Frau, dessen größter und sehnlichster Wunsch es sei, Mai Hillsand noch einmal singen zu hören.
»Meine Frau«, sagte Rorschach, »hat ein absolutes Faible für Kardinäle. Was ich verstehen kann. Wenn man eine solche Stimme hat wie sie, gibt es wenig, wohin man aufschauen kann. Eigentlich nur zum lieben Gott.«
»Ein Kardinal ist nicht der liebe Gott«, meinte Stirling humorlos.
»Aber ein Partikel davon. So kann man es sehen. Jedenfalls hat sich Mai überreden lassen, heute einen kleinen Liederabend zu geben.«
»Das ist doch ganz sicher eine geschlossene Gesellschaft«, vermutete Lorenz.
»Richtig. Aber ich kann Sie mitnehmen. Ich bin zwar nur der Ehemann, doch man kennt mich. Man weiß, daß ich keine Kardinalsmörder zum Konzert meiner Frau mitbringe. Nein, begleiten Sie mich, wenn es Sie nicht stört, hinten zu stehen.«
Lorenz erklärte, daß er, um Mai Hillsand zu hören, gerne auch auf dem Kopf stehen würde.
»Stimmt, es gibt Leute«, bestätigte Rorschach, »die täten sich die Augen ausstechen lassen. Klassische Musik ist immer Fanatismus. In Ordnung, so soll es sein. – Nach dem Konzert lassen wir meine Frau bei ihrem Kardinal, und ich bringe Sie beide in unser Haus, wo Sie übernachten können. Wir leben sozusagen im Wald. Dort habe ich auch mein Labor. Sobald Sie versorgt sind, werde ich darangehen, mir diesen Stein hier genau anzusehen. Morgen früh wissen wir mehr. Einverstanden?«
»Wunderbar«, sagte Stirling.
Lorenz freilich hätte sich gerne erkundigt, ob Mai Hillsand nachkommen würde oder ob sie in Eichstätt blieb. Aber er sagte nichts.
Man redete noch ein wenig über Wien, welches Maximilian Rorschach in einer für seinen Stand und seine Position erstaunlichen Heftigkeit als einen »von Hunden aller Art zugeschissenen Ort« bezeichnete.
»Waren Sie oft da?« fragte Stirling.
»Viel zu oft. Wegen meiner Frau, versteht sich. Es heißt ja, die Musik sei in Wien zu Hause. Das würde dann allerdings bedeuten, daß die Musik ein bißchen pervers ist.«
Man lachte. Auch Rorschach, obgleich er sehr ernst meinte, was er sagte. Denn man kann sich ja wohl kaum einen unernsten Richard Burton vorstellen, oder?
In dem kleinen Saal herrschte eine Atmosphäre der Spannung und des Auserwähltseins. Jeder hier, vielleicht von Stirling und natürlich Rorschach abgesehen, empfand den privathistorischen Moment, der sich daraus ergab, daß an diesem Abend eine Sängerin singen würde, die ja gar nicht mehr sang, sondern mit großer, geradezu menschenverachtender Konsequenz dem Konzertbetrieb den Rücken zugewandt hatte. Und die nun also dem Kardinal ihr Ständchen brachte. Die anderen Zuhörer, Begleiter Seiner Eminenz, zwei, drei Bischöfe, wie man sagt zwei, drei Auswechselspieler, Theologen der Universität, der Bürgermeister und weitere Leute, die eine gewisse Bedeutung in dieser Gegend spielten, erfüllten die simple Funktion, Publikum zu sein, weil es einfach nicht schicklich gewesen wäre, hätte Mai Hillsand ganz alleine für den Kardinal gesungen. Wozu sie freilich sofort bereit gewesen wäre. Ihre Begeisterung für die katholische Kirche und ihre höchsten Würdenträger verdiente ein Wort: unerschrocken.
Und diese unerschrockene Katholikin trat nun unter einem respektvoll dosierten Applaus auf die kleine Bühne, auf der das Klavier stand. Mit ihr der Pianist, ein junger Mensch, der sein Glück nicht fassen konnte. Aber das war nicht neu. Mai hatte sich auch früher schon für ihre Liederabende stets unbekannte, eher unerfahrene Pianisten ausgesucht. Und dies nicht einmal begründet, also nicht über den aufdringlichen Stil altbewährter Klavierbegleiter lamentiert. Mais diesbezügliches Schweigen war ihr oft als Vornehmheit ausgelegt worden. Was ebenso stimmte, wie es falsch war.
Sie brauchte bloß ihren Finger zu heben, augenblicklich unterbrach das Publikum die Ovation. Da stand sie: die perfekte Frau. Wenn es die nämlich gibt, dann gab es sie hier. Hier und jetzt und absolut, und vielleicht sogar von Gottes Gnaden. Weil Perfektion nun aber schwer zu definieren ist, gleichwohl jedoch besteht, könnte man sagen, Mai Hillsand war eine 8, eine Schleife ihrer selbst, welche umgelegt das Zeichen für Ewigkeit ergab.
Ein eher weltlicher Aspekt ihrer Schönheit war hingegen die physiognomische Verbindung von Abendland und Fernem Osten. Der Umstand nämlich, daß alles, was ein japanisches Gesicht ausmacht– die maskenhafte Ordnung der Züge, die Absenz des Natürlichen wie des Vergänglichen, der Eindruck des Graphischen –, hier in gemilderter und dadurch erst vollkommener Gestalt auftrat. So ist das ja meistens, daß die Reinformen, selbst die schönen, etwas Aufdringliches, eigentlich Satirisches an sich haben. Das ist am stärksten bei Dialekten und Trachten und Volksmusiken zu erkennen. Erst in der Reduktion entfaltet sich das eigentliche Wesen. Und darum war es im Falle Mai Hillsands so, daß das Japanische durch das Europäische temperiert wurde, wie aber auch umgekehrt, und solcherart sich beides in karikaturloser Reinheit dem Betrachter offenbarte.
Davon abgesehen trug sie einen schwarzen Hosenanzug, der ihrem schlanken, jedoch äußerst kompakt wirkenden Körper die Eleganz einer Säule verlieh und daran erinnerte, daß erst vor kurzem Yves Saint Laurent verstorben war. Ihr dunkles, mit einem rötlichen Stich versehenes Haar hatte sie zu einem seitlichen Knäuel gebunden. Sie trug keinen Schmuck. Ihr Make-up betonte einzig, was ohnehin vorhanden war. Sie wirkte weder jung noch alt. Das waren nicht die Kategorien, in denen sie sich bewegte, natürlich nicht.
Sie legte einen Finger auf die Kante des Konzertflügels. Das genügte als Zeichen. Der Pianist knickte für einen Moment zusammen, als wollte er hier ein klein bißchen sterben, ein klein bißchen ins Jenseits treten, bevor er seine Finger in das Schwarz und Weiß der Tasten tauchte. Und dann also…
Schubert!
Was hätte besser passen können, als wenn die perfekte Frau die perfekte Musik gesungen hätte? Und Schubert ist ganz sicher – und keine Übertreibung wäre übertrieben genug, es auszudrücken – der Höhepunkt dessen, was Menschen Menschen mitteilen können. Und zwar nicht, indem Schubert uns die Welt erklärt oder die Hölle erklärt. Nicht, indem er etwas erhöht oder irgendeine Zierde um ein Ding legt. Nein, Schubert sagt uns schlichterweise, was wir sind: zerbrechlich. Das sind wir, es ist unser wesentlichster Zug, noch vor dem Verstand, der Intelligenz und unserer Besessenheit nach dem Geschlechtsleben. Pure Zerbrechlichkeit, schlimmer als jede Teetasse. Das gilt übrigens selbst noch für Grundstücksspekulanten, Fernsehmoderatoren, Auftragskiller und Eisenwarenhändler, sogar für Kardinäle, ja, wahrscheinlich sind Kardinäle so zerbrechlich, wie wir uns das niemals vorstellen könnten. Und da kommt also Schubert und zeigt uns, wie schön, wie wunderbar diese Zerbrechlichkeit, dieses tiefe Unglück in Musik zu fassen ist. Die Rührung, die daraus entsteht, sie gilt uns. Wir hören Schubert, und endlich mögen wir uns ein klein wenig, endlich verstehen wir unsere Zerbrechlichkeit nicht als Defekt und heilige Strafe. Darum brauchen wir Schubert. Eine Droge, die uns weinen läßt. Und durch die Tränen hindurch erkennen wir die ganze Wahrheit.
In die ersten Töne, die in leichter Benommenheit aus dem Klavier hochstiegen, setzte nun die Stimme Mai Hillsands mit der bekannten Präzision ein. Es war wohl gerade diese Geometrie ihres Gesangs, der verzauberte. Jemand hatte einmal vom Artifiziellen ihrer Stimme gesprochen. Und das stimmte. Sie sang wie eine Maschine. Aber wie eine dieser Maschinen, von denen wir annehmen, sie werden schlußendlich die einzigen Erdbewohner sein, die noch zu menschlichen Gefühlen imstande sind.
Wie auch immer, es genügten wenige Sekunden, da hatte Lorenz Mohn feuchte Augen. Ja, eigentlich hätte er laut losheulen mögen, derart stieg ein Gefühl höchster Traurigkeit und höchster Freude in ihm hoch. Er atmete schwer. Seine Hände waren zu Fäusten geballt, die er gegen die Oberschenkel preßte, wie um sich selbst am Einsturz zu hindern. Nie zuvor hatte er etwas Derartiges gehört. Keine Frage, er kannte dieses Lied, das berühmte An die Musik, auch vernahm er diese Stimme ja nicht zum ersten Mal. Ebensowenig war es die pure Leibhaftigkeit der großen Sängerin, die ihn übermannte. Er war keiner von diesen Hysterikern, die sich einen runterholten, wenn ein Star die Bühne betrat. Und die quasi im gleichen Moment die Ohren schlossen und sich nur noch ihrer Raserei hingaben. Man nennt das wohl Horowitz-Syndrom. Nein, im Falle Lorenz Mohns schien es eher so zu sein, daß er meinte, sein ganzes Leben würde hier und jetzt zu einem dichten Punkt zusammengepreßt werden. Und als würde er begreifen, wie sehr alles, was geschehen war, und alles, was noch geschehen würde, einen Traum darstellte. Zumindest so eine Art halben Traum oder unechten Traum oder wie auch immer man diesen diffusen Zustand definieren mochte. Und zwar im Gegensatz zur Kunst, die vollkommen im Leben stand und als ein Teil der Natur fungierte. Was folglich bedeutete, daß die Kunst nicht das Leben nachstellte, sondern umgekehrt. Zuerst war die Kunst da, und dann bemühten sich die Menschen, die Kunst in ihre halben Träume zu übertragen. Bemühten sich, Gefühle zu entwickeln, wie die Helden in Romanen und Filmen und Opern und Comics sie empfanden. Zuerst existierte Kafkas K., und erst ihm verdankten Menschen eine Palette von Emotionen, wie eben K. sie gelebt hatte.
Der angenommene Umstand, in einen halben Traum eingesperrt zu sein, erschütterte Lorenz, so wie es ihn gleichermaßen beruhigte. Ein halber Traum bedeutete ja, daß ein Teil des Erlebten nicht wirklich stattfand, sondern nur ein Bild für etwas darstellte. Und es gab da einige Dinge, die ihm als Bild sehr viel lieber waren denn als tatsächlich gelebtes Leben.
Ob nun aber geträumt oder nicht, jedenfalls quollen die Tränen aus Lorenz’ Augen und strömten über die Kante seiner ausgeprägten Backenknochen. Seine senkrecht abfallenden Wangen waren rot wie von zuviel Sonne. Und selbst die weniger empfindsamen oder esoterisch verwundbaren Charaktere in diesem Saal registrierten ein deutliches Gewicht auf der eigenen Brust, als da Mai Hillsand mit dem bloßen Ausdruck ihrer säulenhaft geraden Gestalt und ihres von der Grazie ferner Raumschiffe zeugenden Augenpaars (um jetzt nicht von Mandeln oder Muscheln zu sprechen) den sichtbaren Raum füllte und die Worte sang: Hast mich in eine bess’re Welt entrückt, in eine bess’re Welt entrückt.
Der Kardinal glühte.
Du holde Kunst, ich danke dir dafür, du holde Kunst, ich danke dir.
Kein Applaus. Kein Muckser. Kein Husten. Lieber wäre man erstickt. Lediglich ein Rauschen von draußen, durch die geschlossenen Fenster. Gewissermaßen ein Haiku:
Abendwind
Und drinnen im Saal
Kein Herz, das pocht.
Nun, das war vielleicht ein wenig zu sinnbezogen, um einen echten Haiku abzugeben, aber wie gesagt, hier fand ja eine gegenseitige Milderung der Pole statt.
Nachdem sich magische Momente etwa so schwer wiederholen lassen wie Wunder und schon gar nicht an ein und demselben Abend, gab Mai Hillsand durch eine Geste zu verstehen, daß eigentlich alles gesagt und alles gesungen war, was zu sagen und zu singen war, und somit der Rest der Vorstellung bloß eine Konvention erfülle, welche ganz simpel darin bestehe, daß Konzerte über mehr als nur ein Lied im Programm verfügten. Darum sang die Hillsand also weitere Lieder, Bekanntes und Unbekanntes, war konzentriert und bewegend, versuchte jedoch in keiner Sekunde an den Beginn anzuknüpfen. Der Beginn stand für sich und würde jedermann, der kein Herz aus Stein besaß, für immer in Erinnerung bleiben.
Mai Hillsand gewährte eine dreiviertel Stunde, sodann verbeugte sie sich unter dem demütigen Applaus des Publikums. Es war die einzige Verbeugung des Abends, und darum mußte jedem einsichtig sein, daß hier das Ende war und nichts nachkam. Der Kardinal erhob sich und ließ sich trotz seiner deutlichen Gebrechlichkeit auf die Bühne helfen, bevor noch Mai Hillsand nach unten kommen konnte. Vollkommen klar, daß der Kardinal lieber im Himmel weilte als auf Erden. Er umfaßte mit seinen ausgebreiteten Händen die Unterarme der Sängerin und hielt sie so fest, als sei es ausgerechnet an ihm, dem buckligen Alten, dieser großgewachsenen Yves-Saint-Laurent-Frau als Stütze zu dienen. Aber so unsinnig das war, ließ es sich Hillsand gerne gefallen.
Die Ovation, die nun heftiger und befreiter als zuvor aufbrandete, galt gewissermaßen der Vermählung von Kunst und Kirche. Und es war jetzt der Kardinal, der mit einem kurzen, ernsten Blick zur Mäßigung mahnte.
Hernach war alles beim alten: Gesellschaftstheater. Während sich Hillsand und Seine Eminenz in einen Extraraum zurückzogen, durfte sich das Publikum am Büffet laben. Die Kulturmenschen fielen augenblicklich in einen steinzeitlichen Zustand zurück und waren damit beschäftigt, das beste Brötchen zu erwischen, auch wenn hier alle Brötchen so ziemlich gleich waren.
»Gehen Sie gar nicht zu Ihrer Frau?« fragte Stirling Rorschach.
»Ich störe nicht so gerne«, antwortete der Ehemann, »wenn Mai mit der Amtskirche flirtet.«
»Flirtet?«
»Theologische Gespräche sind stets erotisch geladen«, behauptete Rorschach. »Die ganze Kirche ist erotisch. Sie würde sich sonst gar nicht halten. Sicher nicht dank der Dinge, die sie tut. Und noch weniger wegen der Dinge, die sie nicht tut. Die Kirche – Sie erlauben, daß ich das so sage – ist wie eine Person, die ein Gefühl der Geilheit hervorruft, gleich, wie dumm oder häßlich oder hundsgemein sie auch ist, die Person.«
»Na vielleicht«, spielte Lorenz mit, »ist es die Häßlichkeit und Dummheit, die uns anspricht. Die uns geil macht. Vor allem das Hundsgemeine.«
»Da könnten sie jetzt wirklich recht haben«, meinte Rorschach, wobei er auf diese verkniffene Richard-Burton-Art lächelte. Mit einer ruhigen Bewegung holte er zwei Gläser vom dargebotenen Tablett, die er Stirling und Mohn reichte. Dann eins für sich.
Die drei Männer stießen miteinander an. Der helle Klang der Kollision stieg hoch und höher, um schließlich von einem Fresko abzuprallen.
Man verblieb noch eine halbe Stunde zwischen den Menschen und Brötchen, dann gab Rorschach ein Zeichen, das den Aufbruch ankündigte. Stirling löste sich leichten Herzens aus einem Gespräch, in das er von einer Landtagsabgeordneten der Grünen Partei mutwillig und rücksichtslos verwickelt worden war. – Diese Leute der Grünen Partei sind, historisch und soziologisch gesehen, sicherlich nötig gewesen, um einmal aufzuzeigen, wie tief Menschen überhaupt sinken können. Gar nicht so sehr darum, weil hier Personen, angetrieben von purer Machtgier, sich ehrenwerter Themen bedienen. Das gab es ja schon vorher. Also Leute, die ein banales Leben scheuen und es sehr viel lieber unternehmen, die Welt zu retten. Die meisten Weltretter sind im Grunde Rucksacktouristen, die, ihrer Rucksäcke überdrüssig, ins Profilager der Umweltschützer und Menschenrechtsaktivisten überwechseln. Aber nicht wenige dieser Leute besitzen dennoch ein Profil, erweisen sich als charismatische Abenteurer oder eloquente Heilige. Es gelingt ihnen, die Rucksackästhetik, die Bergsteigermentalität, die Weltumsegleraura in ihr Weltrettungsprogramm hinüberzuretten. Man kann sagen: Es ist mitunter einfach nett, ihnen beim Weltretten zuzusehen. – Die Grünen hingegen…!
Ein Blick auf diese Leute genügt. Kein Weltumsegler weit und breit. Kein Held der Sonne, keine Mutter Teresa und schon gar keine tierliebende Brigitte Bardot. Sondern feiste, selbstzufriedene, arrogante Gesichter, fratzenhaft, aufgeblasen laut oder dünnlippig scharf. Das ist nicht übertrieben, wie denn auch? Jeder kann es tagtäglich im Fernsehen überprüfen, diese Parade der Dominas und hysterischen Waschweiber, der Blitzlichtgewitterabhängigen und der nuschelnden Besserwisser. Und man muß sich die Frage stellen, wieso denn gerade »grüne Politik« von besonders scheußlichen Menschen betrieben wird, die das Scheußliche bewußt und willentlich zu kultivieren scheinen. Darauf kann niemand eine Antwort geben, vor allem darum nicht, weil ja nicht etwa der Umweltschutz, der Tierschutz, die Ernährungsfrage, dies alles sich besonders eignen würde, das Scheußliche zu fördern, wie das vielleicht zum Waffengeschäft und zum Menschenhandel bestens paßt. Nein, es ist ein Mysterium, wie es möglich sein konnte, daß diese überaus würdigen Themen ausgerechnet von den unwürdigsten (also auf eine perverse Weise erotischsten) Menschen aufgegriffen wurden. Darum hat sich die Welt stärker als je zuvor in die Verlogenheit manövriert. So wie heutzutage alles den Beinamen »demokratisch« trägt, trägt auch alles den Beinamen »bio«. Nichts ist so bio wie die Lüge.
»Was für eine blöde Kuh«, kommentierte Stavros Stirling seine kleine Berührung mit der Welt der Grünen. Das war nicht sachlich, aber richtig war es schon.
Die drei Männer gingen nach draußen und stiegen in ein gesichtsloses Auto, so ein Großraummobil, das alles hatte und nichts darstellte. Allerdings war es ja auch Nacht und, wie man so sagt, alle Katzen gleich. Rorschach startete, und sie fuhren aus der Stadt hinaus, hinein in das dunkle Tal, über dem die von einem portionierten Mondstück schwach beschienenen Wolken dahintrieben.
Weit entfernt, in den Tiefen des Weltalls, explodierte gerade eine Supernova. Gewaltig! Und trotzdem, im Grunde galt für diese Supernova der alte Spruch von wegen, daß schon wieder kein Schwein zuschaut. Das ist der Punkt. Im Universum herrscht ein Überfluß an Galaxien und schwarzer Materie und gewaltigen Nebeln, jedoch ein Mangel an Schweinen. Viel Aktion, wenig Wahrnehmung.