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Jetzt war er erst ein paar Stunden hier, und schon haßte Fain diesen Planeten. Er stank.
Er bahnte sich seinen Weg durch den dichter werdenden Dschungel. Zweimal hatte er jetzt hinter sich in der Ferne die zuckenden blauen Blitze gesehen. Mutter eliminierte irgendwelche Flugzeuge. Fain sehnte sich nach seinem Anzug, aber das half nichts. Er hätte Skallons genommen, aber wahrscheinlich hielten die Alveaner auf der Basis Ausschau nach einem Anzug, um ihn sofort abzuschießen. Deshalb würde Fain sich ihnen getarnt nähern und so harmlos wie möglich aussehen. Er schob die rechte Hand unter seine alveanischen Gewänder, um sicherzugehen, daß er seine Waffen schnell genug herausziehen konnte, ohne sich zu verheddern. Dann ging er weiter.
Voller Abscheu rümpfte er die Nase. Alles hier roch. Der Wald war zu einem Urwald geworden. Es gab groteske Farne und klobige, pilzähnliche Gewächse. Die Luft war schwer von Pollen, Samen und Sporen. Seine Augen hörten nicht auf zu tränen und aus seiner Nase tropfte der Schleim. Feuchtwarmer Dunst lag wie eine Decke über dem Boden, und ein kräftiger Wind blies ihm hart ins Gesicht. Nein, dachte Fain, so etwas wie die Erde gibt es nicht noch einmal. Ein Klischee, zugegeben, aber ein verdammt zutreffendes. Fain war schon auf mehr als zwei Dutzend Hinterwelten gewesen, und gemocht hatte er keine davon. Revolium zum Beispiel, der Schauplatz seines größten Erfolges – eine Wasserwelt, deren Bewohner, eher Fische als echte Menschen, nach Algen und Salzwasser rochen. Der Planet war nicht wichtig. Fain war nach Revolium gegangen, um einen Auftrag zu erledigen, und eben dazu war er auch nach Alvea gekommen. Dschungel oder Riesenozean, endlose Wüste oder immergrüner Regenwald, Städte, Gebirge, Ebenen – wichtig war im Grunde nur der Job. Bevor der erledigt war, dachte er kaum an etwas anderes.
Dennoch konnte er nichts dagegen tun: Er vermißte die Erde und sehnte sich nach Hause zurück. Die Tatsache, daß er ein solches Gefühl verspürte, behagte ihm gar nicht. Ein guter Agent konnte sich nicht leisten, an irgend etwas zu hängen. Die Wahrheil war, daß er sich Sorgen um sich selber machte. Wenn die Verwaltung nun recht hatte? Wenn er tatsächlich etwas verloren hatte? Der Zwischenfall vorhin mit dem Vertil – vor fünf Jahren wäre ihm das nicht passiert. Änderlinge wurden niemals weich. Vielleicht war das der Grund, weshalb Fain sie so sehr haßte. Er empfand eine Form von Haß mit einem Beigeschmack von Neid und Bewunderung. Wenn Fain diesen Änderung tötete, würde er etwas über sich selbst erfahren. Wenn er wieder versagte, würde er allerdings auch etwas erfahren.
Er dachte daran, wie alles angefangen hatte, gleich nach Revolium. Er war oben in den Hochhäusern von Houston mit Bateman, dem Vizepräsidenten des Konsortiums, zusammengetroffen. Bateman paffte am Stummel einer Naturzigarette. Diese Angewohnheit konnten sich nur diejenigen Männer gestatten, die mächtig genug waren, kostspielige Karzinombehandlungen zu verlangen und zu erhalten. „Herzlichen Glückwunsch, Fain“, sagte Bateman. Er erhob sich von seinem Schreibtisch und streckte eine behandschuhte Hand herüber. „Ich wußte, wenn wir überhaupt einen Mann haben, der einen lebendig zurückbringen kann, dann sind Sie das.“
Fain mochte Bateman nicht. Es war nicht unwahrscheinlich, daß Bateman vor fünfzehn Jahren persönlich Anweisung gegeben hatte, einen Mann namens Dickson Fain zu ermorden. „Ich tue meine Arbeit.“ Fain ignorierte die ausgestreckte Hand.
Bateman grinste schmal und setzte sich wieder. Durch ein Fenster hinter seiner linken Schulter glitzerte die mitternächtliche Skyline der City herein. Fain wußte, daß dies eine Verzerrung des Lichtes war, um Behaglichkeit zu schaffen; in Wirklichkeit war es draußen beinahe Mittag.
„Jetzt werden Sie Ihre Belohnung haben wollen“, meinte Bateman.
Fain nickte. „Sie haben es versprochen. Schriftlich. Ich besitze eine Kopie. Was immer ich haben will, sofern es weniger als drei Millionen kostet.“
„Ein fairer Preis.“ Bateman lächelte breit. „Also, Fain, was ist es? Haben Sie sich schon entschieden?“
Fain wußte genau, was er wollte. Er hatte es gewußt, seil er Bateman dazu gebracht hatte, ihm dieses Angebot zu unterbreiten. „Sie haben zwei Töchter. Ich will Fünf-Jahres-Verträge für beide.“
Bateman zeigte keine Reaktion. Offensichtlich hatte er niemals damit gerechnet, daß Fain auf Revolium erfolgreich sein würde, aber Fain hatte ihn übers Ohr gehauen. Und jetzt wollte er es wieder tun. Kühl erwiderte Bateman: „Das mache ich nicht, Fain.“
Ohne die Stimme zu heben, antwortete er: „Sie haben meinen Vater umgebracht …“
„… der erwiesenermaßen das Konsortium verraten hat …“
„… und jetzt verlange ich Bezahlung in natura. Eine Tochter Tür einen Vater.“
„Sie sprachen von beiden.“
„Die andere ist für meine Dienste. Meine zukünftigen Dienste.“
„Es könnte Ihnen etwas zustoßen.“
„Nicht solange ich für das Konsortium lebendig wertvoller bin als tot. Niemand kennt die Änderlinge so gut wie ich. Niemand könnte je einen fangen.“
Fain dachte an die beiden Frauen. Hatte es wirklich mit ihnen angefangen? Hatte es ihn weichgemacht, sie zu lieben, oder war das nur Zufall? Keine von beiden war eine Doppelgängerin gewesen. Er hatte erwartet, daß Bateman versuchen würde, ihn zu hintergehen, aber die Fingerabdrücke der Frauen hatten gestimmt. Fain hatte Kontakte zur Datenbank des Konsortiums, die ihn dessen sicher sein ließen. Anfangs hatte er ihnen nur weh getan. Er hatte bis dahin wenig mit Frauen zu tun gehabt und es auch nicht sehr genossen. Mit der Zeit stellte er fest, daß diese beiden anders waren. Das lag nicht an ihrem VIP-Status. Den hatte Fain auch einmal besessen, durch seinen Vater, diesen idealistischen Wissenschaftsmönch. Es war ihre Haltung ihm gegenüber: ihre Angst und ihre Bewunderung. Als der Vertrag im vergangenen Monat ausgelaufen war, hatten die drei einander versprochen, sich wiederzusehen. Fain wußte nicht, wie ehrlich dieses gemeinsame Gelübde gemeint war. Aber er wußte, daß er sie wiederhaben wollte – sie oder andere Frauen, die genauso waren.
Das war es, was ihn störte – das war eine wirkliche Veränderung. Bevor er die Frauen kannte, hatte er niemals einen Gedanken an die Zukunft verschwendet, wenn er einen Job übernahm. Ob er überlebte oder starb, ob er Erfolg hatte oder nicht, der Auftrag selbst hatte alle seine Sinne völlig ausgefüllt. Jetzt sah er die Frauen ständig vor sich, selbst mit offenen Augen. Kurze Bilder von ihnen: Augen, Brüste, Knie. Er konnte sie auch riechen. Er erinnerte sich daran, wie sie schmeckten. So war es fünf Jahre lang gewesen – fünf Jahre des Versagens. Er wußte, daß er jetzt wieder einen klaren Kopf brauchte. Der Vertrag – seine Rache – war abgelaufen. Es mußte wieder alles so werden, wie es vorher gewesen war. Wenn er das nicht schaffte, konnte das sein Todesurteil bedeuten, dessen war er sich bewußt. Sein Wert für das Konsortium war nichts als ein dünner Faden. Bateman würde ihn nur allzu gern umbringen lassen. Fain wußte, daß er sich hier beweisen mußte – um zu überleben.
Alvea war dabei keine große Hilfe. Das dichte Unterholz. Die lächerlichen Farne und die stinkenden Pilze. Er bewegte sich schnell und mit instinktiver Leichtigkeit. Vor ihm, mit jedem Schritt, den er tat, raschelte und flüchtete es, kleine Nager und Insekten, Käfer und Ungeziefer. Lebendiges Zeug. Und der Änderung? Er war auch irgendwo vor ihm. Fain vertrieb die Frauen aus seinen Gedanken. Er zwang sich, seine Sinne nach außen fließen zu lassen, um mit der Welt zu verschmelzen. Das war sein Schutz, sein Talent. Diesmal würde er nicht versagen.
Er hörte den sprudelnden Bach, noch bevor das hohe Gras sich teilte und den Blick auf das blitzende, grüne Wasser freigab. Er hielt kurz an, um zu trinken, und watete dann weiter. Die Steine waren glitschig. Über ihm zerriß ein durchdringender Schrei die nachmittägliche Stille. Fain sah nicht hoch. Es war ein Klatschflügel; er kannte diese Vögel aus dem Schnellkurs. Häßlich, aber mit gutem Fleisch. Ein gutes Nahrungsmittel. Plötzlich blieb er stehen, schaltete seine Pistole auf geräuschlosen Betrieb, riß den Arm hoch und feuerte. Der Vogel schrie auf, kurvte nach links und verschwand über dem Dschungel. Daneben. Knapp daneben, aber daneben. Fain schob den Hitzestrahler in das Holster unter seinem Umhang. Er stand mitten im Bach, das Wasser umspülte seine Knie, und er starrte auf seine Hände. Er hatte noch nie danebengetroffen. Noch nie.
Er fand den Körper am anderen Ufer.
Zuerst glaubte er, der Alveaner sei tot. Aber nein, die Atmung war kräftig, wenn auch unregelmäßig. Der Puls war zu schnell, aber stetig. Irgendeine Verletzung war nicht zu sehen. Ein alveanischer Soldat, noch fetter – wenn das möglich war – als die beiden anderen. Bewußtlos.
Fain blieb am Boden hocken und lauschte angestrengt auf jedes noch so ferne Geräusch. Ein einzelner Mann, mitten im Dschungel, bewußtlos, aber weder tot noch verwundet. Das hatte etwas mit dem Änderung zu tun, aber …
Der Gedanke ließ ihn erstarren. Er zog eine kleine Tafel aus seinem Gewand und hielt sie dem Alveaner an die Lippen. Augenblicklich färbte sie sich rosa.
Fain stand auf. Jemand hatte diesen Alveaner mit Vertil behandelt, ihn anscheinend benutzt und dann hier liegen gelassen, damit er wieder zu sich kam.
Aber niemand auf diesem Planeten besaß Vertil, außer ihm selbst und Skallon. Es war verboten. So unvorstellbar es auch erschien – dieser schlafende Alveaner bedeutete, daß auch der Änderung über einen Vorrat an Vertil verfügte.
Damit lagen die Chancen anders. Völlig anders. Und plötzlich erwachte Angst in ihm, wie ein kalter Wind.
Oh, mein Gott, nein, nein, hatte er geschrien, als er in das Zimmer rannte. Das hohle Dröhnen eines Hitzestrahlers erfüllte das Haus. Die Flammen hatten seinen Vater schon halb eingehüllt, sie fraßen sich durch seine Kleider, züngelten zu seinem Gesicht hinauf. Sein Vater bedeckte das Gesicht mit beiden Händen und wankte zurück. Einer der Mörder feuerte noch einmal.
Lodernde Flammen. Eine Kugel aus Licht, die seinen Vater in die Brust traf und über ihm explodierte.
Dann der Schrei. Schrill und hoch. Todesqualen und Verzweiflung.
Fain stürmte drei Schritte weit ins Zimmer, und dann schlug ihm jemand mit dem Kolben einer Waffe gegen die Brust. Oh, bitte, Gott, nein, was macht … warum … Dann sah er die Streifen auf den Ärmeln, die Stoffstückchen, die bedeuteten, daß all dies legal war, daß es kein Irrtum war, daß sein Vater jetzt und hier sterben mußte.
Sein Vater, gebadet in Flammen.
Die Hände sanken herab, als wüßte der brennende Mann, daß es kein Entkommen gab, daß jeder Versuch sinnlos war. Das Gesicht war verzerrt, erstarrt. Der Mund war zu einem lautlosen Schrei aufgerissen. Die Gestalt wurde steif. Die Flammen bedeckten sie, fraßen sich immer weiter. Dann öffneten sich langsam die Augen, als müsse er sie gewaltsam aufzwingen, um einen letzten Blick auf die Welt zu werfen. Fains Vater sah hinaus auf seinen Sohn, und er schwankte. Sein Haar loderte auf und gelbe Flammen schlugen empor. Beißender Qualm. Das Knistern des Feuers. Züngelnde, schnappende Flammen. Die Lungen seines Vaters füllten sich zu einem neuen Schrei. In den Augen des brennenden Mannes lag etwas Altersloses. Er sah Fain ah, und sein Blick durchdrang die Todesqualen, und die Erkenntnis, das Wissen, verband sie miteinander. Dann taumelte sein Vater zurück. Seine Arme zuckten, und der letzte Schrei erscholl.
Fain stand da wie erstarrt, schweißgebadet.
Immer wenn ihn Angst überkam, floh er vor ihr in die Vergangenheit. Zurück zu dem brennenden, zusammenbrechenden Mann. Zurück zu den drei Mördern, die sich davon überzeugten, daß ihr Auftrag erfüllt war und daß sein Vater von keinem Rettungsgerät wiederbelebt werden konnte. Die ihre widerwärtige Arbeit auf dem Wohnzimmerteppich taten. Die den stammelnden Jungen beiseite stießen.
In den finsteren Stunden, die darauf folgten, als das Haus sich mit Polizisten und Beamten und Verwandten Rillte, geschah es, daß jene eisige Ruhe sich über ihn herabsenkte, die ihn nie wieder verlassen sollte. Ein kaltes, gelassenes Wissen. Er hatte den Tod gesehen, und in dem letzten, gepeinigten Blick seines Vaters hatte er auch die Antwort auf den Tod gesehen. Sein Vater hatte ihm etwas gegeben, das ihn durchs Leben tragen und anders als andere machen würde.
Zu diesem geheimen Mittelpunkt, in dem die kalte, klare Wahrheit lag, kehrte Fain zurück. Einen Augenblick lang hatte ihn Angst gepackt, aber jetzt war sie verschwunden. Der Änderung war ihnen weit überlegen. Es hatte den einzigen konkreten Vorteil, den er und Skallon mitgebracht hatten, neutralisiert. Also gut: Das Problem lag jetzt anders. Aber tief im Innern wußte Fain, daß er hier eigentlich nichts zu verlieren hatte. Allenfalls konnte der Änderung ihn töten. Mehr nicht. Und dies zu wissen vermittelte Fain den Vorsprung, den er immer und allen gegenüber hatte – Menschen, Änderungen, allem.
Fain legte den Hitzestrahler in die Armbeuge und setzte seinen Weg fort. Der Augenblick war vorüber. Er hatte schon früher solche Augenblicke erlebt, vor allem während der letzten fünf Jahre, aber sie waren nie wirklich wichtig gewesen. Auch dieser würde verblassen und verschwinden. Dessen war er sich sicher.
Er war drei Kilometer weit gekommen, als er das Donnern der ersten Gewehrschüsse in der feuchten Luft hörte.