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„Schwenke um achtzig Grad Uhrzeigersinn“, rief Fain. Er landete schwer auf dem Boden, und sein Anzug übernahm den Rest. Er schoß dreißig Meter hoch hinauf. Seine Gyros hielten ihn stabil, so daß er das vor ihm liegende Gelände überschauen konnte, und gleichzeitig kontrollierte er die Tiefensensoren und suchte nach Phantombildern oder austretender Strahlung aus einem Antriebsaggregat. Unter ihm jagte der alveanische Wald dahin. Schlingpflanzen und Blattwedel verhüllten das Dickicht, aber er konnte einige Pfade erkennen. Auf ihnen bewegte sich nichts. Die Sensoren zeigten nichts an.
„Spring wieder!“ schrie Skallon.
„Was? Himmel, brüll doch nicht so. Ich kann dich gut hören.“ Skallon wurde allmählich aufgeregt. Das war nicht gut. Wenn er in seinem Raketenanzug die Übersicht verlöre, würde er anfangen, große, dumme Fehler zu machen.
Fain sah, wie Skallon fünfzehn Kilometer entfernt aus dem Wald emporschoß. Der glänzende Anzug war leicht zu erkennen, auch ohne die pulsierende rote Beschichtung auf der Innenseite von Fains Sichtscheibe. Skallon sprang einen Hügel hinauf; leichthin überwand er die felsigen Vorsprünge. Er glitt über den Gipfel und setzte nur einmal auf, um den Achtzig-Grad-Schwenk zu vollziehen. Dann sank er auf der anderen Seite herunter und der Wald verschluckte ihn. Fain mußte zugeben, daß der Junge das Gerät beherrschte. Es vernünftig zu beherrschen war eine andere Sache.
„Wir fangen nichts auf“, sagte Fain.
„Vielleicht war das Suchraster falsch. Wenn er …“
„Nein, er ist hier in der Gegend. Die Kapsel muß auch abgeschirmt sein, sonst würden wir irgend etwas auffangen.“
„Wieso denkst du, daß wir auch nur nahe dran sind? Ich glaube nicht …“
„Es paßt ins Änderling-Profil. Wir müssen ihn wohl aufrütteln.“
„Wie denn?“
„Paß auf.“ Fain schaltete seinen Granatwerfer auf Automatikbetrieb. Er setzte auf, und der Anzug trieb ihn wieder aufwärts und im Bogen über ein hohes Gehölz hinweg. Tiere stoben in alle Himmelsrichtungen davon. Seine akustischen Verstärker übertrugen ihre hastige Flucht. Auf dem Scheitelpunkt seines Flugbogens feuerte der Granatwerfer zwei Geschosse zur Seite. Dann war er wieder unten, in der relativen Sicherheit des Waldes. Er brauchte zwei Sekunden, um den neuen Input der Sensoren zu analysieren: nichts. Dann schlugen die Geschosse ein. Das zweifache Krump dröhnte schwer durch die stille Luft.
„Was soll das?“ schrie Skallon. „Was war da drin?“
„Medium-HEs.“ Fain überwand hastig und keuchend ein Felsengrat.
„Irgendein bestimmtes Ziel im Sinn?“
„Nein. Klapp deinen Gesichtsschild runter.“ Fain sprang in einen Graben.
„Der ist schon längst unten. Du brauchst mich nicht dauernd zu kontrollieren. Ich möchte nur gern wissen, wer dir gesagt hat, daß du ziellos in der Gegend herumschießen kannst? Vielleicht triffst du dabei ein paar Eingeborene. Und wir sind jetzt auf Alvea, erinnerst du dich? Was ich hier zu sagen habe, ist nicht ganz unwesentlich.“
„Fängst du irgend etwas auf?“
„Nein, nichts. Hör mal, wir sind Partner, und bevor du so etwas noch einmal machst …“
„Jemand muß das Feuer auf sich ziehen. Willst du das tun?“
„Ehrlich gesagt, nein. Und es hat auch nicht funktioniert. Du kannst nicht …“
Ein grellgelber Blitz. Ein Donnern.
Steine prasselten gegen Fains Panzerung. Er stürzte zu Boden, und ein gelbglühender Blitz fuhr in die Flanke des Hügels über ihm.
„Jesus! Alles in Ordnung, Fain? Ja, ich sehe, daß deine Anzug-Parameter noch normal sind. Wo kam das her?“
„Halt die Klappe.“ Fain lag mit dem Gesicht nach unten in einer Schlammpfütze und studierte das Display des Sensor-Empfängers, das über seine Sichtscheibe zog. Es war unnötig, sich zu rühren, bevor er sämtliche Ergebnisse hatte. Das Sperrfeuer des Änderlings war äußerst raffiniert gewesen. Er hatte gerade lange genug gewartet, um ihn in Sichtweite kommen zu lassen – zumindest fand Fain diese Vermutung am naheliegendsten. Aber Sichtweite von woher? Er betrachtete die Konturenkarte. Er rief die Wahrscheinlichkeitsverteilung für den Ausgangspunkt des Sperrfeuers ab. Sie erschien in Form von gewundenen Linien auf den Hügeln der Karte. Blau, rosa, rot. Drei rote Flecken lagen in demselben Azimutalbereich. Von jedem dieser Flecke aus führte eine gute Sichtlinie zu ihm her, falls der Änderung durch die schmalen Canons schaute, die er auf der Konturenkarte sehen konnte. Über den Funkstrahl schickte er eine Anfrage zur Mutter hinauf. Sie antwortete nach drei Sekunden mit weiteren Analysen. Er gab ihr zusätzlich die Hypothese zu bedenken, daß der Änderung wahrscheinlich versuchen würde, Kalic zu erreichen. Die neuberechneten Wahrscheinlichkeiten eliminierten eine der drei roten Hochwahrscheinlichkeitszonen.
Fain runzelte die Stirn. Mehr würde er nicht herausbekommen, ohne etwas zu unternehmen.
„Skallon?“
„Ja? Es scheint alles ruhig zu sein. Ich …“
„Hast du Niederfluggranaten? Schieß eine in Baumwipfelhöhe ab, auf maximale Entfernung.“
„Verstanden. Da geht sie hin.“
Fain sah den Abschuß auf seinem Display: grüne Doppier. Er war auf den Beinen und jagte mit voller Kraft voran, ehe die Granate noch hundert Meter zurückgelegt hatte. In Sekundenschnelle war er durch den Graben. Ein Bündel von Schlingpflanzen versperrte ihm den Weg. Er ging mitten hindurch und durchtrennte sie mit dem Kapplaser. Für zwei Sekunden schaltete er sich in Mutters Funkstrahl, aber die Situation war unverändert. Er feuerte seinen Granatwerfer ab. Die Hochexplosivgeschosse zischten heraus. Fain warf sich unter einen überhängenden Felsen und krümmte sich zusammen. Diesmal würde der Änderung nicht abwarten, denn diesmal hatte es keinen Sinn. Aber Skallons Granaten komplizierten das Problem vielleicht weit genug, um sein Urteilsvermögen zu behindern.
Fünfzig Meter entfernt wurde der Felsen aufgerissen. Feuer brodelte aus der Wand. Steine klapperten auf seinen gepanzerten Rücken, aber das war alles.
„Skallon.“
„Er hat auf uns beide geschossen. Aber nicht aus der Nähe.“
„Ich rufe Mutter herein.“
„Ist mir recht.“
Fain blinzelte auf die Wahrscheinlichkeitsmatrix, die auf seiner Sichtscheibe schwamm. Nur noch ein einziger roter Fleck. Das hieß zwar nicht, daß sie den Änderung aufgespürt hatten, aber die geschätzte Wahrscheinlichkeit lag bei dreiundachtzig Prozent. Gut. Gut genug jedenfalls.
Fain forderte einen Schuß von Mutter an. Er halte gerade genug Zeit, um sich aufzusetzen und den Gesichtsschild zurückzuklappen. Der schmale Elektronenstrahl schnitt durch den wolkenverhangenen Himmel wie ein blau-weißer Kratzer. Er hinterließ ein leuchtendes Bild auf der Netzhaut und war nach einer Mikrosekunde schon wieder verschwunden. Erst eine ganze Sekunde später registrierten seine Infrarotsensoren den sich ausbreitenden, erhitzten Bereich. Das akustische Rumpeln folgte sieben Sekunden danach, als Fain schon über den Felsengrat hinwegglitt und mit höchster Geschwindigkeit auf das Zielgebiet zuraste.
Skallon erschien als pfeifendes Fünkchen auf seiner Sichtscheibe. Der Granatwerfer feuerte: Tschilp. Tschugg. Tschugg. Auf dem Scheitelpunkt seines fünften Sprunges bedeckte Fain das Zielgebiet mit einem Lähmungsstrahl. Die Sichtweite betrug sieben Kilometer. Nichts wies auf einen Energie- oder UV-Überschuß hin. Im Infrarotbereich …
Da war es. Hitzestrahlung.
„Ich habe es bei null fünf acht auf zwo sieben sieben“, bellte Fain. „Abstrahlung in Infrarot. Keine elektromagnetische Registrierung.“ Skallon bestätigte kurz. „Geben wir ihm Zunder.“
Die Hochexplosivgeschosse aus den beiden Granatwerfern rissen große Breschen in den Wald rings um das Ziel. Fain überblickte das Gebiet, das er beschossen hatte, aber er entdeckte nichts Auffälliges. Er stieß sich ab und sprang über einen Hügel, um maximale Deckung zu finden. Der e-Strahl sollte eigentlich das gesamte Bordverteidigungssystem ausgeschaltet haben, aber das war Theorie. Seinen Kopf würde er jedenfalls nicht darauf verwetten.
Fain sicherte seine Flanken. Skallon war fünf Sekunden hinter ihm zu seiner Rechten. Im Vorwärtssprung durchschnitt er Bäume, Schlingpflanzen und Gestrüpp, das ihm den Weg versperrte. Vor ihnen flog ein großer Klumpen Erde mit einem Knall auseinander – das letzte der HEs.
Die Luft war schwer vom Staub. Als Deckung leistete das gute Dienste. Fain schwenkte nach links. Plötzlich teilte sich die Vegetation. Mit mehr als hundert Kilometern pro Stunde jagte er auf die Kapsel zu. Reflexartig badete er sie in Flammen. Dann raste er dagegen – ein Versuch auszuweichen, wäre sinnlos gewesen. Seine Panzerung dröhnte, und ein Schott zersplitterte. Fain stolperte in das verwüstete Cockpit. Das ehemals glänzende Metall und Plastaform war schwarz und braun von Kabelbränden. Der e-Strahl hatte alles verschmoren lassen.
Fain schwenkte zum Pilotensitz, die Hand zum Angriff erhoben.
Der Sitz war leer.
Als er sich rückwärts ins Freie schob, landete Skallon knirschend auf der verbrannten Lichtung. Mit einer Handbewegung gebot Fain ihm zu schweigen. Er wies auf den Pilotensitz. „Die Frage ist: Wie lange ist er schon weg?“
„Eine halbe Stunde vielleicht, aber höchstens.“ Skallon schnaufte.
„Wir werden ihn suchen müssen.“
„Hat er einen Anzug?“
Fain durchsuchte die qualmende Kapsel. „Nein. Da ist keine Halterung für einen Anzug.“
„Das würde mit der Inventarliste für sein Schiff übereinstimmen.“
„Ja. Aber hier ist Platz für einen Gleiter. Vielleicht halte er einen an Bord.“
„In dem Fall ist er längst weg.“
„Ja. Scheiße.“
„Aber vielleicht hatte er ja auch keinen“, sagte Skallon strahlend. „Gehen wir suchen.“
Fain wußte, daß Skallon im Prinzip recht hatte, aber er glaubte nicht, daß ihre Chancen groß waren. Der Änderung war wahrscheinlich schon dreißig Flugminuten weit entfernt. Das hieß, daß es keinen leichten Job und keine schnelle Rückreise geben würde. Und die ganze Zeil über hatte er überhaupt nicht gegen den Änderung gekämpft. Fain hatte wertvolle Minuten damit vergeudet, gegen ein Computer-Verteidigungsprogramm zu arbeiten. Gegen ein gutes, zugegeben – aber nichts, was ein gewöhnlicher Agent nicht austricksen konnte. Ein scheußlicher Gedanke.
„Okay“, sagte er.
Sie kämmten die Gegend jetzt seit vierzig Minuten durch. Fain hatte allmählich genug davon. Der verfluchte Änderung konnte überall in diesem undurchdringlichen Wald stecken. Es war unwahrscheinlich, daß sie ihn hier finden würden. Er war im Begriff, Skallon zu rufen, als er plötzlich einen akustischen Warnton hörte.
Es war ein knatterndes Geräusch. Es wurde immer stärker, während er die Situationsübersicht auf seiner Sichtscheibe überflog. Ein einzelner Punkt, der sich auf die Kapsel des Änderlings zubewegte. Ob er zurückkam? Verdammt unwahrscheinlich. Fain sprang über das Blätterdach und sah es. „Skallon! Was ist …“
„Alveanischer Militärhubschrauber. Will wahrscheinlich nachsehen, was los ist. Nicht auf ihn schießen.“
Fain begann sich darauf zuzubewegen. Für ihn war nichts sicher, bevor er es nicht genau betrachtet hatte. Er legte drei Kilometer zurück, knapp oberhalb der Baumwipfel dahingleitend.
Aber bei seinem fünften Sprung schoß man vom Hubschrauber aus auf ihn.
Fain geriet ins Taumeln und zündete die Retros. Sie loderten an seinen Rippen entlang und trieben ihn in den Wald hinunter. Er landete auf den Füßen und sprang sogleich seitwärts davon. Das Grün hinter ihm explodierte in einer wirbelnden Wolke von Splittern. Fain durchtrennte einen verknoteten Klumpen von Schlingpflanzen und jagte mit voller Kraft hindurch. Vor ihm verkohlte ein Baum im Feuer eines Hitzestrahlers. Er schwenkte nach links.
„Jetzt hab’ ich sie“, kam es von Skallon.
War auch Zeit, dachte Fain.
Ein hohler Knall. Am Himmel zersplitterte etwas.
„Getroffen!“
Fain verlangsamte sein Tempo. Noch ein paar Sekunden, und er hätte selbst versucht zu schießen, aber es war besser, das Skallon zu überlassen. Vielleicht würde der Bursche sich beruhigen, wenn er erst ein bißchen action gesehen hätte.
Fain sprang weit in die Höhe, um sich umzusehen. Wo der Hubschrauber gewesen war, hing nur noch eine Rauchwolke.
„Gute Arbeit“, sagte Fain, und dann explodierte die Rückseite seines Anzugs.