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„Aber es ist die beste Strecke. Nur so kommt man schnell zur Großen Halle“, beteuerte Danon; er wand sich unter Fains hartem Griff. „Jeder andere Weg erfordert, daß man die Straßen betritt, die auch das Vieh benutzt.“
Fain verstand, was das hieß – er war einmal zufällig auf eine solche Straße mit ihrem schweren Mistgeruch gestoßen –, aber trotzdem schüttelte er den Kopf. Er hielt den Arm des Jungen umklammert und wandte sich an Skallon. „Ich glaube, das wäre nicht klug. Es sind heute zu viele Leute auf der Straße. Jeder von ihnen könnte der Änderung sein; wir würden ihn nicht bemerken.“
„Na und?“ sagte Skallon gelassen. „Wir sind verkleidet – er wird uns nicht erkennen.“
Fain wußte, daß das nicht stimmte – nach den Ereignissen auf dem Flughafen würde der Änderung ihn gewiß wiedererkennen –, aber das war nicht der Grund, weshalb er diese Straßen meiden wollte. Nein, der Änderung hatte damit nichts zu tun. Der Grund lag einfach in den Menschenmassen, die er hier vorfand, Hunderte von Menschen, die liefen, spazierengingen, herumstanden und redeten. In seinem ganzen Leben hatte Fain eine so große Menschenansammlung noch nie ertragen können – weder Pseudomenschen noch andere – und schon gar nicht auf so engem Raum. Es verschaffte ihm Unbehagen, es machte ihn nervös und allzu schreckhaft. Er hatte es nie gemocht, wenn Menschen dicht an ihn herankamen, und vor allem mochte er nicht, wenn Alveaner ihn berührten. „Es muß noch einen anderen Weg geben.“
Skallon zuckte die Achseln. „Danon sollte die Stadt eigentlich besser kennen als wir und …“ – er warf einen Blick auf die gelbe Sonne, die in staubigem Dunst den Horizont erfaßte – „… wir sind schon spät dran.“
„Also gut.“ Da er keine andere Möglichkeit sah, ließ Fain den Jungen los, und dieser hüpfte sogleich davon und schlüpfte zwischen den breiten, schwabbligen Bäuchen zweier entgegenkommender Alveaner hindurch. Fain und Skallon folgten ihm ein wenig langsamer. Die beiden Alveaner nickten knapp und machten ihnen Platz, aber Fain sah, daß hinter ihnen andere kamen – viele, viele andere.
„Der Junge ist clever“, sagte Skallon. „Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr er mir bei meinen Streifzügen durch die Stadt geholfen hat. Er ist tatsächlich ebenso gescheit wie die meisten Erwachsenen auf der Erde.“
„Das will nicht viel heißen“, erwiderte Fain. Er wußte genauso gut wie Skallon, daß die Erklärung dafür in einfacher Genetik lag: Die Weltraumkolonisation halte nur die Intelligentesten angezogen.
„Natürlich ist Kish nicht sein wirklicher Vater.“
„Tatsächlich nicht?“ Fain bemühte sich, interessiert zu erscheinen, während er die bedrohlichen Menschenmengen, die sie umgaben, nicht aus den Augen ließ. Sie passierten eine Reihe von Ständen, an denen Lebensmittel, Kleider und Gegenstände, die aus den Häuten toter Tiere gefertigt waren, unter großem Gebrüll, Geschrei und Geheul verkauft wurden. Hier war der Mob noch dichter. Ein fetter Schenkel streifte sein Bein. Fain sog die Luft durch die Zähne und biß sich auf die Lippe.
„Oh nein“, sagte Skallon. „Es ist kompliziert, aber wenn man die unterschiedlichen lokalen Kulturmuster versteht, dann wird es schon klarer. Als Kish noch zur Händlerkaste gehörte, war er mit einer anderen Frau verheiratet, die etwa in seinem eigenen Alter war, aber sie starb in einer der Seuchen, ohne ihm einen Sohn geboren zu haben. Nun ist aber in der Händlerkaste ein männlicher Erbe fast eine Notwendigkeit, denn die Handelsrechte und Vertretungen werden immer von Generation zu Generation weitergegeben. Ohne einen Sohn und damit ohne die Garantie, daß sein Geschäft nach seinem Tode weiterbestehen würde, wurde es für Kish sehr schwierig, neue Verträge zu ergattern. Also mußte er noch einmal heiraten, aber auch da gab es ein Problem, denn nach dem, was ich höre, lag die Hauptschuld dafür, daß kein Sohn geboren wurde, bei Kish.“
„Das hat er dir erzählt?“ sagte Fain flüsternd; an eine Welt, in der elektronische Abhörgeräte unbekannt waren, konnte er sich immer noch nicht gewöhnen. Skallon bestand darauf, daß Lauschen nach alveanischer Auffassung ein schlimmeres Vergehen sei als Mord.
„Nein, nicht er. Joane. Sie hat mir eine Menge über die heimischen Sitten und anderes erzählt.“
„Ich verstehe.“
„Ja, und das Ergebnis war, daß Kish eine Braut fand, die schon von einem anderen Mann schwanger war, und das war Joane. Ihr Vater war ein sehr unbedeutender Händler, und er war sofort bereit, mit Kish einen Ehevertrag zu schließen, trotz des großen Altersunterschiedes, der normalerweise ein schwerwiegendes Hindernis dargestellt hätte. Es gab nur eine Klausel, die auf Joanes Bestreben hin in den Vertrag aufgenommen wurde. Anscheinend mißfiel Kish ihr von Anfang an, und sie wollte nicht zu sexuellem Verkehr mit ihm gezwungen werden.“
„Und er war einverstanden?“
„Ja, natürlich. Er brauchte den Sohn.“
„Aber er ist kein Händler mehr. Er ist Gastwirt.“
„Ja, es geschah nämlich folgendes: Joanes Vater war anscheinend so stolz auf seinen Vertrag mit Kish, daß er seinen Mund nicht halten konnte. Als Kishs Geschäftspartner die Geschichte erfuhren, lachten sie ihn aus. Kish fühlte sich in den Augen seiner Standesgenossen gedemütigt. Er hatte Glück, das Battachran-Hotel noch kaufen zu können.“
„Er war ein Idiot. So schwer sind Frauen nicht zu finden.“
„Aber jetzt haßt er Joane. Er gibt ihr und Danon die Schuld für alle seine Probleme.“
„Mit Recht.“
„Nicht daß ich es ihm verdenken könnte“, sagte Skallon mit einem merkwürdigen Beben in der Stimme. „Aber war es ihre Schuld, daß sie ihn nicht ausstehen kann?“
„Sie könnte so tun.“
„Wie könnte sie tun?“
„Sie könnte so tun, als hielte sie ihn für den heißesten Typen auf dem ganzen Planeten.“
„Aber er verabscheut sie.“
„Na und?“
„Also wäre es unmöglich, in dieser Hinsicht irgend etwas zu heucheln.“
Fain hätte lachen können, aber er ließ das Thema fallen. Eines Tages würde er Skallon über die Geschichte der Kunst der weiblichen Prostitution aufklären, aber nicht jetzt. Es war offensichtlich, daß Skallon mit der Frau schlief. Das war riskant genug. Fain würde das Problem nicht noch verschlimmern, indem er ihn in die Defensive zwang.
„Ist es dort drüben?“ fragte Fain und wies auf das zackengekrönte Dach eines Holzgebäudes, das sich vor ihnen zwischen den wackligen Verkaufsbuden erhob. Danon war mitten in einer Menschenansammlung stehengeblieben und winkte ihnen, sich zu beeilen.
„Ja“, meinte Skallon, „das muß die Große Halle sein.“ Unvermittelt beschleunigte er seinen Schritt, er rannte fast, drängte sich an Danon vorbei und stürmte weiter. Fain hatte alle Mühe, watschelnd mit ihm Schritt zu halten. „Aus solcher Nähe habe ich sie noch nie gesehen. Es ist wundervoll – dies ist der größte Tag meines Lebens.“
„Schrei doch nicht so, verdammt!“
„Du kannst das nicht verstehen“, sagte Skallon; es verletzte ihn offensichtlich, daß Fain seine Begeisterung nicht teilte.
Aber Fain beeilte sich jetzt ebenfalls. Eines zumindest würde die gepriesene Zentralversammlung in der Großen Halle ihm verschaffen: Erholung von diesen überfüllten, stinkenden Straßen.
Einmal in jedem alveanischen Jahr, so wußte Fain, versammelten sich die Führer der verschiedenen Kasten in allen größeren Städten des Planeten, um in einer Reihe von öffentlichen Zusammenkünften die allgemeinen Leitlinien zu beschließen, denen der gesamte Planet im kommenden Jahre folgen würde. In Fains Augen war dies eine völlig verrückte Idee: Entscheidungen mußten vom Fleck weg getroffen werden – niemals konnte man so weit im voraus planen. Aber Skallon hatte behauptet, daß diese Versammlungen angesichts der schwachen Regierungsstruktur der Alveaner eine notwendige und sehr vernünftige demokratische Institution seien. Fain zuckte die Achseln. Er wußte auch, was für wunderbare Möglichkeiten ein solches System einem Änderung bot.
Danon hatte sie am Eingang verlassen. Auf sich selbst gestellt, gelang es Fain und Skallon, sich ins Innere der Großen Halle zu drängen. Obgleich sie so groß war, platzte die Halle doch schon jetzt aus allen Nähten. Fain fand jede nur vorstellbare Nuance des Regenbogens in den aufgeblähten Gewändern der Leute. Wie an jedem öffentlichen Ort auf diesem Planeten herrschte auch in der Halle ein schaler, siechender Geruch. Ein Durcheinander von schrillen, schreienden Stimmen bohrte sich in seine Ohren.
Fain entdeckte zu seiner Linken einen freien Stuhl und wollte darauf zugehen, aber Skallon ergriff seinen Arm.
„Nein, nicht da.“
„Wieso nicht?“ Fain mußte brüllen, um sich verständlich zu machen. „Meine Füße bringen mich um.“ Die zusätzliche Wattierung, die er am Leibe trug, war mehr als ein Ausgleich für die geringere alveanische Gravitation. Seine Beine schmerzten ihn.
„Weil wir bei unserer eigenen Kaste sitzen müssen. Bei den Doubluths.“ Skallon zeigte auf einen entfernten, dunkelroten Farbklecks. „Da sind sie – dort drüben.“
Fain unterdrückte ein Stöhnen. Skallon, eifrig wie stets, begann sich einen Weg durch die Menge zu bahnen. Fain halte nichts gesagt, aber er fragte sich ernsthaft, ob ihre Anwesenheil hier besonders nützlich sein würde. Konnte man erwarten, daß der Änderung, der ja sehr genau wußte, daß er verfolgt wurde, an einem solchen ungeschützten und übersichtlichen Ort irgend etwas unternehmen würde? Die Logik sagte ihm, daß man damit nicht rechnen konnte. Änderlinge verstanden ihre Arbeit, und es gab hundert subtilere Arten, einen Planeten zu ruinieren, ohne an einer Versammlung wie dieser teilzunehmen. Andererseits liebten Änderlinge dreiste Aktionen. Es machte ihnen Spaß, zu foppen und zu höhnen und verrückte Risiken einzugehen. Änderlinge dachten niemals nach. Sie planten nicht, und das war es, was sie so gefährlich machte.
Am Rande der purpurnen Sitzreihen – Fain nahm betrübt zur Kenntnis, daß sämtliche Stühle besetzt waren – kam Skallon gleitend zum Stehen, faltete die Hände zierlich unter dem Kinn und murmelte: „Wir sind hier, um unserem Wunsch Ausdruck zu verleihen, an der Beratung unserer Brüder teilzuhaben.“
Fain, der auf die Erforderlichkeit solcher Rituale ausgiebig vorbereitet worden war, tat desgleichen. Eine ganze Weile jedoch ließ keiner der Doubluths, die in der Nähe saßen, auch nur im geringsten erkennen, daß er sie wahrgenommen hätte. Die meisten schienen eifrig damit beschäftigt zu sein, mit ihrem Nachbarn zu schwatzen. Sie redeten zu schnell, als daß Fain ihnen hätte folgen können.
Dann erhob sich mitten in der Gruppe ein Mann. Er lächelte, winkte und kam auf sie zu. Fain, die Hände immer noch fest gefaltet, sah mit einigem Interesse zu, wie der Mann näher kam. Soweit er sich erinnern konnte, war dies der erste wirklich alte Mann, den er auf diesem Planeten zu Gesicht bekam. Er sah ebenso fett und grotesk aus wie die anderen, aber selbst die weichen Fleischwülste auf seinen Wangen und an seinem Kinn konnten die tiefen Linien und Falten, die sein Gesicht durchzogen, nicht mehr verbergen. „Der Senior“, wisperte Skallon. „Du weißt, was du zu tun hast.“
Fain brauchte nicht zu nicken. Mit so etwas hatte er nicht gerechnet. Soweit es ihn anging, war dies nur ein weiterer Grund dafür, daß er heute besser nicht hierhergekommen wäre. Lediglich Skallons Ignoranz in praktischer Hinsicht und die Möglichkeit, daß er einen ernsthaften Fehltritt beginge, hatten ihn schließlich davon überzeugt, daß es notwendig sei dabeizusein.
Der alte Alveaner, der Senior, verneigte sich tief vor Skallon. „Ich heiße meine jüngeren Brüder mit großer Freude zu unserem Kongreß willkommen.“
„Die Freude ist auf unserer Seite“, erwiderte Skallon. Er verbeugte sich leicht und küßte den alten Alveaner auf die Stirn.
Fain nahm sich behutsam zusammen und schob sich auf den alten Mann zu. Ohne ein Wort senkte er den Kopf und vollzog den notwendigen Kuß. Wegen seiner immer noch unzureichenden Aussprache halte Skallon ihn davor gewarnt, mehr zu reden als nötig war.
Er spürte einen Geschmack auf den Lippen, der ihn sonderbarerweise an alten Tee erinnerte.
Skallon sagte: „Ich bin Thomas, und mein Begleiter heißt Joseph. Wir sind Männer aus dem Süden, die hierher gereist sind, um die größten Meister unserer Kunst zu begrüßen.“ Skallon hatte erklärt, daß eine solche Wallfahrt, so unüblich sie auch sein mochte, kaum Überraschung hervorrufen würde. Die Umgebung von Kalic wurde von den Finanz- und Handelskasten beherrscht. Doubluths aus den eher landwirtschaftlich geprägten Kontinenten des Südens würden sich für die hier abgehaltenen Versammlungen weit mehr interessieren. Skallon hatte ihn gewarnt, daß der Senior sie womöglich eingehend nach gemeinsamen Freunden und Bekannten ausfragen könnte. Auf diese Weise würde er am schnellsten ihre eigenen Auffassungen und Anliegen in Erfahrung bringen können. Deshalb halte Fain ein paar Phrasen über die alveanische Ökonomie auswendig gelernt. Darüber hinaus würde Skallon bei diesem Täuschungsmanöver die Führung übernehmen müssen.
Aber der Senior murmelte nur: „Ich bin Jal“, wandte sich ab und eilte zu seinem Platz zurück.
Jetzt sah Fain, daß dort Unruhe ausgebrochen war. Ein Alveaner, umringt von einer Schar purpurn gewandeter Zuhörer, schüttelte seine Fäuste und schrie etwas. Gewisse, ständig wiederholte Wörter konnte sogar Fain verstehen. Das eine war Erde und das andere Seuche.
Als der Senior dort angelangt war, ergriff er den wild Gestikulierenden am Arm und versuchte, ihn von der Zuhörermenge weg zu einem leeren Stuhl zu führen. Zuerst wehrte sich der Mann, aber dann schien der Senior etwas zu flüstern und mit einem ärgerlichen Achselzucken ließ der Mann sich gehorsam wegbringen.
„Was war da los?“ fragte Fain.
In offensichtlicher Betroffenheit schüttelte Skallon den Kopf. „Es hat keinen Zweck. Der Mann hat sich darüber beklagt, daß das Doubluth-Programm ein Fehlschlag sei, weil es nicht die Forderung nach Beendigung des gesamten interstellaren Handels enthält.“
„Na und?“
„Nun, es ist absolut unerhört, daß jemand das Programm seiner eigenen Kaste kritisiert. Man kommt zu diesen Versammlungen, um den eigenen Plan gegen die anderen Kasten durchzukämpfen. Ohne einmütige Front wäre jede Kaste gleich schwach.“
„Und was hat der Senior gesagt, um ihn zum Schweigen zu bringen?“
„Ich nehme an, es hatte etwas mit dem Ritual zu tun. Er hat ihn wohl nicht davon überzeugt, daß er im Unrecht war.“
Aber in diesem Augenblick hatte Fain etwas erblickt, was seine Aufmerksamkeit von Skallons Erläuterungen ablenkte: einen leeren Stuhl – sogar zwei – im hinteren Teil des Doubluth-Bereichs.
„Beeil dich“, sagte Fain und zerrte an Skallons Gewändern.
Sie erreichten die freien Stühle, kurz bevor die beiden Männer, die dort aufgestanden waren, um dem Anti-Erden-Agitator zuzuhören, zurückkamen.
Fain ließ sich rasch auf einen der beiden Stühle sinken und zog Skallon auf den anderen.
Die beiden Alveaner starrten ihn wütend an, aber Fain tat, als sähe er sie nicht.
Nach ein paar Augenblicken gingen die Alveaner davon.
„Das hättest du nicht tun dürfen“, meinte Skallon. „Als Pilger sollten wir uns unseren Gastgebern nicht aufdrängen.“
„Dann steh auf und geh spazieren“, erwiderte Fain. „Ich halte dich nicht fest.“
Skallon grinste. „Du nicht, aber meine Füße. Fain, langsam begreife ich, daß du doch zu etwas zu gebrauchen bist.“
„Würdest du das bitte dem Änderung sagen?“
„Mach ich. Wenn du mir zeigst, wo er steckt.“
„Noch nicht“, brummte Fain. „Aber bald – verdammt bald.“
Wie Fain es eigentlich erwartet hatte, erwies sich die Versammlung als hoffnungslos langweilig. Er mußte sich zwingen, wachsam zu bleiben, während Kaste um Kaste nacheinander die hölzerne Plattform in der Mitte der Halle betrat. Nach allem, was er begriff, erhob sich jeder der Redner, um einen detaillierten – und, was Fain betraf, völlig unverständlichen – Plan für die Regierung des Planeten während des kommenden Jahres darzulegen. Falls der Änderung zugegen war, gab er dies durch keinerlei Zeichen zu erkennen. Skallon zufolge brachten die Redner ihre Ausführungen durchweg in sehr milden Worten dar. Angriffe auf die Erde beschränkten sich auf überaus sanfte und allgemein gehaltene Formulierungen. Die Seuchen – wenn sie überhaupt Erwähnung fanden – wurden als medizinisches Problem mit möglichen Lösungen geschildert. Die Hitze in der Halle und das beständige Summen von Gesprächen ringsumher taten das ihre, um Fains Schläfrigkeit zu vergrößern. Unmerklich wurde der Nachmittag zum Abend. Die Nacht sank herab. Skallon saß aufrecht auf der Stuhlkante und verschlang jedes einzelne Wort. Skallon ließ seine Augen zufallen. Es war warm. Es war behaglich.
Der Änderung war weit weg.
Er wußte nicht, wie lange er geschlafen hatte, als Skallon seinen Arm berührte. Augenblicklich war Fain hellwach.
„Sieh mal“, flüsterte Skallon, „ich glaube, mit dem Mann dort stimmt etwas nicht.“
Fains Blick folgte Skallons ausgestrecktem Zeigefinger. Ein purpurn gewandeter Doubluth hatte endlich das Podium erklommen. Fain glaubte, den Mann als Jal wiederzuerkennen, den Senior, der sie begrüßt hatte. Aber Jal sprach nicht. Statt dessen hielt er die Hände hoch über den Kopf, und seine Gewänder wallten mit den Bewegungen seines Körpers. Er schien zu tanzen.
„Es ist die Seuche“, flüsterte Skallon.
Fain brauchte keine Bestätigung für diese Diagnose. Er spürte, daß jedes Auge in der Halle jetzt den zuckenden, sich windenden Tänzer beobachtete. Noch hatte niemand etwas gesagt, gerufen oder geschrien, aber eine Atmosphäre von unterdrücktem Grauen, von kurz vor dem Ausbruch stehender Panik; erfüllte den Raum.
Dann schrie jemand. Fain wandte sich nach rechts und sah den jungen Doubluth, der vorhin den Aufruhr verursacht hatte. Er stand auf einem Stuhl. „Seht nur“, rief der Mann. „Seht, was sie uns jetzt angetan haben.“
Niemand mußte fragen, wen er mit sie meinte.
„Es ist unser Senior“, fuhr der Mann fort. In der Stille der Halle, durchbrochen nur von den stampfenden Füßen des tanzenden Seniors, dröhnte seine Stimme wie Kanonendonner. „Es ist mein Senior und Meister. Sie haben ihn ermordet. Wart ihr nicht gewarnt? Wir halten unsere Versammlung ab und sprechen von wunderbaren Plänen, landwirtschaftlichen Quoten und Handelsrecht. Wir reden, während rings um uns her Menschen sterben, ermordet durch die selbstsüchtige Gier des Erdenkonsortiums und seines sogenannten Kooperativen Imperiums. Es ist eine Obszönität in den Augen des Gottes mit den Millionen Namen.“
Skallon ergriff seinen Arm. „Fain, tu etwas!“
Wie alle anderen beobachtete Fain den Tanzenden. Die Bewegungen des Seniors waren jetzt langsamer geworden. Seine Arme hingen nutzlos herunter. Sein Kopf zuckte krampfhaft hin und her. „Was schlägst du denn vor?“
„Bring ihn zum Schweigen. Sorg dafür, daß er still ist. Siehst du nicht, daß er versucht, die Erde verantwortlich zu machen für … für das, was hier geschieht?“ Er wies mit dem Kopf auf das Podium.
„Vielleicht hat er nicht ganz unrecht.“
„Fain, es kann sein, daß er der Änderung ist!“
„Und es kann sein, daß er es nicht ist. Halt den Mund und überlaß das mir.“ Aber Fain machte keine Anstalten, etwas zu unternehmen. Im Augenblick begnügte er sich damit, zu beobachten und zuzuhören. Allerdings ließ er seine Hand sinken und legte sie auf die beruhigende Wölbung seines Hitzestrahlers.
Der Redner sagte soeben: „Schaut euch diesen Mann an. Schaut nur, wie er tanzt. Seht, wie sein Kopf zuckt und wie er seine Hände gen Himmel streckt. Er ist eine Marionette. Er ist ein Geschöpf in den Händen anderer. Er ist eine Marionette der Erde. Sie lassen ihn tanzen, und so wahr ich hier stehe – sie werden ihn sterben lassen.“
Kaum hatte der Mann das gesagt, wie auf ein Stichwort hin, warf der Tanzende auf der Plattform seinen Kopf in den Nacken, stieß einen furchtbaren Schrei voller Schmerz und Verzweiflung aus und sank zu einem reglosen Bündel zusammen.
„Tot“, sagte Fain, ohne etwas zu empfinden.
Die Panik, die Redner und Tänzer bisher in Schach gehalten hatte, brach jetzt aus. Männer schrien, andere brüllten, Stühle wurden umgestoßen. Alles schien gleichzeitig auf die Ausgänge zuzustürmen.
Fain hielt Skallon dicht bei sich. Er mußte schreien, um in dem Höllenlärm verstanden zu werden. „Rühr dich nicht. Bleib wo du bist.“ Selbst Fain fühlte, wie es ihn unwiderstehlich nach draußen an die frische Luft zog. Aber er hatte nicht die Absicht, sich zu Tode trampeln zu lassen. Nicht hier auf Alvea.
Er führte Skallon in die entgegengesetzte Richtung, weg von der Meute. Er stieß einen Stuhl beiseite.
„Wo willst du hin?“ fragte Skallon.
Fain wies auf das Podium vor ihnen. „Ich will mir diesen Mann genau ansehen.“
„Aber der ist tot, Fain.“
„Das weiß ich.“
„Aber … aber … wir …“ Skallon drehte den Kopf hin und her. Den anstürmenden Menschenmassen war es gelungen, ein Loch in die Wand zu brechen. Inzwischen waren fast alle ins Freie gelangt. Alle bis auf die zerquetschten Leiber, die verstreut umherlagen, zu Boden geworfen von der alles zermalmenden Menge.
„Skallon, wir sind vor jeder denkbaren Seuchenform sicher. Es gibt keinen Grund zur Besorgnis. Du solltest das besser wissen als jeder andere.“
„Ja, ja, natürlich. Du hast recht. Aber …“
Fain brachte sich dazu, besänftigend den Arm des anderen zu tätscheln. „Du brauchst mir nichts zu erklären. Panik ist eine ansteckende Krankheit. Ich habe es vorhin selbst gespürt.“
„Es ist nur schwierig, einen klaren Kopf zu behalten. Bei diesem … diesem Chaos.“
„Ja“, sagte Fain trocken. „Genau.“
Er bestieg die Plattform. Sie war leer; es war der letzte Ort der Welt, an dem sich irgend jemand freiwillig aufhalten wollte. Das plötzliche Übermaß an freiem Raum war für Fain eine willkommene Erleichterung. Er spürte, daß er jetzt klarer denken konnte.
Er packte den Leichnam des Seniors und wälzte den Mann auf seinen massigen Bauch. Er faßte in das dicke Fleisch an der Rückseite des einen Armes und drückte es kräftig zusammen. „Da“, sagte er und winkte Skallon, sich die Stelle anzusehen. „Ich dachte mir schon, daß es zu schön war, um wahr zu sein.“
Skallon sah hin, aber er schüttelte den Kopf. „Ich sehe nichts.“
„Das Fleisch. Es hat sich verfärbt. Dort, wo ich ihn gekniffen habe.“ Er ließ den Toten los und erhob sich. „Dieser Mann ist mit einem Injektor erwischt worden – und zwar vor kurzem erst.“
„Vertil?“
Fain hatte die Plattform schon verlassen. Er ging schnell, aber er rannte nicht. Von draußen hörte er immer noch das laute Rumoren der Menge, aber das Innere der Halle lag jetzt verlassen da. „Vertil braucht man nicht zu injizieren. Nein, ich schätze, es war die Seuche, die ihn getötet hat.“
„Aber die kann doch der Änderung sich nicht verschafft haben – zumindest keine der lokalen Seuchenformen.“
„Dann hat es vielleicht seine eigene mitgebracht.“
„Aber dann … wir … wir …“
„Genau“, sagte Fain. „Dann sind wir vielleicht nicht immun.“
Wie Fain begann jetzt auch Skallon schneller zu laufen, aber dann schien ihm plötzlich ein Gedanke zu kommen, und er verlangsamte seinen Schritt. Er wußte ebensogut wie Fain, daß Eile ihnen jetzt nichts mehr nützen könnte. „Dann muß der Änderung doch dieser Alveaner gewesen sein. Erinnere dich: Wir haben sie dicht beieinander stehen sehen. Dabei hätte er den Injektor benutzen können.“
„Das hätte er, aber fast jeder andere ebenfalls.“ Fain schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin noch nicht soweit, daß ich eine bestimmte Vermutung äußern könnte – noch nicht.“
Ins Freie zu gelangen war einfach genug. Sie stiegen durch das Loch in der Wand, und über ihnen funkelten die Sterne. Die Menge hatte sich zum größten Teil zerstreut. Ein paar verstreute Gruppen von Leuten waren zurückgeblieben. Fain atmete die saubere Nachtluft in tiefen Zügen, und sogleich fühlte er sich besser. Er war zu erschöpft, um herumzustehen und ein paar Idioten dabei zuzuhören, wie sie Schmähreden gegen die Erde führten.
„Was ist dort drinnen geschehen, hohe Herren?“ Es war der Junge, Kishs Sohn – nein, verbesserte sich Fain: Joanes Sohn. Anscheinend hatte er die ganze Zeil draußen gewartet. „Einige sagen, die Seuche sei ausgebrochen.“
„So etwas Ähnliches“, sagte Fain. Er gab dem Jungen einen sanften Stoß. „Bring uns nach Hause, und Skallon hier wird dir alles erzählen.“
Während sie durch die gewundenen Straßen der Stadt wanderten, die jetzt ebenso tot und leer dalagen, wie sie zuvor bevölkert und lebendig gewesen waren, konnte Fain nicht umhin, Skallon dicht zu sich heranzuziehen. „Dieser Doubluth … ich meine den, der gegen die Erde gewettert hat … erinnerst du dich an ihn?“
„Ja, natürlich. Und ich meine immer noch, daß er der Änderung war. Es gäbe sonst zu viele Zufälle in der Geschichte.“
„Ist dir an ihm etwas aufgefallen, während er redete?“
„Aufgefallen? Was meinst du?“
„Seine Augen, seine Haltung, seine Art zu reden.“
„Ja. Nein. Ich meine, so genau habe ich ihn mir nicht angesehen. Ich nehme an, ich habe auf den Senior geachtet. Worauf willst du hinaus?“
„Vertu“, sagte Fain. „Wenn jemals in meinem Leben jemand unter dem Einfluß von Vertil gehandelt hat, dann dieser Mann.“
„Dann … dann war er nicht … dann kann er nicht der Änderung gewesen sein.“
„Nein“, erwiderte Fain. „Aber er war dort. Er war dort, und er war sorgfältig bemüht, uns wissen zu lassen, daß er dort war.“
Eine Weile sagte Skallon gar nichts. Vor ihnen in der Dunkelheit hörte Fain die Schritte des Jungen, der ihnen vorauslief. „Was bedeutet das, Fain?“
„Ich wünschte, ich wüßte es.“ Fain schüttelte den Kopf langsam hin und her. „Ich wünschte wirklich, ich wüßte es.“