3
Er erwachte rasch unter dem Autostim. Noch während sein Anzug starb, hatte er ihm Injektionen gegeben, um die Erschütterung und den Schock zu mildern. Die Gyros stabilisierten seinen Sturz. Auf der linken Seite funktionierten die Stoßdämpfer noch, und das hatte gereicht; er war nur hundert Meter tief gefallen.
Skallon war da. Fain wälzte sich benommen herum. Sein Training machte sich bemerkbar. Er wand sich aus den Resten seines Anzugs. Flüssigkeiten sickerten hervor, und der Anzug summte und klickte – er war noch immer nicht ganz tot. Ein Funke blitzte auf. Die Arme zuckten. Der Hydrastahl hatte seinen Glanz verloren, er war zernarbt und dunkel. Ein Strahl hatte ihn genau ins Kreuz getroffen und die Panzerung durchschlagen.
Fain tastete nach seinem Strahlungsmeßgerät. Kein Röntgen-Überschuß: Gut. Leichte Beta- und Alphastrahlung, aber nichts Ernstes. Vielleicht würde er Fieber bekommen, aber mehr nicht. Er hatte verdammtes Glück gehabt.
„Es waren zwei“, erklärte Skallon. Fain runzelte die Stirn. „Einer muß gewartet haben, bis du herauskamst. Dann stieg er über den Horizont herauf und …“
„Ja. Diese Brüder spaßen nicht.“
„Es ist alveanisches Militär. Ich habe einen von ihnen aus dem Wrack des ersten Hubschraubers herausgezogen.“
„Ich will ihn sehen.“ Langsam kehrte Fains Energie zurück. Zum Teil bewirkten das die Drogen, aber der Rest kam von ihm selbst.
Skallon trug ihn zu dem zerschmetterten Hubschrauber. Da der Granatwerfer fast leer und die Lenkraketen abgefeuert waren, konnte der Anzug das Gewicht eines zweiten Mannes tragen. Allerdings gingen Skallons Energiereserven allmählich zur Neige.
Der Alveaner war ziemlich schwer verletzt. Seine Augen waren glasig. „Hast du ihm Drogen gegeben?“ fragte Fain matt.
„Nein. Ich habe das Vertil benutzt. Ich habe ihn nur damit angehaucht, so wie sie es uns gesagt haben. Hat ungefähr eine Minute gedauert. Er hat es absorbiert, und jetzt tut er alles, was wir ihm sagen.“
„Gut. Sag ihm, er soll uns die Wahrheit sagen.“
Skallon wandte sich dem großen Alveaner zu, der mit verbrannter und zerfetzter Uniform im trockenen Staub lag. „Wer hat euch gesagt, daß ihr herkommen sollt? Und warum?“
Der Alveaner klappte langsam die Augen auf und zu. „Gen … General Nokavo. Hat es befohlen. Warum …“ Sein Gesicht wurde ausdruckslos.
Skallon formulierte seine Frage anders. „Was solltet ihr tun?“
„Gen … sagt … angreifen … jeden hier …“
„Woher kommt ihr? Von welcher Basis?“
„Araquavaktil.“
„Wo liegt das?“
Der Alveaner beschrieb den Weg. Skallon nickte und prägte sich die Anweisungen ein. Plötzlich zitterte der Alveaner, hustete rasselnd und wurde schlaff.
Skallon legte eine Sonde an Schläfen, Arme und Beine. „Er ist wohl tot.“
Fain halte auf der Erde gesessen. Mühsam stand er auf. „Soweit ist der Änderung also schon gekommen. Wir sollten uns auf den Weg machen.“
Skallon wirkte überrascht. „Wohin?“
„Nach Kalic. Aber vorher sollten wir diese Basis überprüfen. Berichtigung: Ich sollte diese Basis überprüfen.“
„Wieso nur du?“
„Aller Wahrscheinlichkeit nach ist dort niemand. Ein Änderung bewegt sich immer sehr rasch – das hat irgend etwas mit deren Philosophie zu tun. Es ist also jetzt wahrscheinlich auf dem Weg nach Kalic. Du bist der Experte für Alvea – du solltest also nach Kalic gehen und dich um unsere Kontaktstelle kümmern.“
Skallon stapfte nervös auf und ab. Seine schweren Stiefel schnitten in den weichen Boden. Die gleitenden Keramikplatten an seinen Armen und Beinen scharrten und klickten in der drückenden Stille der undurchdringlichen grünen Welt, die sie umgab.
„Das klingt wohl vernünftig. Aber du bist immer noch benommen. Ich …“
„Wir werden Material brauchen. Du gehst zum Modul zurück und holst das Zeug. Vergiß meine Ausrüstung nicht. Und bring Scorpio mit.“
„Er wird uns nichts nützen, wenn wir offen operieren müssen. Ich habe dir gesagt, es gibt keine Hunde hier. Die Alveaner werden Scorpio sofort entdecken und genau wissen, was los ist. Du kannst nicht …“
„Richtig, das weiß ich alles. Deshalb nimmst du ihn mit. Nach Kalic. Wir werden ihn später brauchen.“
„Ich? Na hör mal, er ist dein …“
„Nein, unser. Unser Hund, zumindest theoretisch. Er gehört zum Team.“
Skallon knurrte hinter dem Horizont seines Helms. „Okay, okay. Aber dann muß ich mir einen Weg ausdenken, wie ich ihn nach Kalic hineinschmuggeln kann. Diesen Anzug werde ich loswerden, sobald wir uns einer Stadt nähern. Wir müssen in Deckung bleiben. Das heißt, wir brauchen deine Verkleidung, Fain.“
Fain seufzte. „Ja. Sicher.“
„Kommst du zurecht, solange ich weg bin?“
„Setz mich irgendwo ein paar Kilometer weiter ab. Laß mir einen Hitzestrahler da. Und ruf Mutter. Sie soll das Gebiet überwachen. Wenn sie Flugzeuge sieht – verbrennen. Nicht erst fragen. Gleich drauf.“
„Das kannst du nicht machen. Wir haben nicht den Befehl, einfach …“
„Das ist Selbstverteidigung. Da sind doch mehr als zwei Hubschrauber in dieser Basis.“
„Das gefallt mir nicht.“
„Ich habe nicht gesagt, daß es dir gefallen soll. Und auf dem Weg zum Modul bleibst du unten. Geh durch den Dschungel, nicht darüber hinweg.“
Klappernd schritt Skallon auf und ab. „Ich weiß nicht … Es gibt so vieles, was ein Änderung tun könnte. Ich meine …“
„Ich weiß, wie sie denken“, sagte Fain grob. „Überlaß das mir.“
„Aber ist es nicht genau das? Sie haben kein vernünftiges Schema. Intelligent, ja. Aber sie sind keine Planer, keine …“
„Machen wir, daß wir fortkommen“, sagte Fain verärgert.
Fain lag stundenlang in einer kühlen Lichtung und wartete, bis Skallon vom Modul zurückkäme. Er ließ den dumpfen Schmerz in sich hineinsickern und entspannte seine Muskeln mit Bioreg-Techniken, die er schon vor Jahrzehnten gelernt hatte. Seine Gedanken huschten umher, und nervös zerpflückten und überflogen sie noch einmal, was geschehen war. Er mußte ihnen Zeit geben, diese hektische Energie abzubauen.
Er spürte die knotig verspannten Muskeln, dort, wo sich die unvermeidlichen Auswirkungen des Schocks zeigten, und er erkannte, daß dieser Treffer ihn nachhaltiger erschüttert hatte, als er es hätte tun dürfen. Auf irgendeine Weise war der Mittelpunkt seiner Gefühle mit dieser Mission eng verknüpft, und als er so im Dschungel lag, durchströmten ihn abgründige und beunruhigende Bilder, und die dunkle, unbestimmbare Ahnung von unbekannten Dingen stieg wirbelnd in ihm auf.
Dieser Änderung bedeutete mehr. Fain hatte ihn schon einmal gefangen, auf Revolium. Dann hatten die verdammten Ingenieure es jahrelang studiert und mit ihm herumexperimentiert, und dann hatten sie davon geredet, eine Methode zu suchen, wie man das genetische Material der Änderlinge umformen könnte. Das war die Langzeitstrategie des Konsortiums: die Trennung von rechter und linker Hirnhälfte, deren Fehlen die Form der Änderlinge ermöglichte, wiederherzustellen und die komplexe Biomechanik zu entfernen, die die Änderlinge befähigte, sich nach Belieben umzugestalten. Sie also wieder humanoid zu machen. Oder besser gesagt: die nächste Generation von Änderungen wieder an menschliche Normen anzupassen. Die jetzt lebenden Änderlinge waren natürlich nicht mehr in den Griff zu bekommen. Sie waren und blieben vom Menschen selbst geschaffene Aliens.
Und so hatten die Ingenieure herumgetüftelt und versucht, mit den gefangenen Änderungen zu kommunizieren, und schon nach kurzer Zeit hatte sich unter den Änderungen herumgesprochen, was die Ingenieure mit ihrem genetischen Material planten – und die Änderlinge flohen. Die meisten von ihnen überlebten ihren Fluchtversuch nicht. Aber einige schon. Und dieses hier, das gerissenste von allen, hatte sogar die Erde hinter sich lassen können.
Fain begann mit einem methodischen Murmeln tief unten in seiner Kehle, das ihn in Hypnose versetzen würde. Er wollte Schmerz, Unruhe und diese schlichte, zermürbende Furcht aussperren. Er wollte sich von all dem befreien und sich ausschließlich an Fakten halten. Fakten, Ereignisse, Motive. Harte Daten. Die Welt bestand aus Ketten und Schleifen von harten Daten. Der Moschusdunst aus dem duftenden Dschungel drang in seine Nase und Fain ließ seine Gedanken wandern. Fakten … es gab so viele, und jedes konnte sich verändern, während man es noch betrachtete … aber dennoch … Wenn man sich an sie hielt, würden sie einen ans Ziel bringen. Das war es, was er dem Änderung voraushatte. Fakten. Über diesen Planeten zum Beispiel. Fakten …
Alvea folgte einem leicht elliptischen Orbit um einen F6-Stern in einer Entfernung von 1,68 Astronomischen Einheiten. Es war Spätsommer, erinnerte sich Fain träumend, während er mit seinem inneren Singsang begann. Die Eingeborenen kamen zu irgendeinem Fest zusammen. Die Tag- und Nachtgleiche des Frühlings, das war es. Alvea brauchte mehr als zwei E-Jahre Für eine Umkreisung, und deswegen hatte das Fest hier mehr Gewicht als in den älteren Gesellschaftsformen der Erde, nach denen man Alvea teilweise modelliert hatte.
Fain zog eine Augenbraue hoch. Auch das war so ein Mist, der sie daran hindern würde, den Änderung zu finden. Andererseits, vielleicht machte es die Sache ja auch interessanter …
Skallon trug ihn huckepack und festgeschnallt zwanzig Kilometer weit. Fain verharrte absichtlich in diesem Zustand der inneren Ausgeglichenheit, kaum bei Bewußtsein, während der schaukelnde, ruckende, scheppernde Rhythmus des Anzugs sie durch den ausgedehnten, schier undurchdringlichen Wald trug. Schlangenhafte Schlingpflanzen griffen nach ihm und Scorpio, als sie sie streiften. Er hatte ganz vergessen, wieviel Lärm so ein Anzug machte. Wenn man drinsteckte, war man von dem Klappern und Klirren isoliert. Es war ein Wunder, daß die externen Akustiksensoren überhaupt funktionierten.
In einem verfilzten Gestrüpp von purpurfarbenen Büschen hielt Skallon an. Fain ließ sich langsam aus dem Hyposchlaf aufsteigen. Mit steifen Gliedern befolgte er Skallons Instruktionen beim Anlegen der alveanischen Verkleidung; es waren unförmige, heiße, stickige Kleidungsstücke. Sie aßen ein wenig von ihren Rationen und besprachen ihre Strategie.
Fain streichelte Scorpio. Er erklärte ihm, was geschehen war und was der Hund tun sollte. Zuerst wollte Scorpio nicht mit Skallon gehen. Fain beruhigte ihn.
„Du kennst diesen Hund ziemlich gut“, bemerkte Skallon.
„Ja.“ Fain streichelte immer noch den Hund.
„Hast du viel mit ihm trainiert?“
„Wir haben schon früher zusammen gearbeitet. Und vor dem Start von der Erde waren wir noch einmal im Training.“
„Hattest du Zeit, dir ein paar Demos über Alvea anzusehen?“
„Was?“
„Ich meine, über die Kultur, über die …“
„Ich weiß genug.“
„Was ist mit Gommerset?“
„Womit?“
„Du weißt doch – die Experimente, die er gemacht hat, die Daten über Unsterblichkeit und den Kult, der …“
„Was soll das? Worauf willst du hinaus?“ Fain sprach schnell und wütend.
Skallon blinzelte. Einen Moment lang fand er keine Worte. „Na, ich meine einfach, Gommerset war der Grund, weshalb die Leute überhaupt hierherkamen und …“
„Oh. Okay. Ich verstehe. Ich … ich dachte, du veranstaltest so ein gottverdammtes Quiz mit mir, wie die Ingenieure auf der Erde das immer tun.“
„Nein, ich wollte wirklich nicht …“ Skallon redete weiter über gar nichts und Fain hörte auf, zuzuhören. Sanft streichelte er Scorpio. Er ließ den plötzlichen Ausbruch seiner Nervosität durch die Fingerspitzen absichern. Scorpio nahm einen Teil der Anspannung auf, doch dann entspannte er sich wieder. Er hechelte leise.
Skallon legte den dicken Anzug aus Metall und Keramik ab. Sie versteckten ihn im Gehölz, zusammen mit einem Richtmikrophon, damit sie ihn später wiederfänden. Skallon schien froh zu sein, aus dem Anzug herauszukommen. Er lief emsig umher und verstaute Gerätschaften unter seinen alveanischen Gewändern. Die schweren Tuchfalten schlotterten um seine Knöchel.
Dann spähte er konzentriert auf den Monitor, den Fain in der Hand hielt, und lauschte aufmerksam, während Fain die Route für jeden von ihnen darlegte. Die Raster von Mutter veränderten sich, während sie sie betrachteten; es wurde allmählich Nachmittag auf Alvea. Skallon konnte rasch und leicht Informationen aufnehmen, stellte Fain fest. Das war beruhigend.
Mit Hilfe von Mutters detaillierten Bildern des Dschungels, der sie umgab, machten sie die besten Wege ausfindig. Ein blauer Punkt beschrieb geduldig diejenige Route, die nach Mutters Kalkulation am ungefährlichsten war.
Skallon hielt am Ende seiner eigenen Strecke inne. „Na dann … sehen wir uns also in Kalic“, schloß er lahm.
„Richtig.“ Fain winkte zu Scorpio hinüber. „Bleib mit der Nase im Wind.“
„Das. Mein. Job“, sagte der Hund mit eintöniger Stimme.
Fain nickte befriedigt. Er fühlte sich ausgeruht. Der Hund war in Ordnung. Bei Skallon war er da nicht so sicher, aber im Augenblick konnte man nichts tun. Mit Scorpio kam er zurecht, weil es ein Band zwischen ihnen gab. Die Vergangenheit, ja, und noch etwas mehr. Nicht gerade wirkliches Verstehen, eher die Befriedigung, Jobs gemeinsam und gut ausgeführt zu haben. Man konnte nicht sagen, daß Fain Neohunde verstand. Sie waren sonderbare Geschöpfe, das erste Produkt der genetischen Manipulationen. Sie hatten Neurosen und Probleme und eine Menge von dem Ballast, den auch Menschen in ihren Köpfen mit sich herumtrugen. Aber er hatte großen Respekt vor ihnen. Gewöhnliche Tiere waren etwas völlig anderes, etwas, so argwöhnte er, was der Mensch niemals gänzlich würde verstehen können. Deshalb weigerte er sich immer, die hohen Beamten des Konsortiums zu begleiten, die wußten, woraus seine Arbeit bestand, und ihn zur Jagd in den Privatrevieren der Gesellschaft einluden. Fain wußte nicht, wie Tiere dachten, und so tötete er sie auch nicht. Menschen allerdings, die verstand er.