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Skal­lon rann­te durch die Stra­ßen von Ka­lic, so schnell er es wa­gen konn­te. Die sanf­te Luft, schwer von Feuch­tig­keit und dem trei­ben­den, wür­zi­gen Rauch der Koch­stel­len, brann­te in sei­ner Keh­le. Ver­mumm­te Ge­stal­ten dreh­ten sich nach ihm um, Leu­te schau­ten ein­an­der mur­melnd an, aber er hetz­te wei­ter. Er wuß­te, daß er oh­ne­hin In­ter­es­se er­re­gen wür­de, wenn er schnel­ler als ge­wöhn­lich gin­ge – al­so konn­te er eben­so­gut gleich ren­nen und so viel­leicht je­den Ver­däch­ti­gen hin­ter sich las­sen.

Er muß­te Fain fin­den. Jetzt, da Scor­pio tot war, be­fan­den sie sich in ei­ner ver­zwei­fel­ten La­ge. Ge­mein­sam konn­ten sie den Än­de­rung viel­leicht noch recht­zei­tig fin­den, aber ein­zeln wür­den sie oh­ne Zwei­fel ster­ben. Der Än­de­rung hat­te sei­ne Kar­ten auf den Tisch ge­legt. Das Ding war weit ge­ris­se­ner, als Skal­lon es für mög­lich ge­hal­ten hat­te. Wie konn­te der Glau­be an das Cha­os ei­nem We­sen sol­che Macht ver­lei­hen?

Schweiß rann ihm in die Au­gen. Vor sich er­kann­te er ei­ne durch­bro­che­ne Mau­er, ele­gant dra­piert mit ro­tem Tuch. Die Hal­le der Ta­gras. In ih­rem Schal­ten hock­te ei­ne Men­schen­men­ge in der Hoff­nung auf Hil­fe oder Al­mo­sen. Jun­gen bo­ten fri­sche Bee­ren vom Lan­de feil. Ei­ne Frau lehn­te schluch­zend an ei­ner ver­fal­le­nen Stein­mau­er. Dann be­merk­te er noch et­was an­de­res.

Das To­sen drang aus den Fens­tern der Hal­le her­aus. Es klang wie die hoh­le Stim­me ei­nes Schmelzofens. Für einen lan­gen Mo­ment schi­en es, als woll­te es nicht mehr auf­hö­ren, und Skal­lon, der im Vor­hof der Hal­le zum Ste­hen kam, be­griff plötz­lich, daß er ei­ne mit höchs­ter Ka­pa­zi­tät ar­bei­ten­de Flam­men­waf­fe hör­te.

Blin­zelnd und keu­chend stand er da. Das große Por­tal öff­ne­te sich lang­sam, und Fain kam her­aus. Er schob einen Hand­strah­ler in sei­nen Gür­tel.

„Was … was hast du …“ be­gann Skal­lon.

„Ich ha­be ihn er­wi­scht“, sag­te Fain mit schwe­rer Zun­ge. Er ver­such­te, sich an Skal­lon vor­bei­zu­schie­ben.

„Er­wi­scht? Den Än­de­rung? Wie denn?“

„Sieh’s dir an.“

Fain blieb keu­chend ste­hen, wäh­rend Skal­lon auf die ho­he Tür zu­ging und sie mit der Schul­ter auf­schob. Ge­stal­ten dräng­ten sich am Ran­de des Vor­ho­fes, tu­schel­ten mit­ein­an­der, aber nie­mand wag­te nä­her zu kom­men.

Skal­lon stand ei­ne gan­ze Wei­le da und schau­te sich in der Hal­le um. Sie war vol­ler Blut, und in den Wän­den wa­ren tie­fe Brand­lö­cher. Ru­hig und mit kla­rem Kopf dach­te er an den Auf­ruhr und an das, was er in sei­nem Dro­gen­rausch ge­tan hat­te. Es war schlimm ge­we­sen. Ge­nau ge­sagt, es war ein de­sta­bi­li­sie­ren­der Zwi­schen­fall. Er brauch­te kei­ne so­zio­me­tri­sche Stu­die von Ka­lic, um zu wis­sen, was die An­we­sen­heit von Erd­lern, von ge­tarn­ten Erd­lern, hier be­wirkt hat­te.

Die Aus­wir­kun­gen hät­ten sich je­doch dämp­fen las­sen. Mit be­hut­sa­men, sorg­fäl­ti­gen Jus­tie­run­gen hät­te er den Riß, den er ver­ur­sacht hal­le, be­he­ben kön­nen.

Aber das hier …

Jetzt gab es kei­ne Lö­sung mehr. Al­vea wür­de in ei­ne neue so­zio­me­tri­sche Pha­se über­kip­pen. Die Kas­ten wür­den viel­leicht über­le­ben, die gro­ben Um­ris­se des­sen, was ein­mal die al­vea­ni­sche Kul­tur ge­we­sen war … aber die Ver­nich­tung der ge­sam­ten Füh­rung ei­ner Kas­te wür­de al­les ver­än­dern. Die Er­de konn­te Al­vea jetzt nicht mehr zu­recht­fli­cken.

Ir­gend­wo in die­sem Brei von auf­ge­ris­se­nen Lei­bern lag der Än­de­rung. Fain hat­te es ge­schafft, ja. Aber der Än­de­rung hat­te ge­won­nen. In Ka­lic wür­de ei­ne ra­sen­de Wut ent­flam­men, ein Cha­os, das sich über das gan­ze Land ver­brei­ten wür­de. We­der er noch Fain konn­ten jetzt noch et­was tun, um es auf­zu­hal­len.

„Komm jetzt“, sag­te Fain über Skal­lons Schul­ter. „Ge­hen wir zu­rück zum Ho­tel.“

„Nein“, er­wi­der­te Skal­lon. Er wand­te sich um, schob mit ei­nem Ach­sel­zu­cken die Hand des Man­nes von sei­ner Schul­ter und ver­schwand zwi­schen den wim­meln­den, ver­mumm­ten Men­schen in den gäh­nen­den Stra­ßen von Ka­lic.

 

Skal­lon merk­te, daß er ziel­los um­her­wan­der­te. Er ließ sich durch die weit­ver­zweig­ten Au­ßen­be­zir­ke von Ka­lic trei­ben. Grun­zend er­klomm er einen Hü­gel und fiel schmerz­haft aufs Knie. Von dem ab­schüs­si­gen Hang aus konn­te man den Stadt­rand se­hen. Bil­der glit­ten wahl­los durch sei­ne Ge­dan­ken. Jo­a­ne, Fain, die ver­schwom­me­nen, fla­ckern­den Ge­sich­ter ei­ner Rei­he von Al­vea­nern, der Auf­ruhr, ein hei­ßer, sprö­der Hauch von Weih­rauch und Öl, ein mat­tes, ru­bin­ro­tes Licht. Sei­ne Ge­dan­ken wir­bel­ten in ih­rem Va­ku­um.

Er hör­te ein fer­nes Stamp­fen. Er has­te­te den Berg hin­auf und fand ei­ne Frau, die auf ei­nem Bett lag. Es war ein Mes­sing­bett, und La­ken, Be­zü­ge und De­cken wa­ren sorg­fäl­tig ge­glät­tet und fest­ge­stopft. Die Frau lag da und schau­te zum Him­mel. Ne­ben ihr sah er ein klei­nes Mäd­chen, des­sen Au­gen das hel­le Blau des Him­mels spie­gel­ten. Kei­ne der bei­den be­weg­te sich oder nahm No­tiz von sei­nen knir­schen­den Schrit­ten. Sie wirk­ten, als ob sie ganz ru­hig war­te­ten. Er sah, wie sie at­me­ten, in lan­gen, fla­chen Zü­gen.

Plötz­lich er­hob sich am Ran­de des Ab­hangs ein Jun­ge aus dem Bo­den.

„Wo­her kommst du?“ Skal­lons Stim­me klang hei­ser.

„Aus der Er­de“, ant­wor­te­te der Jun­ge, glück­lich über sein Ge­heim­nis.

„Das ha­be ich ge­se­hen.“

„Mei­ne Mut­ter und mei­ne Schwes­ter war­ten dar­auf, daß wir den ers­ten Raum aus­gra­ben.“

Der Jun­ge trat einen Schritt zu­rück, Stei­ne fie­len von ihm ab, und er zeig­te ihm die Kan­te ei­nes Lo­ches. Es war ei­ne Höh­le. Aus ih­rem In­nern drang das Stamp­fen, das Skal­lon ge­hört hat­te.

Ein Mann kam her­aus­ge­kro­chen. Er zog einen mit Er­de und Stei­nen ge­füll­ten Ei­mer hin­ter sich her. Der Mann sah Skal­lon wort­los an. „Un­ser Heim“, sag­te der Jun­ge stolz.

„Aber … warum ei­ne Höh­le gra­ben? Die Seu­chen … es gibt vie­le ver­las­se­ne Häu­ser in der Stadt. Ihr könn­tet …“

„Sie sind ver­seucht.“

„Das macht doch nichts. We­ni­ge die­ser Krank­hei­ten sind an­ste­ckend.“

„Ach“, sag­te der Mann ver­ächt­lich.

„Nein, wirk­lich.“

„Wer könn­te da si­cher sein?“ frag­te der Mann mit schnei­den­der Stim­me. Er fun­kel­te Skal­lon wü­tend an. Ver­le­gen wich Skal­lon einen Schritt zu­rück.

„Nicht völ­lig si­cher na­tür­lich, nein. Aber es sind doch zwei­fel­los zum größ­ten Teil ge­ne­ti­sche De­fek­te …“

„Wir le­ben hier. Hal­ten uns fern von den Häu­sern der To­ten.“

Der Jun­ge nick­te. „So wie es die Al­ten ta­ten. Vor all­dem“, sag­te er mit sei­ner hel­len Stim­me. „Un­ter der Er­de. Ge­schützt.“

Skal­lon sah wie be­täubt zu. Der Mann zog den Ei­mer mit sei­nen kno­ti­gen Ar­men her­aus und kipp­te das Ge­stein den Ab­hang hin­un­ter. Ein brau­ner Strei­fen zog sich den Hang hin­ab.

„Einen Raum. Und dann noch einen.“

Skal­lon sah, daß der Mann kei­ne Bei­ne hat­te. Es wa­ren nur Stümp­fe. Ei­ne Am­pu­ta­ti­on, um ei­ne Krank­heit auf­zu­hal­ten.

Der Mann kroch zu­rück in die Mün­dung der Höh­le, und der Jun­ge folg­te ihm. Skal­lon be­ob­ach­te­te die Frau und das Mäd­chen. Ei­ne stum­me, er­schöpf­te Ge­duld, äl­ter als die Jahr­hun­der­te.

Es be­gann zu reg­nen; das ers­te Mal, daß Skal­lon auf Al­vea Re­gen sah. Die Ge­stal­ten auf dem Bett blie­ben re­gungs­los lie­gen und lie­ßen den Re­gen wie ein wei­ches, dau­er­haf­tes La­ken auf sich her­ab­fal­len. Das Stamp­fen un­ter der Er­de be­gann wie­der.

 

Jetzt, da der Än­de­rung nicht mehr da war, ge­stat­te­te Skal­lon sei­nen Ge­dan­ken, sei­ne Bil­der noch ein­mal her­auf­zu­be­schwö­ren. Sei­ne ra­scheln­den, knir­schen­den Be­we­gun­gen. Das Stöh­nen, als sein Fleisch sich ver­schob und ver­form­te. Sein furcht­ba­res, wis­sen­des Lä­cheln. Skal­lons Lä­cheln.

Das We­sen war töd­lich und angst­ein­flö­ßend, und zwar weit mehr als er be­furch­tet hat­te. Aber es war auch fas­zi­nie­rend. Ei­ne Se­kun­de lang hat­te Skal­lon einen Schim­mer des­sen ge­se­hen, was das Ding fühl­te, er hat­te ge­spürt, wie es die Welt sah.

Stirn­run­zelnd ging er wei­ter und ver­such­te, sich an die zar­ten Im­pres­sio­nen zu er­in­nern. Was er von dem Än­de­rung emp­fan­gen hat­te, wa­ren nicht Ide­en, son­dern Ge­füh­le, Emp­fin­dun­gen, Emo­tio­nen. Et­was vom Tan­zen, vom leicht Da­hin­le­ben, vom Glei­ten durch die Zeit wie ein Schiff auf ru­hi­ger See. Und von der Un­s­terb­lich­keit. Daß Gom­mer­set am En­de doch et­was be­deu­te­te. Es gab ei­ne ent­fern­te Ver­wandt­schaft zwi­schen dem Än­de­rung und Al­vea, des­sen war er sich si­cher.

Gleich­viel – das We­sen, so men­schen­ähn­lich in vie­ler Hin­sicht, und doch so fun­da­men­tal an­ders, hat­te ver­sucht, die al­te Kul­tur von Al­vea zu zer­stö­ren. Er har­te Al­vea zer­stört. Es war ein ab­sto­ßen­des und den­noch fas­zi­nie­ren­des Ding, die­ser Än­de­rung. Skal­lon schau­der­te. Viel­leicht konn­te er Fain kei­nen wirk­li­chen Vor­wurf ma­chen, weil die­ser ihn ge­lö­tet hat­te. Die gan­ze Zeit über war Da­non der Än­de­rung ge­we­sen. Das Ding hat­te in ihm ge­steckt, vol­ler Hohn. Auf dem Platz, bei den lan­gen Ver­samm­lun­gen, wäh­rend der Ver­fol­gungs­jagd durch die Stra­ßen von Ka­lic. Im­mer la­chend. Im­mer da. Und am En­de, noch im To­de, hat­te er ge­siegt.

 

Der Än­de­rung war nicht tot.

Jo­seph Fain saß auf dem Bett in sei­ner Kam­mer im Ho­tel und starr­te auf den dunklen Fle­cken am Bo­den ne­ben sei­nem Fuß, wäh­rend der Lärm des Cha­os von der Stra­ße her­auf­wog­te. So­eben hat­te er einen Kä­fer mit dem Stie­fel zer­quetscht, und zum zwei­ten Mal in sei­nem Le­ben ver­stand er al­les.

Der Än­de­rung war nicht un­ter de­nen ge­we­sen, die in der Hal­le ge­stor­ben wa­ren. Des­sen war er so si­cher, wie er je­mals ei­ner Sa­che si­cher ge­we­sen war.

Um et­was zu tö­ten, muß­te man es ken­nen. Der Än­de­rung kann­te Fain. Und aus die­ser Kennt­nis her­aus hät­te er es nie­mals zu­ge­las­sen, daß er sich ihm un­be­merkt nä­her­te.

Fain be­griff, was der Än­de­rung be­ab­sich­tigt hat­te. Er hat­te die Exis­tenz von Fains küh­lem Mit­tel­punkt ge­spürt, in­stink­tiv hat­te er die Quel­le sei­ner Kraft er­faßt, und er hat­te sich dar­an­ge­macht, die­sen Kern zu zer­stö­ren.

Dies hat­te das En­de sein sol­len: Die Er­kennt­nis, daß er ei­ne Ver­samm­lung von Un­schul­di­gen nie­der­ge­metz­telt hat­te, soll­te ihn in den Ab­grund sto­ßen.

Fain lä­chel­te ge­preßt. Ein to­ter Kä­fer hat­te ihn ge­ret­tet. Er fühl­te nichts – nur noch ab­so­lu­ten, to­ta­len, über­wäl­ti­gen­den Frie­den. Kein Be­dau­ern. Kei­ne Scham. Kei­ne Schuld.

Der Än­de­rung war all­zu er­folg­reich ge­we­sen. In­dem er den küh­len Kern in sei­nem In­nern aus­ge­löscht hat­te, hat­te er das Wis­sen frei­ge­setzt, das ihn be­frei­te, das je­de Sor­ge um Le­ben und Tod ab­surd und sinn­los mach­te.

Jetzt end­lich ver­stand Fain den Än­de­rung wirk­lich.

Und er konn­te ihn tö­ten.

Wenn er ihn fän­de.

Und er wuß­te, das wür­de bald sein.

 

Mit leich­tem Kopf und un­be­stimm­ten Ge­dan­ken ließ Skal­lon sich durch die ver­stopf­ten Stra­ßen von Ka­lic trei­ben. Der Miß­klang, den er vor­aus­ge­ahnt hat­te, er­hob sich jetzt über­all wie ei­ne Ant­wort auf ein un­hör­ba­res Pul­sie­ren. Ban­den von klei­nen Jun­gen be­kämpf­ten ein­an­der mit Knüp­peln und Lehm­klum­pen. Män­ner rann­ten in atem­lo­ser Hek­tik ir­gend­wel­chen Be­sor­gun­gen nach. Kar­ren scho­ben sich durch die stau­bi­gen Stra­ßen, hoch be­la­den mit ärm­li­chem Haus­rat, und ih­re Be­sit­zer wa­ren be­müht, die Stadt noch vor Ein­bruch der Nacht zu ver­las­sen. Die Stadt groll­te lei­se, zwei­felnd und ver­wirrt.

Durch Ne­ben­stra­ßen er­reich­te er das Ho­tel, neu­gie­ri­gen Bli­cken aus dem Weg ge­hend. Er hat­te Fain ei­ni­ges zu sa­gen, aber das konn­te war­ten. Er brauch­te Ru­he und Zeit zum Nach­den­ken. Er schlüpf­te durch den Hin­ter­ein­gang und schlich durch den trü­ben Gang zu sei­nem Zim­mer.

Jo­a­ne lag auf dem Bett. „Du bist in Si­cher­heit!“

Skal­lon nick­te. „Fain … er ist zu­rück­ge­kom­men … er sagt, das Ding ist tot.“

„Die Ra­che für das Tier, für den Hund. Und für Da­non“, sag­te sie ein­fach.

„Ja, ver­mut­lich.“

Sie sa­ßen ei­ne Wei­le auf dem Bett, oh­ne sich zu be­rüh­ren.

Skal­lon frag­te sich, wie sich bei Al­vea­nern Trau­er äu­ßern moch­te. So­weit er es in dem schwa­chen Licht er­ken­nen konn­te, zo­gen sich kei­ne Trä­nen­spu­ren durch Jo­a­nes Ge­sicht. Sie saß da, fal­te­te mü­ßig die Hän­de in­ein­an­der und lös­te sie wie­der. Es war ganz still zwi­schen ih­nen.

„Fain … er sagt, er muß­te vie­le tö­ten …“ Jo­a­ne schi­en nach ir­gend et­was zu su­chen, was sie sa­gen konn­te. Small­talk. Fain wür­de das has­sen.

Skal­lon nick­te. „Was hat er dir er­zählt? Hat er ge­sagt, es sei sein Job? Er ha­be es nicht gern ge­tan, aber er ha­be es tun müs­sen?“

„Er … so et­was Ähn­li­ches.“

Skal­lon ver­spür­te ei­ne über­wäl­ti­gen­de Mat­tig­keit. „Ja. So ist es.“

„Ihr … ihr wer­det jetzt fort­ge­hen?“

„Fain hat wahr­schein­lich schon den Or­bi­ter ge­ru­fen.“

„Mor­gen al­so?“

„Nein. Nicht mor­gen. Über­haupt nicht. Ich ge­he nicht zu­rück.“

Ih­re Au­gen wei­te­ten sich. „Warum nicht?“

„Wenn ich zu­rück­gin­ge, wür­de man mich ir­gend­wo in ei­ne Un­ter­kunft ste­cken. Man wür­de mich für einen neu­en Pla­ne­ten trai­nie­ren und mich mit sei­ner Kul­tur voll­stop­fen. Das will ich nicht. Ich ken­ne Al­vea. Zum Teu­fel, ich ken­ne es wahr­schein­lich bes­ser als die Er­de. Von der Er­de be­kommt man heut­zu­ta­ge nicht mehr viel zu se­hen. Lau­ter Farm­land und Re­ser­va­tio­nen. Man kann sich kaum noch be­we­gen.“

„Aber hier­blei­ben … nach al­lem, was du mir ge­sagt hast …“

„Ha­be ich es dir er­zählt? Ja, wahr­schein­lich. Erd­ler ha­ben hier kei­ne nor­ma­le Le­bens­er­war­tung. Das un­ter­schei­det dich von mir. Dei­ne Ge­ne sind zu­recht­ge­stutzt.“

„Du wirst ster­ben?“

„Nicht so­fort. Ich wer­de mich nur nicht ganz er­ho­len, falls ich ein­mal krank wer­de. Ir­gend­ei­ne ver­fluch­te Ad­ap­ti­ons­lücke wird mich lang­sam auf­fres­sen.“

„Wie … furcht­bar.“

Skal­lon lä­chel­te schmal. „Je­mand muß ver­su­chen, zu re­pa­rie­ren, was wir hier an­ge­rich­tet ha­ben. Und dann ist da noch die­se Gom­mer­set-Ge­schich­te, der ich gern auf den Grund ge­hen möch­te.“

Jo­a­ne run­zel­te die Stirn. „Du warst nicht ver­ant­wort­lich für den … da­für, daß so vie­le um­ge­kom­men sind.“

„Ich war ein Narr. Der Än­de­rung hat mit uns ge­spielt wie mit Ma­rio­net­ten. Wir wuß­ten nie, was vor sich ging. Ich hät­te se­hen müs­sen …“

„Aber der Tod die­ser Leu­te kam aus der … der Un­ord­nung.“

„Nein, es war mei­ne Schuld. Und Fains“, füg­te er scharf hin­zu.

„Wenn et­was Bö­ses ge­schieht, dann ist es ein Aus­druck des gan­zen Uni­ver­sums. Und eben­so ist es, wenn et­was Gu­tes ge­schieht. Bei­des ent­springt aus dem will­kür­li­chen Wir­ken des … des Gan­zen.“

„Wie kannst du an Gom­mer­set glau­ben, wenn du … Na ja, viel­leicht steckt in Al­vea mehr, als ich dach­te.“

„Was du für das Gu­te und das Bö­se hältst, sind nicht dei­ne Ide­en. Sie sind, was sie sind.“

„Und?“ sag­te Skal­lon nach­denk­lich.

„Du soll­test dich ih­nen fü­gen. Ver­su­che nicht, sie ir­gend­wie zu än­dern.“

„Al­les, was du sagst, macht mich nur noch si­che­rer, daß ich das Rich­ti­ge tue. Ich will Al­vea ken­nen. Ich will wirk­lich ver­ste­hen, was du sagst. Be­greifst du das, Jo­a­ne?“

Er konn­te ih­ren Ge­sichts­aus­druck nicht er­ken­nen. Drau­ßen sank die Däm­me­rung her­ab, und im Zim­mer war es dun­kel ge­wor­den. Skal­lon war mü­de, sei­ne Ge­len­ke schmerz­ten, und sei­ne Keh­le war eng und tro­cken.

„Ich weiß nicht … Willst du …?“ Sie ließ sich zu­rück­sin­ken, reck­te die Hüf­ten hoch und zog den Saum ih­res lan­gen Klei­des zu­rück. „Ich wer­de dich auf­neh­men.“

„Aber … nein, nein, ich … bin mü­de.“ Skal­lon war be­stürzt über ih­re Di­rekt­heit. Noch wäh­rend er sprach, sah er, wie ih­re schat­ten­dunklen, flei­schi­gen Schen­kel sich teil­ten, und er dach­te an die Er­leich­te­rung, die er dort fin­den wür­de. Aber nein, er war ei­gent­lich nicht in der rich­ti­gen Stim­mung. „Ich glau­be, ich wer­de mich aus­ru­hen. Spä­ter viel­leicht.“

Sie nick­te und er­hob sich mit ruck­haf­ten Be­we­gun­gen. „Ich wer­de zu­rück­kom­men.“

Als Skal­lon sich zu­rück­lehn­te und die Stie­fel von den Fü­ßen zog, dach­te er an sie und ver­such­te, ih­re Stim­mung in den letz­ten paar Mi­nu­ten zu in­ter­pre­tie­ren. Sie war an­ders, ver­än­dert, ei­ne Frau mit tie­fen, wan­del­vol­len Strö­mun­gen, ei­ne Frau, die eben­so kom­plex war wie Al­vea, auf ei­ne Wei­se, wie die Er­de es für ihn nie­mals sein wür­de. Die Er­de, auf der al­les ge­plant und kon­trol­liert war, hat­te ihr Bild in Jahr­hun­der­ten kaum noch ver­än­dert, und sie wür­de für al­le Zeit so blei­ben. Die Er­de – ein Netz, des­sen Kno­ten die Men­schen wa­ren, die wohl­ge­ord­net und be­kannt in ei­ner Schach­tel leb­ten, ge­nau be­grenzt in dem, was sie tun und wis­sen und lie­ben konn­ten. Nie­mand blu­te­te auf der Er­de, und nie­mand starb. Ei­nes Ta­ges war man da, und am nächs­ten nicht mehr – zip, und das war al­les. Nie­mand grub sich schutz­su­chend in die Er­de – zum Teu­fel, sie leb­ten ja schon un­ter­ir­disch, und die ge­sam­te Ober­flä­che war für Pflan­zun­gen und Schutz­ge­bie­te re­ser­viert –, nie­mand hat­te Seu­chen oder einen lang­sam schlei­chen­den Tod zu fürch­ten, nie­mand leb­te wirk­lich, nicht so wie die Al­vea­ner leb­ten. Es wa­ren die Leu­te auf dem Hü­gel, de­nen Skal­lon hel­fen, die er ken­nen­ler­nen woll­te. In dem Cha­os, das jetzt kom­men soll­te, wür­den sie hilf­los trei­ben, wenn sie den Halt der Kas­ten nicht mehr hät­ten, sie wür­den wie klei­ne Vö­gel vor dem auf­zie­hen­den Sturm zu Bo­den stür­zen. Er muß­te ih­nen hel­fen.

Das Ge­sicht in das zer­knüll­te Kis­sen ge­preßt, fiel er in einen un­ru­hi­gen Schlaf.

 

Er er­wach­te mit san­di­gen Au­gen und aus­ge­dörr­ter Keh­le. Aber mehr als nach Was­ser oder Ru­he ver­lang­te es ihn nach Jo­a­ne. Er muß­te re­den über das, was jetzt kom­men wür­de. Er wür­de es Fain sa­gen müs­sen. Wahr­schein­lich wür­den sie Ka­lic ver­las­sen müs­sen, er und Jo­a­ne. Ganz ge­wiß wür­de sie nicht mehr bei Kish blei­ben kön­nen – sie hat­ten nichts mit­ein­an­der ge­mein. Sie wür­den auf dem Lan­de Schutz su­chen. Ein ganz neu­es Le­ben muß­te be­gin­nen.

Er stol­per­te zur Kü­che hin­un­ter, und sei­ne Dou­bluth-Ge­wän­der ver­fin­gen sich an den Wän­den der Kor­ri­do­re. Jo­a­ne war nicht da. Kish war da­mit be­schäf­tigt, Ge­mü­se zu put­zen. Er sah auf, nick­te und wid­me­te sich wie­der sei­ner Ar­beit. Of­fen­sicht­lich woll­te er sich nicht un­ter­hal­ten.

Skal­lon wan­der­te durch die un­te­ren Räu­me des Ho­tels und such­te nach Jo­a­ne. Das Ho­tel war wie aus­ge­stor­ben. Drau­ßen in der Ma­ra­ban La­ne wim­mel­te und lärm­te der Ver­kehr. Men­schen has­te­ten ziel­los hin und her, sie schlepp­ten Ta­schen und Pa­ke­te, und ih­re Ge­sich­ter wa­ren ge­spannt und Feind­se­lig. Ei­ne vor­über­zie­hen­de Grup­pe von Frau­en be­gann einen hoff­nungs­vol­len Ge­sang, aber schon bald ge­rie­ten sie aus dem Takt, und der Ge­sang ver­si­cker­te. Der von vie­len Fü­ßen auf­ge­wir­bel­te Staub hing schwer in der Luft.

Skal­lon wand­te sich von den be­schla­ge­nen Fens­tern ab. Al­so gut, er wür­de zu Fain ge­hen. Er muß­te sich die­sem Au­gen­blick stel­len.

Auf sein Klop­fen folg­te ei­ne Pau­se, ein Schwei­gen, das von in­nen her­aus­drang. Plötz­lich wur­de die Tür auf­ge­ris­sen. Fain stand seit­lich da­hin­ter, den Rücken ge­gen die Wand ge­preßt und den Hit­ze­strah­ler auf die Tür­öff­nung ge­rich­tet.

Skal­lon run­zel­te die Stirn. „Was machst …“

Dann sah er die Ge­stalt auf dem Bett.

Jo­a­ne.

Et­was Brau­nes rann über ih­re Schen­kel und drang durch den Stoff ih­res Klei­des.

Die Au­gen ver­dreht, weiß.

Ein qual­men­des Loch in ih­rem Bauch, das sich jetzt lang­sam mit Rot füll­te.

Höl­zern dreh­te Skal­lon sich um. „Du …“

Er schlug nach Fain. Mit der Hand­kan­te hieb er nach dem Arm, der die Waf­fe hielt. Fain wand­te sich um. Der Schlag ging ins Lee­re, und Skal­lon ver­lor das Gleich­ge­wicht. Er tau­mel­te ge­gen die Wand, stieß sich ab und zog das Knie hoch, um nach Fain zu tre­ten. Fain wich tän­zelnd zu­rück.

„Du … Mör­der … wahn­sin­nig …“ stieß Skal­lon mit-zu­sam­men­ge­bis­se­nen Zäh­nen her­vor. Er fand sein Gleich­ge­wicht wie­der und such­te nach ei­ner Öff­nung in Fains De­ckung.

Er warf sich vor­wärts. Fain trat bei­sei­te. Skal­lon stol­per­te über Fains aus­ge­streck­ten Stie­fel, und Fain schlug ihn sau­ber auf den Hin­ter­kopf. Skal­lon stürz­te zu Bo­den, und die Welt wur­de dun­kel, dun­kel und ge­spren­kelt mit sum­men­den wei­ßen Fle­cken. „Warum … ich …“, be­gann er.

„Ich ha­be nicht Jo­a­ne ge­tö­tet“, sag­te Fain keu­chend. „Das ist der Än­de­rung.“