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Eine Stunde später lag Skallon auf dem Bett und sah zu, wie die letzten bläulichen Lichtstrahlen im nächtlichen Himmel versickerten. Mit einer Entschuldigung war er weiteren Gesprächen mit Kish und Joane zumindest für heute aus dem Weg gegangen, denn er war nicht sicher, wieviel er ihnen wirklich preisgeben durfte. Es würde Fain nicht gefallen, wenn ein Eingeborener zuviel über ihre Operationen herausfände.
Aber jetzt, da er allein hier in der Kammer lag, langweilte er sich. Seine Meditation hatte zwanzig Minuten gedauert und ihm Erfrischung gebracht. Er wußte, daß er so früh noch nicht würde schlafen können. Sollte er noch einmal nach oben gehen und Kishs richtiges Bier versuchen? Nicht, daß er Kish diese kleine Geste der Selbstbestätigung wirklich zum Vorwurf machen konnte. Schließlich war Skallon auch nichts anderes als einer von diesen verdammten Erdlern. Die Logik alveanischer Abneigung gegen die Erde war unübersehbar. Alveanische Kunst und Kultur waren davon durchtränkt; elementare psychosoziale Analysen hatten das gezeigt.
In Skallons Augen halten die Alveaner auch Grund dazu. Alvea war keine Kolonie, nein. Die Dinge lagen heute viel subtiler. Was einst als Versuch, Menschen an Alvea anzupassen, begonnen hatte, war mittlerweile zu einem handlichen ökonomischen Werkzeug geworden. Die militärische Vorherrschaft des Konsortiums zwischen den Sternen war natürlich unmöglich, es sei denn, man wollte den Gegner ausrotten und einen Planeten ruinieren. Aber weshalb sollte man auch eine brutale Waffentechnik verwenden, wenn subtile Formen der Abhängigkeit existierten? Alvea war auf die Biotechnik der Erde angewiesen, um die genetische Drift zu korrigieren und die schlimmsten Auswirkungen der alveanischen Biochemie anzuwehren. Nur die Erde verfügte über die technischen Voraussetzungen und über ungeheure Technologien, um die Alveaner immer wieder an diesen Planeten zu adaptieren. Genetische Stabilisation war in jeder Generation von neuem erforderlich, da der zelluläre Vollzug ein frommer Wunsch blieb. Im Gegenzug erhielt die Erde seltene Mineralien in raketengetriebenen Robotschiffen, die unterhalb der Lichtgeschwindigkeit reisten. Das war eine bequeme …
Etwas rasselte in der Wand neben seinem Ohr.
Skallon fuhr hoch und drehte das Gaslicht an. Die Wand bewegte sich. Die Tapete wölbte sich vor und pulsierte von Leben.
Ein Stück der Tapete hatte sich ein paar Zentimeter über ihm gelöst. Skallon zog es weiter zurück. Kleine schwarze Käfer rieselten herunter und landeten verstreut auf seinem Bett. Brodelnde Massen davon fanden sich weiter unten; es war ihr hektisches Krabbeln, was er gehört hatte.
Angewidert wich Skallon zurück. Aber in gewisser Weise faszinierte ihn der Anblick. Auf der Erde hatte man Insekten schon vor langer Zeit strikt unter Kontrolle gebracht. In den Kasernen und Unterkünften gab es keine mehr. Er zog eine kleine Taschenlampe aus seinem Gepäck und leuchtete damit hinter die Tapete. Wo der Lichtstrahl auftraf, krabbelten die sechsbeinigen Dinger hastig davon.
Nun, das erleichterte die Sache zumindest ein wenig. Wenn er schlief, brauchte er nur das Gaslicht brennen zu lassen.
Skallon schnaufte. Er würde sich ein besseres Zimmer besorgen müssen. Aber im Augenblick erfüllte ihn eine rastlose Unruhe, und er wollte sich nicht noch einmal mit Kish unterhalten. Jahrelang hatte er Alvea studiert, und jetzt lag er in einem vergammelten, stinkenden Hotelzimmer herum, während er draußen Spazierengehen und sich Kalic ansehen konnte.
Wahnsinn, oder zumindest Dummheit. Fain würde bald dasein und dann wäre seine Zeit bemessen. Oder schlimmer noch: Vielleicht hatte Fain den Änderung inzwischen schon zur Strecke gebracht. Es konnte sein, daß eine Robotfähre aus dem Orbit bereits auf dem Weg nach unten war.
Skallon zögerte einen Moment lang. Dann steckte er die Taschenlampe weg und begann seine Gewänder anzulegen.
Vier Stunden später wanderte Skallon langsam zurück zur Maraban Lane und dem Battachran-Hotel. Seine Füße waren müde, und seine Gewänder und die alveanische Verkleidung juckten und drückten ihn. Trotzdem zögerte er noch, seine Stadtbesichtigung zu beenden und sich für die Nacht zurückzuziehen. Er hatte viel gesehen. Die zierlichen Türmchen der heiligen Gebäude bohrten sich hinter ihm in den von Wolken durchzogenen Himmel. Sie markierten die Stadtmitte. Er war ganz hinaufgestiegen, um die rauchverhüllte nächtliche Stadt vor sich ausgebreitet zu sehen. Jetzt wirkten die Türme würdevoll und unnahbar, als wären sie mehr als nur grober, mit einem Arbeitslaser geschnittener Fels.
Er hatte eine merkwürdige, spukhafte Stunde auf einem Zeremonienplatz verbracht und einer Leichenverbrennung zugesehen. Sie hatten den verwelkten alten Mann oben auf den Scheiterhaufen gelegt und ihm die Arme zusammengebunden. Den Grund dafür erfuhr Skallon bald. Als das Holz knackte und qualmte, ließ die Hitze die Muskeln kontrahieren und die Beine des Mannes begannen heftig zu zucken. Der Leichnam wand sich, während Gesänge zu ihm heraufstiegen. Dann zerplatzte der Bauch. Der Knall ließ Skallon zusammenschrecken, selbst noch aus fünfzig Metern Entfernung. Er kam genau zum Höhepunkt der Gesänge, wenngleich Skallon nicht verstand, wie die Trauergemeinde den Zeitpunkt für diesen Effekt hatte abpassen können.
Der Tod war nichts Ungewöhnliches in den Straßen von Kalic. Zierliche Frauen dösten in ihren Korbstühlen und glitten in die lange Bewußtlosigkeit hinüber. Männer taumelten die Bürgersteige entlang und stützten sich mit einer Hand gegen die Gebäude, und wenn ihre Gewänder beiseite gestreift wurden, sah man, daß das Fleisch in lockeren Fasern an ihnen herabhing. Sie verloren rasch an Gewicht. Eine automatische Abwehrreaktion gegen irgendwelche Krankheiten, Erkrankungen, die so neu waren, daß sie noch keine Namen hatten. Die älteren – Rasseln, Wasserauge, Krampf-faule, Stockatem – waren von den Erdlern kuriert worden; Skallon hatte darüber gelesen. Aber gegen diese seltsamen Epidemien konnte man nichts tun.
Dennoch glaubten die Leute offensichtlich, daß die Erde ihnen helfen könnte. In einer überfüllten Kneipe hatte ein Mann ihm unter rauhem Geflüster von einem speziellen Erdenhospital erzählt, das angeblich außerhalb der Stadt operierte und in dem die Erkrankungen geheilt würden. Ein anderer fluchte, zog ein blitzendes Messer hervor und brüllte wütend heraus, was er mit jedem Erdler tun würde, der sich noch einmal in Kalic zeigte. Seine Worte trafen ringsumher auf Zustimmung. Zum ersten Mal verspürte Skallon echte Angst, jemand könnte einen winzigen Fehler in seiner Aussprache oder an seinen Gewändern entdecken und ihn erkennen. Er murmelte eine Entschuldigung und ging; fast wäre er noch auf seinen Umhang getreten, als er in die freundliche Dunkelheit der Straße hinausstolperte.
Auf der Straße hätte er sich tatsächlich beinahe verraten, weil er über seine eigenen Füße stolperte. Sein ganzes Leben lang war er über sichere, ebene Flächen gelaufen. Auf der Erde war der Boden überall planiert. Selbst die Farmen, auf denen er gelegentlich seine Ferien verbracht hatte, waren im Laufe der Jahrhunderte von rollenden Landmaschinen zu glatten Flächen ausgewalzt worden. Aber hier in Kalic gab es keine Straße ohne Schlaglöcher, und wenige besaßen sauber abgegrenzte Gehwege. Eine Kreuzung von zwei Straßen ließ immer ein wenig Raum für einen Grasflecken, und das Gras griff in der schattigen Finsternis nach Skallons Füßen. Er mußte lernen, zu Boden zu sehen und zu navigieren. Das Gehen ermüdete ihn. Als das Battachran-Hotel noch einen Block weit entfernt lag, beschloß er, anzuhalten und sich für einen Augenblick in einem Tempel auszuruhen.
Ein schadhaftes Tor, dessen Angeln im Wind knarrten, führte in einen Hof. In einem runden Wasserbecken wirbelte fließendes Wasser, in dem zischend Blasen an die Oberfläche stiegen. Auf den gesprungenen Steinplatten auf dem Boden des schattigen Innenhofes spielte das Licht, das von einer Bierkneipe an der Straße herüberdrang. Er setzte sich hin und starrte zu den drei gerippten Bögen hinauf, die selber müde aussahen; einer war, mehr als die anderen, in sich zusammengesunken. Eine Hängelampe leuchtete bläulich, und der kleinere Mond Alveas stieg zernarbt und rot über dem milchweißen Fries des Tempels empor. In Skallons Augen bildeten die Eisenoxyde des Mondes einen hübschen Kontrast zu den vergilbten Neunundneunzig Namen des Einen, die den Fries bedeckten. Leise las er ein paar der Namen und verfiel dabei unbewußt in den Rhythmus des hohlen Getrommels, das aus einer Nebenstraße herüberklang, gelegentlich von den Schreien irgendwelcher Tänzer unterbrochen. Während er noch las, bewegte sich einer der elfenbeinfarbenen Pfeiler des Tempels. Dann kräuselte sich ein zweiter in dem matten Licht. Joane trat aus dem Tempel heraus in das blasse, rosafarbene Mondlicht. Sie schaute nach links und sah ihn nicht.
„Joane.“
„Oh! Ihr habt mich erschreckt. Ihr seid der …“
„Ja. Sprecht das Wort nicht aus. Ist noch jemand hier?“
„Nein. Nein, ich glaube nicht. Aber Ihr solltet nicht hier sein.“
„Warum nicht?“
„Ich … nun, man muß seine Schuhe und allen Schmuck ablegen, ehe man einen Tempel betritt.“
„Das habe ich getan. Seht Ihr?“
„Oh. Es tut mir leid, ich dachte, Ihr wüßtet das nicht.“
„Ich weiß nicht nur solche Kleinigkeiten.“
„Das müßt Ihr wohl, bei Eurer vollkommenen Aussprache. Die meisten Erdler haben sich dieser Mühe nicht unterzogen. Dennoch ist es ungewöhnlich, daß ein Erdler sich an die Zeremonien hält, selbst wenn er sie kennt.“
„Warum?“
„Überlegt doch. Ihr dachtet, es sei niemand im Tempel. Das dachte ich auch. Ihr hättet Eure Schuhe und Euren Schmuck anbehalten können, denn es wäre ohnehin niemand dagewesen, der es gesehen hätte.“
„Der Gott der Neunundneunzig Namen wäre hiergewesen.“
Sie sah ihn prüfend und überrascht an. „Das ist wahr. Und es ist schön gesagt. Ich werde es mir merken.“
„Ist das Nennen der Namen nicht der Zweck dieses Schreines?“
Joane lachte. Es klang wie ein perlendes Glöckchen. „Ich komme her, um mich auszuruhen.“
„Warum entspannt Ihr Euch nicht zu Hause?“
„Manchmal möchte ich allein sein.“
„Es tut mir leid, daß ich Euch gestört habe.“ Er trat in die Schatten zurück, als wollte er gehen.
„Nein, nein. Bleibt doch. Ich bin hier sowieso fertig. Und wenn Ihr mich zum Hotel zurückbegleiten wolltet, würde das meinem Gatten gefallen.“
Skallon setzte sich auf ein marmornes Geländer. „Weshalb?“
„Er wünscht nicht, daß ich im Dunkeln allein ausgehe. Er sagt, die Straßen werden allmählich gefährlich. Natürlich hat er recht. Vor wenigen Tagen wurde meine Schwester bei Sonnenuntergang überfallen. Man stahl ihr den Marktkorb und die Lebensmittel für zwei Tage.“
„Pestopfer?“
„Höchstwahrscheinlich. Aber wenn ich mit einem zuverlässigen Begleiter wie Euch zurückkehre, wird mein Mann nichts dagegen haben. Es wäre sogar eine Ehre für ihn.“
„Ich verstehe.“ Skallon nickte. Keiner von beiden machte Anstalten, aufzustehen und zum Hotel zurückzugehen. Joane legte die Handflächen gegeneinander. „Obgleich ich nicht weiß, ob ich wirklich zuverlässig bin“, sagte er schließlich, um das Schweigen zu brechen.
„Aber Ihr seid kein gewöhnlicher Mann. Ihr seid es immerhin wert, daß man Euch zu den Sternen reisen läßt.“
„Ich bin nicht sicher, ob man mich ausgesucht hat, weil ich ein so guter Straßenkämpfer bin.“
„Aber ich bezweifle nicht, daß Ihr einer seid.“
„Ja, wahrscheinlich.“ Er verlagerte sein Gewicht und sah zu dem rosigen Mond hinauf, der jetzt weit über dem Fries stand. „Mein militärisches Training wurde vor einigen Monaten verstärkt. Offensichtlich hatte jemand dabei etwas Derartiges im Sinn, das habe ich mir gleich gedacht. Aber mein eigentlicher Wert liegt in meiner akademischen Arbeit.“
„Aka …?“
„Habe ich es richtig ausgesprochen? Wissenschaftlich. Na ja, nicht genau das, aber ich habe Alvea studiert.“
„Weil Euch an uns etwas lag?“
„Das nicht gerade. Die Erde wählt einen gewissen Bruchteil der Bevölkerung aus, um gewisse Gebiete zu studieren. Dadurch haben sie immer jemanden greifbar, der über Hintergrundwissen verfügt. Ein paar Leute für jeden Planeten.“
„Für den diplomatischen Dienst?“
„Zum Teil.“ Skallon überlegte, wie er es ihr erklären sollte. „Als Reserve, würde ich sagen. Hier zum Beispiel hat man das gesamte Konsulatspersonal für Alvea gesperrt.“
„Man wirft ihnen Unlauterkeit vor, wie ich hörte.“
„Hm. Ja.“ Er beschloß, auf diesen Punkt nicht weiter einzugehen. „Also warf die Erde für diesen Auftrag einen Blick in ihr Reservepotential. Es mußte schnell jemand gefunden werden.“
„Und Ihr wart am besten qualifiziert.“
„Tja, der Psycher stellte fest, daß ich beim Feldtraining nicht gerade der Aggressivste war. Mangelndes Selbstvertrauen, hieß es. Aber als sie mit mir darüber redeten, nannten sie es ‚vorsichtiges Abwägen’. Demzufolge hatten sie wohl nichts dagegen, daß ich so war.“
„Ich verstehe“, sagte Joane. „Eure Vorgesetzten verlangten Besonnenheit.“
„Hah! Sie wollen, daß ich mich heraushalte und die Angelegenheit Fain überlasse.“
„Fain?“
„Das ist der andere Mann. Ich frage mich manchmal, wie zuverlässig diese Psycher waren. Ich fühle mich nicht zuverlässig.“
„Ich bin sicher, Ihr seid es.“ Sie sagte das so einfach und direkt, daß Skallon es auch glaubte. Vielleicht verstand sie ihn besser als er selbst.
„Das Hotel“, murmelte er; er wußte selber nicht genau, weshalb er das Thema wechselte. „Ich bringe Euch jetzt zurück.“
Sie wanderten über einen Kiesweg, der die Maraban Lane kreuzte, und das knirschende Geräusch ihrer Schritte schien die Dunkelheit zu erfüllen. Skallon nahm ihren Arm, als sie den holprigen Hof des Hotels überquerten. Eine einzelne gelbe Lampe hing über dem Eingangsportal. In einem dunklen Winkel bemerkte Skallon eine huschende Bewegung. Er erinnerte sich sogleich an die Geschehnisse in der Eisenbahn und tastete unter seinen Doubluth-Gewändern nach der Waffe. Er fand sie, aber der Griff verhakte sich im Tuch seines Mantels. Wieder bewegte sich der Schatten. Skallon ließ Joane los und trat zur Seite, um ein freies Schußfeld zu haben.
„Ich habe dich gebeten, nicht allein auszugehen“, sagte jemand mit hoher Stimme.
„Stehenbleiben!“ blaffte Skallon.
„Was?“ Ein Junge trat aus dem Schalten heraus. „Mutter, ich habe auf dich gewartet. Ich wünschte wirklich …“
„Sir, dies ist unser Sohn Danon.“ Joane legte einen Arm um den Jungen, der etwa vierzehn Erdenjahre alt zu sein schien. Skallon nickte und sagte ein paar unverbindliche Worte, um sich vorzustellen. Er war ein wenig verunsichert. Joane sah nicht alt genug aus, um einen so großen Sohn zu haben. Vielleicht halten die Schatten ihre Falten verborgen – die Beleuchtung hier war immer ein wenig trüb, ganz im Gegensatz zu den grellweißen Korridoren der Erde.
Der Junge schien für seine Mutter Beschützergefühle und gegen Skallon Mißtrauen zu empfinden. Dies paßte anscheinend in das psychologische Standardprofil für dieses Alter, dachte Skallon, als sie das Hotel betraten. Im Foyer trennten sie sich. Joane reichte ihm kühl und distanziert die Hand. Danon nickte knapp. Skallon verabschiedete sich mit den traditionellen Floskeln, und während er sich durch die engen Gänge tastete, dachte er an Joane.
Er stieß die Tür zu seinem Zimmer auf und war schon halb drinnen, als er bemerkte, daß jemand auf dem Bett saß. Er erstarrte. Das erste, was er registrierte, war nicht das Gesicht des Mannes, sondern die lehmigen Stiefel, die die weißen Laken beschmierten.
„Es wurde auch Zeit“, sagte Fain.