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Zwei Männer in purpurnen Roben standen auf einer einsamen Wiese am Rande von Kalic. Sie spähten zum Himmel. Einer der beiden hielt ein Signalgerät in der Hand. Er sagte zu seinem Begleiter: „Das Schiff ist für alle Notfälle gut programmiert. Es schickt einfach eine kleinere Kapsel herunter, eine, die ich allein fliegen kann.“
„Dann gibt’s kein Problem“, sagte Skallon.
„Eigentlich nicht“, meinte Fain. „Aber ich finde, du solltest dir trotzdem verdammt sicher sein. Wenn ich einmal weg bin, kannst du nicht mehr zurück. Und wenn du hierbleibst, wirst du sterben, Skallon.“
„Ich weiß.“ Skallon zuckte gleichgültig die Achseln. „Aber wann? In fünf Erdenjahren? In zehn? Wer weiß das? Es kann gut sein, daß ich noch einmal ein Neues Jahr, ein Fest, erlebe.“
„Ich hoffe, daß du deine Verkleidung beibehältst. Es wäre dumm, wenn du ihnen beispielsweise erzählen wolltest, daß du von der Erde kommst. Sie reißen dich in Stücke.“
Skallon schüttelte den Kopf. „Ich will nicht noch einmal eine Lüge leben.“
„Würdest du lieber sterben?“
„Das muß ich doch sowieso, oder nicht?“
„Ja, ja, wahrscheinlich.“ Fain lauschte dem Piepsen des Signalgerätes in seiner Hand. In dem stetigen Rhythmus lag etwas Sauberes und Reines – etwas Tröstendes und Beruhigendes: piep piep piep …
„Weißt du, Fain“, sagte Skallon, „es ist ja nicht so, daß ich überhaupt nicht darüber nachgedacht hätte. Ich werde nicht in Kalic bleiben. Ich wäre hiergeblieben, aber Joane ist tot, und so gibt es dafür keinen Grund mehr. Ich werde mir etwas anderes suchen, ein kleines Dorf, in dem man mich so akzeptiert, wie ich bin. Und dann werde ich arbeiten. Ich werde leben. Ich werde schreiben. Ich werde studieren. Was würde ich denn auf der Erde tun? Das gleiche. Aber hier kann ich wenigstens frei sein.“
„Und allein. Sie werden dich nicht mögen, Skallon – du wirst nie zu ihnen gehören. Es ist nicht leicht, so allein zu sein. Es tut weh, und noch viel schlimmer: Es wird bald so weh tun, daß du irgendwann überhaupt keinen Schmerz mehr empfinden kannst.“
„Das gilt für dich, Fain – nicht für mich.“
„Hoffentlich. Aber du hast sie geliebt, nicht wahr? Joane?“
„Ich habe mit ihr geschlafen, wenn du das meinst.“
„Du weißt, daß ich das nicht meine.“
„Was meinst du dann? Daß du ebenfalls mit ihr geschlafen hast? Das weiß ich … ich wußte es die ganze Zeit.“
„Da irrst du dich. Joane hat niemals mit mir geschlafen.“
„Das glaube ich nicht.“
„Ich hab’s versucht – klar hab ich’s versucht, ich bin auch nur ein Mensch. Sie hat mich abgewiesen, ob du es glaubst oder nicht. Sie wollte dich nicht belügen.“
„Was weißt du denn davon?“ Aber der Zorn war aus Skallons Stimme verschwunden, die schwelende Bitterkeit war fort. Vielleicht glaubte er Fain tatsächlich. „Du könntest auch hierbleiben, Fain.“
Fain fing an zu lachen, aber Skallon machte keine Witze. Diesen Gedanken hatte er noch nie in Betracht gezogen. Hierbleiben? Unter diesen Pseudos? Klar, und dann? Arbeiten? Heiraten? Ausruhen? Leben? „Das ist eine entzückende Idee, Skallon, aber nicht für mich. Dies ist deine Welt, aber meine ist da oben – die alte, blaue Erde. Außerdem, wenn wir beide verschwinden, wird jemand sich Gedanken machen. Ich kann zurückgehen und dich decken. Ich kann die erforderlichen Lügengeschichten verbreiten.“
„Und was willst du dann tun? Wieder Änderlinge jagen?“
Daran hatte er noch nicht gedacht. Langsam schüttelte Fain den Kopf. „Ich glaube nicht. Ich glaube, damit bin ich fertig. Vielleicht setze ich mich einfach zur Ruhe, wenn ich zurückkomme.“
„Wenn sie das zulassen.“
„Sicher, aber … he, Moment mal, Skallon. Ich will dir etwas erzählen. Es ist unglaublich, aber … ja, ich wußte es bis gestern nicht. Ich wußte es, aber ich wußte nicht, daß ich es wußte. Ich habe einen Käfer getötet. Mit dem Fuß zerquetscht. Ich weiß nicht, wieso ausgerechnet das der Auslöser war. Vielleicht, weil ich ein so bedeutungsloses Wesen tot daliegen sah und wußte, daß es genauso wichtig, genauso vollständig war wie jeder Mensch. Es war ein Leben, eine Seele, und ich halte es getötet.“
Fain hielt inne. Er wußte, daß er sinnloses Zeug redete, und in seiner Verwirrung lastete er instinktiv in seinem Innern nach dem Mittelpunkt, den er dort immer gefühlt hatte. Er war fort. Der beruhigende, kühle Druck, dessen Anwesenheil er tief in sich immer gespürt hatte, war jetzt nicht mehr da. Das ruhige, gelassene Zentrum halle sich aufgelöst, es war zerplatzt und hatte seinen Inhalt in das Bewußtsein ergossen.
Fain schüttelte den Kopf. Die Moschusluft von Alvea umspielte seine Nase und brachte seine Aufmerksamkeit wieder zu Skallon und zu der fremdartigen Landschaft ringsumher zurück. „Ich hatte einmal einen Vater. Er war VIP in der Forschung des Konsortiums.“
„Ist er enttäuscht von dem, was aus dir geworden ist?“
„Wahrscheinlich wäre er’s, wenn er könnte, aber er ist tot. Sie haben ihn umgebracht. Davon will ich dir ja erzählen. Er war Genetiker, und zwar ein verdammt guter. Er entdeckte etwas. Auch er glaubte an das Gleichgewicht des Konsortiums. Als er auf dieses Resultat stieß, ging er deshalb gleich zu seinen Vorgesetzten und berichtete ihnen darüber. Er erwartete Lob, Beförderung, all das. Statt dessen behaupteten sie, er habe sich geirrt. Sie behaupteten, er habe nicht gut genug gearbeitet. Ein spezieller wissenschaftlicher Ausschuß wies es ihm nach. Er bekam einen leichten Klaps auf die Finger, und sie schickten ihn nach Hause.“
„Ich verstehe.“
„Damit war es nicht zu Ende. Er hörte nicht auf, wie sie es ihm befohlen hatten. Er überprüfte seine Zahlen. Wiederholte seine Experimente. Und er hatte recht. Er war ganz sicher, daß er recht halte. Und er sagte es ihnen noch einmal.“
„Sagte ihnen was?“
„Einmal konnten sie es tolerieren. Einmal ist es ein Fehler, zweimal ist es Verrat. So nannten sie ihn – einen Verräter. Er bekam niemals eine zweite Verhandlung, keinen zweiten Ausschuß – nichts. Sie verbrannten ihn vor meinen Augen. Sie verschmorten ihn. Und als ich ihn sterben sah, wußte ich, warum.“
„Aber dich haben sie nicht gelötet.“
„Sie dachten nicht, daß ich es wußte. Und sie wissen es immer noch nicht. Die ganze Information wurde fest verschnürt, als ich in einer massiven Psychotherapie war, um mich davon zu erholen, daß ich meinen Vater hatte sterben gesehen. Sie vernichteten seine Aufzeichnungen, seine Papiere, seine Comlogex-Akten, so daß es sich nicht beweisen läßt. Um ihr Image in der Öffentlichkeit zu schützen, nahmen sie den überlebenden Jungen und bezahlten dafür, daß man ihn wieder zurechtrückte. Später gaben sie ihm Arbeit. Die Information wurde so tief vergraben, daß gewöhnliche Untersuchungen sie nicht zutage förderten. Irgendein Spezialist hat mir einen großen Gefallen getan, als er sie so tief nach unten drückte. Er muß gewußt haben, daß ich nur so würde überleben können. Deswegen nahm er den Druck, den Wissen hervorbringt, und verwandelte ihn in etwas, das mich beschützte und mich befähigte, wie eine Maschine zu denken, wenn es sein mußte – in etwas, das mich am Leben erhalten würde.“
„Und Leben ist so wichtig für dich, Fain.“ Verachtung zog sich wie ein dünner Faden durch Skallons Stimme.
„Du mißverstehst mich. Leben hat nicht die geringste Bedeutung für mich. Als Scorpio starb, begannen die alten Mauern in mir zu bröckeln, und als ich den Käfer zertrat, stürzten sie ein. Das Wissen trieb aus meinen Eingeweiden herauf in meinen Kopf. Ich fand heraus, daß ich dieses Wissen die ganze Zeit benutzt hatte. Jetzt weiß ich, warum ich glaubte. Ich wußte immer – und ich weiß jetzt –, daß Leben und Tod völlig bedeutungslose Phänomene sind. Ich weiß, was mein Vater entdeckt und bewiesen hat. Er hat all die alten Daten überprüft. Er hat eigene Berechnungen angestellt. Er hat mit Mathematik und Genetik gearbeitet, und er hat Daten herausbekommen, nach denen zu suchen niemandem jemals in den Sinn gekommen war. Er fand heraus, daß der verrückte alte Gommerset recht hatte. Deshalb wurde mein Vater verbrannt, und er wußte, daß es nichts bedeutete. Und ich weiß das auch. Wenn ein Mensch stirbt, wird er wiedergeboren. Das ist gewiß.“
„Fain, du kannst nicht …“ Skallon packte Fains Gewand, als wollte er die Wahrheil aus ihm herauszerren.
Sanft stieß Fain ihn zurück. „Es ist die Wahrheit, Skallon. Glaube es. Glaube mir.“
„Dann mußt du es anderen sagen. Die Menschen müssen es wissen. Du und ich, wir können … Ich habe es auch gefühlt. Wir müssen es sagen.“
„Nein.“ Fain betrachtete die Farben ringsumher. Er fühlte sich seltsam ruhig und ausgelaugt. „Niemand verdient es, davon zu wissen. Sieh mich an. Sieh diesen Planeten an. Wenn man erst weiß, was wir wissen, ist nichts anderes mehr wichtig. Nichts. Es hat keine Bedeutung für dich. Du bleibst hier.“ Er sah Skallon geradeheraus ins Gesicht. „Und du wirst sterben. Was die anderen betrifft … nun, werden sie es nicht früh genug selbst herausfinden?“
Die schwere Moschusluft ließ die Falten an Fains Augen weicher erscheinen. Die Welt war wie ein dünner Film, der über einer einzigen, ungeheuerlichen Tatsache hing. Es war eigentlich verblüffend, daß die Menschen mit solcher Sicherheit über diese dünne Schicht hinweggleiten konnten. Sie brachen nur selten durch, entdeckten nur selten den Abgrund von Gewißheit, der unter all dem Lärm und den Ablenkungen lag. Und vielleicht war es das, was der willkürliche Tanz des Änderlings bedeutete. Das üppige Chaos der Welt zu genießen und darin zu wirbeln und zu kreisen. Denn darunter lag eine Gewißheit, die all die schrecklichen Illusionen fortwischte. Die Änderlinge erinnerten sich, und so konnten nur die Änderlinge den köstlichen Tod mit offenen Armen empfangen.
Fain lachte hohl. Noch einmal gab er Skallon einen freundschaftlichen Stoß. „Du gehst jetzt besser.“
Er sah nach oben. Ein langgestrecktes Geschoß brach durch die reifen, knotigen Wolken. Es schimmerte. Mutter war pünktlich.