11

 

Als sie drau­ßen auf dem wei­ten Vor­platz stan­den, klopf­te Skal­lons Herz so hef­tig, daß er spür­te, wie es mit sei­nem ei­ge­nen Rhyth­mus das Sin­gen und Trom­meln der Pro­zes­sio­nen im Hin­ter­grund über­tön­te. Rings­um­her wim­mel­te es von Al­vea­nern. Skal­lon such­te die Men­ge ab, und er schmeck­te ih­re schwit­zen­de, stin­ken­de Eu­pho­rie.

„Siehst du ihn?“

„Nein“, er­wi­der­te Fain. „Ver­flucht, er hat ja auch ei­ne Ewig­keit Zeit ge­habt, um zu ver­schwin­den.“

„Wo steckt Da­non?“

„Den se­he ich auch nicht. Es ist gut mög­lich …“

„Da! Dort oben auf der Zin­ne. Das ist Da­non.“

Fain kniff die Au­gen zu­sam­men. „Ja, da ist der Ben­gel. Er winkt.“

„Schlau von ihm. Er ist hin­auf­ge­klet­tert, um von oben in die Men­ge se­hen zu kön­nen. Er zeigt uns et­was.“

„Das ist un­se­re Rich­tung. Los!“ Fain be­gann, durch die sich drän­gen­de Men­ge der Al­vea­ner zu tra­ben.

„Ich kom­me schon.“

Die nächs­ten zehn Mi­nu­ten wa­ren vol­ler Hek­tik. Sie tra­fen Da­non am Fu­ße der mas­si­ven Be­fes­ti­gungs­mau­er. Er führ­te sie in ei­ne über­völ­ker­te Gas­se, einen der ka­no­ni­schen Durch­gän­ge für die Aus­er­wähl­ten der Ho­hen Kas­ten. Bis die Kas­ten­an­ge­hö­ri­gen zu ih­ren Be­ra­tun­gen zu­rück­kehr­ten, dienten die­se Gas­sen öf­fent­li­chen An­dachts­ver­samm­lun­gen. Sie rann­ten, so schnell sie konn­ten, durch die wo­gen­den Mas­sen der Be­ten­den. Hin und wie­der er­hasch­ten sie einen Blick auf den flie­hen­den Mann vor ih­nen. Mit flat­tern­dem Ge­wand dräng­te er sich schnell und ge­schickt durch die Men­ge. Die At­mo­sphä­re war fie­ber­haft, und al­le drei wa­ren wie Jagd­hun­de auf der Fähr­te ih­rer Beu­te. Wenn sie an ei­ne Kreu­zung ka­men, trenn­ten sie sich, und je­der von ih­nen folg­te ei­ner der wei­ter­füh­ren­den Stra­ßen. Mit ih­ren Arm­ban­dra­di­os hiel­ten sie die Ver­bin­dung un­ter­ein­an­der. Nach ei­ner kur­z­en Weg­stre­cke hat­te ei­ner von ih­nen den Flüch­ten­den ge­fun­den, und die bei­den an­de­ren, die der falschen Stra­ße ge­folgt wa­ren, be­eil­ten sich, wie­der zu ihm zu sto­ßen. Mit die­ser ef­fek­ti­ven Me­tho­de blie­ben sie dem Mann auf den Fer­sen. Da­non, der die dia­go­na­len Ab­kür­zun­gen in der Stadt kann­te, ging nicht sel­ten in Füh­rung.

Der Mann nahm jetzt sei­nen Weg durch en­ge Gas­sen; of­fen­bar wuß­te er, daß er ver­folgt wur­de. Das Ge­drän­ge lich­te­te sich. Er rann­te schnel­ler. Skal­lons Atem ging keu­chend, als er un­ter sei­nen schwe­ren Dou­bluth-Ge­wän­dern vor­wärts has­te­te.

Un­ver­hofft ver­schwand der Mann in ei­nem klo­bi­gen, mehr­stö­cki­gen Ge­bäu­de aus grau­em Stein und Holz. Im sel­ben Au­gen­blick stampf­te Fain an Skal­lon vor­über und rief Da­non zu: „Hin­ten her­um!“, be­vor er den Vor­der­ein­gang er­reich­te, durch den der Mann einen Mo­ment zu­vor her­ein­ge­rannt war.

Fain wink­te Skal­lon, die Sei­ten­front zu über­neh­men. Hier war die Jagd zu En­de, denn der Mann er­schi­en nicht wie­der, und Fain woll­te kei­nen Aus­gang un­be­wacht las­sen, so daß ei­ner von ih­nen ins In­ne­re des Hau­ses fol­gen konn­te. Skal­lon war­te­te ver­steckt we­ni­ge Schrit­te von dem klei­nen Sei­ten­ein­gang ent­fernt, und sei­ne Mus­keln zuck­ten wie von selbst.

Nach we­ni­gen Au­gen­bli­cken tauch­te Fain wie­der auf. Bei ihm war ein Al­vea­ner mit ei­nem Hand­wa­gen. Skal­lon run­zel­te die Stirn.

„Schiebt den Wa­gen vor den Ein­gang“, be­fahl Fain dem Al­vea­ner in ei­nem schreck­li­chen, bei­na­he un­ver­ständ­li­chen Ak­zent. Der Mann ge­horch­te. Der Wa­gen ver­sperr­te den Ein­gang voll­stän­dig. „Jetzt ha­ben wir ihn.“

„Willst du hin­ein­ge­hen?“

„Das hat Zeit.“ Fain wirk­te jetzt zu­ver­sicht­lich. „Wir ha­ben ihn in der Fal­le. Da­non sagt, es gibt kei­nen wei­te­ren Aus­gang.“

„Wor­auf war­ten wir dann?“ Skal­lon trat vor, um mit Fain zu re­den, der hin­ter ei­nem ver­zier­ten Pfei­ler lehn­te.

„Zu­rück“, schrie Fain. „Aus die­sem Win­kel kann er dich in Stücke schie­ßen.“

„Oh.“ Skal­lon wich be­läm­mert in sei­ne De­ckung zu­rück. „Aber … warum wol­len wir denn war­ten?“

„Der Klei­ne und ich wer­den war­ten. Er sagt mir Be­scheid, wenn der Än­de­rung bei ihm her­aus­kommt, und ich be­hal­te die Stra­ße im Au­ge. Ich ha­be be­schlos­sen, daß wir es auf dei­ne Art ma­chen, Skal­lon – kei­nen kalt­blü­ti­gen Mord. Du gehst zu­rück zum Ho­tel, holst Scor­pio und bringst ihn her.“

„Das hät­ten wir schon frü­her tun sol­len“, be­merk­te Skal­lon.

Aber Fain grins­te. „Nein. Frü­her hat­te es kei­nen Sinn – aber jetzt schon. Ich bin kei­ne Bes­tie, Skal­lon, und ich be­nut­ze gern mei­nen Kopf.“

 

Das Ho­tel lag kaum einen Ki­lo­me­ter ent­fernt von der Stel­le, wo sie den Än­de­rung ge­stellt hat­ten. Skal­lon be­gann zu lau­fen, aber dann ent­deck­te er einen Bo­ten, der ihm ge­gen ein Ent­gelt sein Fahr­rad über­ließ. Skal­lon stürz­te ins Ho­tel und eil­te die Trep­pen hin­auf. Oben fand er Scor­pio ge­sund und of­fen­sicht­lich völ­lig er­holt von sei­ner Er­kran­kung vor. Er pack­te den Hund in einen Kar­ton, schlepp­te ihn müh­sam nach un­ten und be­fes­tig­te sei­ne Last auf dem Ge­päck­trä­ger des Fahr­rads. We­nig spä­ter war er be­reits wie­der un­ter­wegs. Das Ge­drän­ge in den Stra­ßen hat­te sich zu ei­nem großen Teil auf­ge­löst. Es wur­de rasch dun­kel. Der Tag war lang ge­we­sen. Mit et­was Glück wür­de es ihr letz­ter Tag auf die­sem Pla­ne­ten ge­we­sen sein. Bei die­sem Ge­dan­ken run­zel­te Skal­lon die Stirn. Er wür­de die Le­bens­lust und die Far­ben­pracht von Al­vea ver­mis­sen.

 

Wi­der Wil­len muß­te Fain grin­sen, als Skal­lon her­an­ge­ra­delt kam. Mit leuch­ten­den Au­gen und we­hen­den Ge­wän­dern, ener­gisch in die Pe­da­le tre­tend, tauch­te er in ei­ner Sei­ten­gas­se auf, oh­ne sich ei­nem Be­schuß aus dem Vor­der­ein­gang des ho­hen grau­en Ge­bäu­des aus­zu­set­zen. Es dau­er­te einen Au­gen­blick, bis Fain sich dar­an er­in­ner­te, daß ih­re Es­ka­pa­de hier nur des­halb er­for­der­lich war, weil Skal­lon in der Großen Hal­le al­les ver­patzt hat­te. Den­noch fiel es ihm schwer, wü­tend zu blei­ben. In sei­nem In­nern mel­de­te sich ein Warn­si­gnal. Er soll­te sich sei­nen lang­sa­men, glim­men­den Zorn be­wah­ren; er wür­de ihn vor­wärts trei­ben und sei­ne Sin­ne schär­fen. Aber als er über die­ses Pro­blem nach­dach­te, er­kann­te Fain, daß er sei­ne Emo­tio­nen in die­ser Hin­sicht nicht mehr in der Hand hat­te. Et­was in ihm war da­bei, ihm zu ent­glei­ten.

„Über­prüf dei­nen Strah­ler“, knurr­te er und hob Scor­pio aus der Kis­te. Der Hund win­sel­te lei­se und drück­te sich in die Schat­ten. Die Fahrt hat­te ihn of­fen­bar an­ge­strengt. „Al­les in Ord­nung, mein Jun­ge?“

„Ich. Glau­be. Schon.“

Fain er­klär­te ihm lang­sam und un­ter häu­fi­gen Wie­der­ho­lun­gen, daß sie sich nun durch die Vor­der- und Hin­ter­tür gleich­zei­tig ins Haus schlei­chen wür­den. Und plötz­lich, wäh­rend er dies tat, er­in­ner­te Fain sich an die große, war­me Ge­gen­wart sei­nes Va­ters, der sich über ihn beug­te und auf ein paar Zif­fern und ei­ne sta­tis­ti­sche Gra­phik deu­te­le; sei­ne Lip­pen be­weg­ten sich, und er sprach mit sanf­ter, ru­hi­ger Stim­me … die Ge­bor­gen­heit … er er­klär­te ein paar Fak­ten … ir­gend et­was … der Ort, von dem die in­ne­re Ge­wiß­heit kam … so viel. So viel, und al­les ver­lo­ren, die Jah­re ein­ge­trock­net, das milch­wei­ße Rät­sel in sei­nem In­nern ei­ne Krücke jetzt und nicht mehr die lo­dern­de Rea­li­tät, die es ge­we­sen war, als sein Va­ter es ihm ge­sagt hal­le. Jetzt knie­te der Sohn hier auf die­sem fer­nen Dreck­loch von Pla­ne­ten. Und al­les, was der Sohn noch hat­te, wa­ren ein Hund und ein paar Er­in­ne­run­gen.

Fain schüt­tel­te ge­reizt den Kopf, um sich von die­sen Ge­dan­ken zu be­frei­en, und fuhr mit sei­nen Er­klä­run­gen fort.

 

Es schi­en ein ver­nünf­ti­ger Plan zu sein, fand Skal­lon. Da­non wür­de drau­ßen blei­ben, um dar­auf zu ach­ten, daß der Än­de­rung nicht auf un­vor­her­ge­se­he­ne Wei­se ent­wisch­te. Skal­lon wür­de den Hin­ter­ein­gang neh­men, und Fain und Scor­pio wür­den sich vorn hin­ein­schlei­chen.

Skal­lon schlän­gel­te sich zur Rück­sei­te. Er er­kann­te Da­non in ei­nem zu­sam­men­ge­duck­ten Schat­ten­fleck ne­ben der Um­frie­dung ei­nes Ab­fall­hau­fens. „War et­was?“ Der Jun­ge schüt­tel­te den Kopf. „Dann bleib hier sit­zen. Wenn du je­man­den her­aus­kom­men siehst, be­nutzt du das Arm­ban­dra­dio. Ganz gleich, wer es ist. Denk dar­an, der Än­de­rung kann völ­lig an­ders aus­se­hen, wenn du ihn das nächs­te Mal siehst.“

Im nächs­ten Au­gen­blick war Skal­lon von Schat­ten zu Schat­ten ge­huscht und stand im Hin­ter­ein­gang vor ei­ner schwe­ren, mes­sing­be­schla­ge­nen Tür. Er ver­nahm ein lei­ses, schlur­fen­des Ge­räusch von der Vor­der­sei­te. Viel­leicht Fain und Scor­pio. Die Tür öff­ne­te sich in einen schma­len, von Öl­lam­pen er­leuch­te­ten Gang. Al­le zehn Me­ter ließ ei­ne Tür aus schmie­ri­gem Holz auf ein Zim­mer schlie­ßen. Es sah aus wie in ei­ner schä­bi­gen Her­ber­ge.

Skal­lon schob sich laut­los den Gang ent­lang, bis die­ser von ei­nem zwei­ten, trü­be er­leuch­te­ten Gang ge­schnit­ten wur­de, an des­sen hin­te­rem En­de er in ei­ner Licht­pfüt­ze einen Schreib­tisch und ei­ni­ge Stüh­le er­ken­nen konn­te.

Der Form des Hau­ses nach zu ur­tei­len müß­te Fain aus die­ser Rich­tung kom­men. Skal­lon be­weg­te sich be­hut­sam auf das Licht zu. Es war ihm be­wußt, wie un­ge­schützt er hier war. Wenn jetzt je­mand ei­ne Tür auf­ris­se und ei­ne Waf­fe her­aus­streck­te, dann wä­re er al­ler Wahr­schein­lich­keit nach ein to­ter Mann. Da­zu kam die Mög­lich­keit, daß er und Fain sich in dem düs­te­ren Licht auch ge­gen­sei­tig er­schie­ßen konn­ten.

Der Licht­fleck kam im­mer nä­her. Er hör­te ein lei­ses, keu­chen­des Ge­räusch. Je­mand at­me­te. Ein Mann stieß die Luft aus, als sei er ein we­nig au­ßer Atem. Laut­los glitt Skal­lon wei­ter.

Zwei Din­ge ge­sch­a­hen auf ein­mal.

In ei­nem der Stüh­le rich­te­te sich je­mand auf. Ge­wän­der flat­ter­ten zu Bo­den. Aus dem Au­gen­win­kel sah er, wie ein Schat­ten am Ein­gang vor­bei in einen an­de­ren Gang husch­te, der nach links führ­te. Er fuhr her­um und schwenk­te sei­ne Waf­fe in die­se Rich­tung.

„Skal­lon!“ Der Schat­ten hat­te Fains Stim­me.

Er rich­te­te sei­nen Strah­ler wie­der auf den Mann, der eben von sei­nem Stuhl auf­stand. Es war der, den sie ge­jagt hat­ten.

„Kei­ne Be­we­gung“, sag­te Skal­lon ru­hig.

Mit gleich­gül­ti­gem Ge­sicht dreh­te der Mann sich um und sah ihn an. Er war noch jung, und sei­ne fast kind­li­chen Wan­gen wa­ren von dün­nem Flaum be­deckt. Viel­leicht war es sei­ne Schlank­heit, die ihn an­ders er­schei­nen ließ. Der At­ten­tä­ter – der Än­de­rung – sah eher aus wie ein Mensch als wie ein Al­vea­ner.

Fain trat aus dem Schat­ten. Scor­pio war bei ihm. Skal­lon be­ob­ach­te­te sie, wand­te sich dann wie­der um und be­trach­te­te sei­nen Ge­fan­ge­nen. Sei­ne Hand spann­te sich um den Ab­zug des Hit­ze­strah­lers. Plötz­lich wuß­te er, wie leicht es war zu tö­ten. Nur den Ab­zug drücken. Kein Pro­blem.

„Nicht. Er.“ Das war Scor­pi­os Stim­me.

„Bist du si­cher?“ frag­te Fain. „Ver­dammt, bist du wirk­lich si­cher?“

„Paßt. Nicht.“ Scor­pio klang mü­de. „Nicht. Er.“

Mit kur­z­en, ab­ge­hack­ten Schrit­ten kam Fain zu dem Al­vea­ner her­über und schlug ihm ins Ge­sicht. „Wes­halb seid Ihr ge­rannt?“

Sei­ne Stim­me war ru­hig.

„Ich ren­ne gern.“ Ei­ne Kin­der­stim­me. Schrill.

„Nein. Re­det.“ Fain schlug ihn noch ein­mal.

„Ich … lie­be den Wind … Er ist so kühl … ich …“

Skal­lon ließ sei­ne Waf­fe sin­ken. „Ich hal­te recht“, sag­te er. „Bei­na­he hät­test du einen un­schul­di­gen Mann ge­tö­tet – einen Jun­gen.“

„Ver­tu“, sag­te Fain. „Wir ha­ben einen gott­ver­damm­ten Ver­til-Stroh­mann ge­jagt. Ei­ne At­trap­pe. Wann zum Teu­fel kommt er end­lich zur Sa­che und hört mit die­sen Spiel­chen auf?“ Fain sah Skal­lon an, und sein Ge­sicht war dun­kel vor Wut.