5

 

Zwei Män­ner in pur­pur­nen Ro­ben stan­den auf ei­ner ein­sa­men Wie­se am Ran­de von Ka­lic. Sie späh­ten zum Him­mel. Ei­ner der bei­den hielt ein Si­gnal­ge­rät in der Hand. Er sag­te zu sei­nem Be­glei­ter: „Das Schiff ist für al­le Not­fäl­le gut pro­gram­miert. Es schickt ein­fach ei­ne klei­ne­re Kap­sel her­un­ter, ei­ne, die ich al­lein flie­gen kann.“

„Dann gibt’s kein Pro­blem“, sag­te Skal­lon.

„Ei­gent­lich nicht“, mein­te Fain. „Aber ich fin­de, du soll­test dir trotz­dem ver­dammt si­cher sein. Wenn ich ein­mal weg bin, kannst du nicht mehr zu­rück. Und wenn du hier­bleibst, wirst du ster­ben, Skal­lon.“

„Ich weiß.“ Skal­lon zuck­te gleich­gül­tig die Ach­seln. „Aber wann? In fünf Er­den­jah­ren? In zehn? Wer weiß das? Es kann gut sein, daß ich noch ein­mal ein Neu­es Jahr, ein Fest, er­le­be.“

„Ich hof­fe, daß du dei­ne Ver­klei­dung bei­be­hältst. Es wä­re dumm, wenn du ih­nen bei­spiels­wei­se er­zäh­len woll­test, daß du von der Er­de kommst. Sie rei­ßen dich in Stücke.“

Skal­lon schüt­tel­te den Kopf. „Ich will nicht noch ein­mal ei­ne Lü­ge le­ben.“

„Wür­dest du lie­ber ster­ben?“

„Das muß ich doch so­wie­so, oder nicht?“

„Ja, ja, wahr­schein­lich.“ Fain lausch­te dem Piep­sen des Si­gnal­ge­rä­tes in sei­ner Hand. In dem ste­ti­gen Rhyth­mus lag et­was Sau­be­res und Rei­nes – et­was Trös­ten­des und Be­ru­hi­gen­des: piep piep piep …

„Weißt du, Fain“, sag­te Skal­lon, „es ist ja nicht so, daß ich über­haupt nicht dar­über nach­ge­dacht hät­te. Ich wer­de nicht in Ka­lic blei­ben. Ich wä­re hier­geblie­ben, aber Jo­a­ne ist tot, und so gibt es da­für kei­nen Grund mehr. Ich wer­de mir et­was an­de­res su­chen, ein klei­nes Dorf, in dem man mich so ak­zep­tiert, wie ich bin. Und dann wer­de ich ar­bei­ten. Ich wer­de le­ben. Ich wer­de schrei­ben. Ich wer­de stu­die­ren. Was wür­de ich denn auf der Er­de tun? Das glei­che. Aber hier kann ich we­nigs­tens frei sein.“

„Und al­lein. Sie wer­den dich nicht mö­gen, Skal­lon – du wirst nie zu ih­nen ge­hö­ren. Es ist nicht leicht, so al­lein zu sein. Es tut weh, und noch viel schlim­mer: Es wird bald so weh tun, daß du ir­gend­wann über­haupt kei­nen Schmerz mehr emp­fin­den kannst.“

„Das gilt für dich, Fain – nicht für mich.“

„Hof­fent­lich. Aber du hast sie ge­liebt, nicht wahr? Jo­a­ne?“

„Ich ha­be mit ihr ge­schla­fen, wenn du das meinst.“

„Du weißt, daß ich das nicht mei­ne.“

„Was meinst du dann? Daß du eben­falls mit ihr ge­schla­fen hast? Das weiß ich … ich wuß­te es die gan­ze Zeit.“

„Da irrst du dich. Jo­a­ne hat nie­mals mit mir ge­schla­fen.“

„Das glau­be ich nicht.“

„Ich hab’s ver­sucht – klar hab ich’s ver­sucht, ich bin auch nur ein Mensch. Sie hat mich ab­ge­wie­sen, ob du es glaubst oder nicht. Sie woll­te dich nicht be­lü­gen.“

„Was weißt du denn da­von?“ Aber der Zorn war aus Skal­lons Stim­me ver­schwun­den, die schwe­len­de Bit­ter­keit war fort. Viel­leicht glaub­te er Fain tat­säch­lich. „Du könn­test auch hier­blei­ben, Fain.“

Fain fing an zu la­chen, aber Skal­lon mach­te kei­ne Wit­ze. Die­sen Ge­dan­ken hat­te er noch nie in Be­tracht ge­zo­gen. Hier­blei­ben? Un­ter die­sen Pseu­dos? Klar, und dann? Ar­bei­ten? Hei­ra­ten? Aus­ru­hen? Le­ben? „Das ist ei­ne ent­zücken­de Idee, Skal­lon, aber nicht für mich. Dies ist dei­ne Welt, aber mei­ne ist da oben – die al­te, blaue Er­de. Au­ßer­dem, wenn wir bei­de ver­schwin­den, wird je­mand sich Ge­dan­ken ma­chen. Ich kann zu­rück­ge­hen und dich de­cken. Ich kann die er­for­der­li­chen Lü­gen­ge­schich­ten ver­brei­ten.“

„Und was willst du dann tun? Wie­der Än­der­lin­ge ja­gen?“

Dar­an hat­te er noch nicht ge­dacht. Lang­sam schüt­tel­te Fain den Kopf. „Ich glau­be nicht. Ich glau­be, da­mit bin ich fer­tig. Viel­leicht set­ze ich mich ein­fach zur Ru­he, wenn ich zu­rück­kom­me.“

„Wenn sie das zu­las­sen.“

„Si­cher, aber … he, Mo­ment mal, Skal­lon. Ich will dir et­was er­zäh­len. Es ist un­glaub­lich, aber … ja, ich wuß­te es bis ges­tern nicht. Ich wuß­te es, aber ich wuß­te nicht, daß ich es wuß­te. Ich ha­be einen Kä­fer ge­tö­tet. Mit dem Fuß zer­quetscht. Ich weiß nicht, wie­so aus­ge­rech­net das der Aus­lö­ser war. Viel­leicht, weil ich ein so be­deu­tungs­lo­ses We­sen tot da­lie­gen sah und wuß­te, daß es ge­nau­so wich­tig, ge­nau­so voll­stän­dig war wie je­der Mensch. Es war ein Le­ben, ei­ne See­le, und ich hal­te es ge­tö­tet.“

Fain hielt in­ne. Er wuß­te, daß er sinn­lo­ses Zeug re­de­te, und in sei­ner Ver­wir­rung las­te­te er in­stink­tiv in sei­nem In­nern nach dem Mit­tel­punkt, den er dort im­mer ge­fühlt hat­te. Er war fort. Der be­ru­hi­gen­de, küh­le Druck, des­sen An­we­sen­heil er tief in sich im­mer ge­spürt hat­te, war jetzt nicht mehr da. Das ru­hi­ge, ge­las­se­ne Zen­trum hal­le sich auf­ge­löst, es war zer­platzt und hat­te sei­nen In­halt in das Be­wußt­sein er­gos­sen.

Fain schüt­tel­te den Kopf. Die Mo­schus­luft von Al­vea um­spiel­te sei­ne Na­se und brach­te sei­ne Auf­merk­sam­keit wie­der zu Skal­lon und zu der fremd­ar­ti­gen Land­schaft rings­um­her zu­rück. „Ich hat­te ein­mal einen Va­ter. Er war VIP in der For­schung des Kon­sor­ti­ums.“

„Ist er ent­täuscht von dem, was aus dir ge­wor­den ist?“

„Wahr­schein­lich wä­re er’s, wenn er könn­te, aber er ist tot. Sie ha­ben ihn um­ge­bracht. Da­von will ich dir ja er­zäh­len. Er war Ge­ne­ti­ker, und zwar ein ver­dammt gu­ter. Er ent­deck­te et­was. Auch er glaub­te an das Gleich­ge­wicht des Kon­sor­ti­ums. Als er auf die­ses Re­sul­tat stieß, ging er des­halb gleich zu sei­nen Vor­ge­setz­ten und be­rich­te­te ih­nen dar­über. Er er­war­te­te Lob, Be­för­de­rung, all das. Statt des­sen be­haup­te­ten sie, er ha­be sich ge­irrt. Sie be­haup­te­ten, er ha­be nicht gut ge­nug ge­ar­bei­tet. Ein spe­zi­el­ler wis­sen­schaft­li­cher Aus­schuß wies es ihm nach. Er be­kam einen leich­ten Klaps auf die Fin­ger, und sie schick­ten ihn nach Hau­se.“

„Ich ver­ste­he.“

„Da­mit war es nicht zu En­de. Er hör­te nicht auf, wie sie es ihm be­foh­len hat­ten. Er über­prüf­te sei­ne Zah­len. Wie­der­hol­te sei­ne Ex­pe­ri­men­te. Und er hat­te recht. Er war ganz si­cher, daß er recht hal­te. Und er sag­te es ih­nen noch ein­mal.“

„Sag­te ih­nen was?“

„Ein­mal konn­ten sie es to­le­rie­ren. Ein­mal ist es ein Feh­ler, zwei­mal ist es Ver­rat. So nann­ten sie ihn – einen Ver­rä­ter. Er be­kam nie­mals ei­ne zwei­te Ver­hand­lung, kei­nen zwei­ten Aus­schuß – nichts. Sie ver­brann­ten ihn vor mei­nen Au­gen. Sie ver­schmor­ten ihn. Und als ich ihn ster­ben sah, wuß­te ich, warum.“

„Aber dich ha­ben sie nicht ge­lö­tet.“

„Sie dach­ten nicht, daß ich es wuß­te. Und sie wis­sen es im­mer noch nicht. Die gan­ze In­for­ma­ti­on wur­de fest ver­schnürt, als ich in ei­ner mas­si­ven Psy­cho­the­ra­pie war, um mich da­von zu er­ho­len, daß ich mei­nen Va­ter hat­te ster­ben ge­se­hen. Sie ver­nich­te­ten sei­ne Auf­zeich­nun­gen, sei­ne Pa­pie­re, sei­ne Com­log­ex-Ak­ten, so daß es sich nicht be­wei­sen läßt. Um ihr Image in der Öf­fent­lich­keit zu schüt­zen, nah­men sie den über­le­ben­den Jun­gen und be­zahl­ten da­für, daß man ihn wie­der zu­recht­rück­te. Spä­ter ga­ben sie ihm Ar­beit. Die In­for­ma­ti­on wur­de so tief ver­gra­ben, daß ge­wöhn­li­che Un­ter­su­chun­gen sie nicht zu­ta­ge för­der­ten. Ir­gend­ein Spe­zia­list hat mir einen großen Ge­fal­len ge­tan, als er sie so tief nach un­ten drück­te. Er muß ge­wußt ha­ben, daß ich nur so wür­de über­le­ben kön­nen. Des­we­gen nahm er den Druck, den Wis­sen her­vor­bringt, und ver­wan­del­te ihn in et­was, das mich be­schütz­te und mich be­fä­hig­te, wie ei­ne Ma­schi­ne zu den­ken, wenn es sein muß­te – in et­was, das mich am Le­ben er­hal­ten wür­de.“

„Und Le­ben ist so wich­tig für dich, Fain.“ Ver­ach­tung zog sich wie ein dün­ner Fa­den durch Skal­lons Stim­me.

„Du miß­ver­stehst mich. Le­ben hat nicht die ge­rings­te Be­deu­tung für mich. Als Scor­pio starb, be­gan­nen die al­ten Mau­ern in mir zu brö­ckeln, und als ich den Kä­fer zer­trat, stürz­ten sie ein. Das Wis­sen trieb aus mei­nen Ein­ge­wei­den her­auf in mei­nen Kopf. Ich fand her­aus, daß ich die­ses Wis­sen die gan­ze Zeit be­nutzt hat­te. Jetzt weiß ich, warum ich glaub­te. Ich wuß­te im­mer – und ich weiß jetzt –, daß Le­ben und Tod völ­lig be­deu­tungs­lo­se Phä­no­me­ne sind. Ich weiß, was mein Va­ter ent­deckt und be­wie­sen hat. Er hat all die al­ten Da­ten über­prüft. Er hat ei­ge­ne Be­rech­nun­gen an­ge­stellt. Er hat mit Ma­the­ma­tik und Ge­ne­tik ge­ar­bei­tet, und er hat Da­ten her­aus­be­kom­men, nach de­nen zu su­chen nie­man­dem je­mals in den Sinn ge­kom­men war. Er fand her­aus, daß der ver­rück­te al­te Gom­mer­set recht hat­te. Des­halb wur­de mein Va­ter ver­brannt, und er wuß­te, daß es nichts be­deu­te­te. Und ich weiß das auch. Wenn ein Mensch stirbt, wird er wie­der­ge­bo­ren. Das ist ge­wiß.“

„Fain, du kannst nicht …“ Skal­lon pack­te Fains Ge­wand, als woll­te er die Wahr­heil aus ihm her­aus­zer­ren.

Sanft stieß Fain ihn zu­rück. „Es ist die Wahr­heit, Skal­lon. Glau­be es. Glau­be mir.“

„Dann mußt du es an­de­ren sa­gen. Die Men­schen müs­sen es wis­sen. Du und ich, wir kön­nen … Ich ha­be es auch ge­fühlt. Wir müs­sen es sa­gen.“

„Nein.“ Fain be­trach­te­te die Far­ben rings­um­her. Er fühl­te sich selt­sam ru­hig und aus­ge­laugt. „Nie­mand ver­dient es, da­von zu wis­sen. Sieh mich an. Sieh die­sen Pla­ne­ten an. Wenn man erst weiß, was wir wis­sen, ist nichts an­de­res mehr wich­tig. Nichts. Es hat kei­ne Be­deu­tung für dich. Du bleibst hier.“ Er sah Skal­lon ge­ra­de­her­aus ins Ge­sicht. „Und du wirst ster­ben. Was die an­de­ren be­trifft … nun, wer­den sie es nicht früh ge­nug selbst her­aus­fin­den?“

Die schwe­re Mo­schus­luft ließ die Fal­ten an Fains Au­gen wei­cher er­schei­nen. Die Welt war wie ein dün­ner Film, der über ei­ner ein­zi­gen, un­ge­heu­er­li­chen Tat­sa­che hing. Es war ei­gent­lich ver­blüf­fend, daß die Men­schen mit sol­cher Si­cher­heit über die­se dün­ne Schicht hin­weg­glei­ten konn­ten. Sie bra­chen nur sel­ten durch, ent­deck­ten nur sel­ten den Ab­grund von Ge­wiß­heit, der un­ter all dem Lärm und den Ab­len­kun­gen lag. Und viel­leicht war es das, was der will­kür­li­che Tanz des Än­der­lings be­deu­te­te. Das üp­pi­ge Cha­os der Welt zu ge­nie­ßen und dar­in zu wir­beln und zu krei­sen. Denn dar­un­ter lag ei­ne Ge­wiß­heit, die all die schreck­li­chen Il­lu­sio­nen fort­wisch­te. Die Än­der­lin­ge er­in­ner­ten sich, und so konn­ten nur die Än­der­lin­ge den köst­li­chen Tod mit of­fe­nen Ar­men emp­fan­gen.

Fain lach­te hohl. Noch ein­mal gab er Skal­lon einen freund­schaft­li­chen Stoß. „Du gehst jetzt bes­ser.“

Er sah nach oben. Ein lang­ge­streck­tes Ge­schoß brach durch die rei­fen, kno­ti­gen Wol­ken. Es schim­mer­te. Mut­ter war pünkt­lich.