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Fain stolperte durch die engen Gänge, ohne etwas zu sehen. Bilder seines Vaters schwebten vor ihm, sie schienen aus den Tunnelwänden zu sprießen. Vater … der ruhige Mittelpunkt, den er einmal gehabt hatte … alles entglitt ihm jetzt. Seine Pläne, mit denen er den Änderung immer näher locken wollte, das subtile Spiel … alles war verschwunden. Und auch seine innere Sicherheit war verflogen; geblieben waren nur das Gesicht seines Vaters und das Echo seiner Schritte, während er vorwärts taumelte – das, und ein dumpfes Brennen in seinem Innern.
Er erreichte die Falltür unter dem Hotel, stieß Kishs Vorratskisten beiseite und öffnete die Tür.
Joane war allein in der Küche. Fains Auftauchen mußte sie erschreckt haben. Sie legte eine Hand auf den Mund und wich zurück. „Fain, was ist passiert?“ Ihre Augen waren vor Schreck weit aufgerissen.
Er packte sie hart am Arm. „Skallon. Ist …?“ Er schluckte und versuchte, die Worte über die trockenen Lippen zu bringen. „Skallon oder Danon. Hast du einen von ihnen gesehen? Sind sie oder sonst jemand vor mir aus diesem Loch gestiegen?“
Sie antwortete: „Ja“ und nickte dabei viel zu schnell. „Ich wollte es dir sagen. Ein Mann kam. Ein Mann, den ich nicht kannte.“
„Wie war er gekleidet?“
„Wie ein Doubluth. Wie du.“
„Skallons Gewänder?“
„Das weiß ich nicht. Es kann sein, aber … ich … ich …“
Er ließ sie los; er wußte, daß es ihm nicht helfen würde, wenn sie Angst hatte. Die Gedanken schienen ihm jetzt mit verblüffender Klarheit zu kommen, aber seine Wut hatte sich keineswegs verringert. Er dachte an den toten Scorpio. Armes, freundliches, dummes, sanftmütiges Tier. Arglos gegen alles und jeden. „Hat er das Hotel verlassen? Kann ich ihn noch einholen? Wohin ist er von hieraus gegangen?“
Sie wies an ihm vorbei nach draußen. „Er ist sehr schnell fortgelaufen. Ich habe versucht, ihn aufzuhalten, wie du mir befohlen hast, aber es war, als sähe er mich nicht. Sein Gesicht war verzerrt, wie eine Fratze. Und er lachte. Er lachte die ganze Zeit. Es war furchterregend, Fain.“
„Aber du hast gesehen, in welche Richtung er gelaufen ist?“
„Nein, ich …“
Er schlug mit der Faust gegen die Wand. Also war es nutzlos … sinnlos … er hatte versagt. Der Änderung war ihm entwischt, und ohne Scorpios Hilfe bei der Jagd würde er ihn nicht wiederfinden. Das dünne Holz der Wand splitterte und brach unter der Gewalt seines Schlages. Seine Knöchel wurden taub. Er preßte sie an die Lippen und schmeckte Blut. Jetzt war die Hand vielleicht auch noch hin. Genauso wie Scorpio. Durch seine eigene Dummheit. Durch seine Blindheit angesichts dessen, was offensichtlich hätte sein müssen.
Joane ergriff seinen Ärmel. „Fain, er ist nicht entkommen. Warum läßt du mich nicht ausreden? Ich habe Kish hinterhergeschickt. Kish hat gesehen, wie er hinauslief und ist ihm gefolgt.“
Fain ließ die Hand sinken. Erachtete nicht auf den Schmerz, der immer stärker wurde. „Wo … wo ist er hingelaufen?“
Sie schüttelte den Kopf. „Das weiß ich nicht. Er wird einen Boten schicken, wenn er kann. Du kannst warten, oder nicht?“
Fain wußte, daß er nicht warten konnte. Er wollte es ihr erklären, aber in diesem Augenblick trat ein Junge in die Küche. Er sah Joane an, dann Fain, und mit weit aufgerissenen Augen wollte er zurückweichen. Fain griff nach ihm, packte ihn und hielt ihn fest.
„Kish hat dich geschickt. Von wo? Wo steckt Kish jetzt?“
Der Junge wand sich unter dem Griff von Fains unverletzter Hand; er stammelte und brachte kein klares Wort heraus. Fain schüttelte ihn heftig, aber immer noch wollte der Junge nichts sagen. Joane berührte Fains Arm. „Laß mich mit ihm sprechen“, sagte sie.
Fain nickte und ließ den Jungen los.
Joane hockte sich nieder. Aus einer Tasche in ihrem Gewand zog sie drei Goldmünzen und legte sie dem Jungen in die Hand. „Ich bin Joane“, sagte sie. „Hat Kish dich gebeten, mit mir zu sprechen?“
Der Junge nickte und warf einen angstvollen Blick auf Fain. „Kish wartet bei der Halle der Tagras. Ich soll Euch sagen, daß der, den Ihr sucht, dort ist. Die Doubluths versammeln sich. Kish wartet draußen.“
Fain schüttelte den Kopf. Der Änderung verschwendete keine Zeit – aber warum sollte er auch? Änderlinge trauerten nicht um ihre Opfer. „Wo ist diese Halle der Tagras?“ fragte er den Jungen.
„Du kannst es ihm ruhig sagen“, drängte Joane, als der Junge zögerte.
Der Junge begann zu reden, aber Fain verstand ihn nicht. Selbst nach so vielen Tagen waren die Straßen von Kalic für ihn ein reines Labyrinth. Er vermißte Skallon … und Scorpio.
„Ich kann dich hinführen“, sagte Joane.
„Nein. Das kann der Junge tun. Ich glaube, du solltest hinuntergehen. Skallon ist noch da. Er ist gefesselt. Er … er kann dir erzählen, was geschehen ist.“ Fain zögerte, denn es war ihm etwas eingefallen. Er war nicht der einzige, der jemanden zu betrauern hatte. Der Änderung hatte auch Danon getötet. Joane würde es erfahren müssen.
Sie nickte und sprach sanft auf den Jungen ein; sie versprach ihm weitere Münzen, wenn er Fain zu Kish führte. Dann erhob sie sich und trat zu Fain. „Aber zuerst laß mich deine Gewänder ordnen und reinigen. Deine Hand muß verbunden werden. Du hast diesen Jungen erschreckt, Fain. Du kannst in diesem Zustand nicht auf die Straße gehen.“
Er nickte. Er wußte, daß sie recht hatte. Er halte vor, den Änderung zu töten, aber würde ihr das helfen? Danon war tot. Fain wußte, daß er daran ebensoviel Schuld trug wie der Änderung. Würde er ihr das je erklären können?
„Jetzt siehst du besser aus“, sagte sie und schob ihn zurück. „Du gehst zu Kish, und ich werde zu Skallon gehen.“
In den Straßen herrschte jetzt ein noch größeres Gedränge als sonst. Fain und der Junge schoben und zwängten sich hindurch und hatten alle Mühe, schnell voranzukommen. Nirgends sah man offene Gewalttätigkeiten, und auch laute Reden waren nicht zu hören. Aber er fühlte den Haß. Er hing in der Luft wie die harte, orangegelbe Sonne am Himmel. Kalic war ein Pulverfaß. Offenbar hatte der Änderung die Absicht, die letzte Zündschnur anzulegen.
Kish wartete vor einem flachen, einstöckigen Holzgebäude. Als er Fain sah, trat er aus dem Schatten. „Wer ist dieser Verrückte, der sich unter meinem Hause verborgen hat, Fain?“
„Ist er da drin?“ fragte Fain.
„Ich habe ihn mit eigenen Augen hineingehen sehen, und es gibt keinen anderen Ausgang. Ist es Euer Feind, Fain? Der, den Ihr Änderung nennt?“
Fain sah keinen Grund zum Lügen. „Ja.“ Er trat dicht an das Gebäude heran und spähte durch ein beschlagenes Fenster. Drinnen saßen etwa zwei Dutzend Doubluths auf ihren Stühlen. Vor ihnen stand ein alter Mann – der neue Senior – und redete zu ihnen. „Welcher ist es?“
Kish beugte sich über Fains Schulter und lachte. „Erwartet Ihr, daß ich das weiß? Sie alle haben purpurne Roben an, Fain. Ich bin dem Gewand gefolgt.“
„Habt Ihr sein Gesicht nicht gesehen?“
„Nein, nicht deutlich. Er hat die ganze Zeit gelacht, als er an mir vorbeirannte – ein Verrückter –, aber vielleicht hat er jetzt aufgehört. Joane hat ihn besser gesehen. Soll ich sie herbringen?“
Fain schüttelte langsam den Kopf. Dafür wäre die Zeit zu knapp. vor allem, wenn Joane zu Skallon hinuntergegangen war. Er wußte, wenn er handeln wollte, dann mußte er unverzüglich etwas unternehmen. Wenn die Versammlung erst einmal zu Ende war und die Doubluths auseinandergingen, würde er nicht dreißig Männern zugleich folgen können. Und wenn nur einer herauskäme und fortginge, würde er sich auch nicht erlauben können, ihn zu verfolgen. Der Änderung konnte dann immer noch in der Halle sein.
„Ich gehe hinein“, sagte Fain.
Achselzuckend wies Kish auf die Tür. „Man wird Euch nicht aufhalten. Ihr seid ein Doubluth. Ihr gehört zur Hohen Kaste. Ich bin bloß ein Gastwirt.“
Fain nahm keine Notiz von Kishs Neid – oder war es Sarkasmus? Er dachte an Scorpio und an das Brandloch in seiner Flanke. Er sagte: „Wartet hier. Ich bin gleich wieder draußen.“
Dann betrat er die Halle der Tagras. Niemand sah auf oder kümmerte sich um ihn. Der Senior unterbrach seine Rede nicht. Er beschimpfte die Erde als hinterhältige Macht. Er beschuldigte das Konsortium, die Seuchen absichtlich verbreitet zu haben. Fain entdeckte eine Stelle am hinteren Ende der Halle, von der aus er alle Versammelten überblicken konnte. Der Senior hatte vielleicht nicht ganz unrecht. Fain kannte das Erdenkonsortium gut. Es hatte nichts gegen das Chaos als solches, es war nur gegen das Änderling-Chaos.
Natürlich konnte der Redner auch selber der Änderung sein.
Er … oder einer der anderen. Der sogar für alveanische Verhältnisse monströs fette Mann in der ersten Reihe. Oder der glattgesichtige junge Doubluth in der Mitte der Halle. Oder der Kahlköpfige neben ihm. Oder der runzlige Alte. Jener, der so fest schlief.
Der Änderung konnte jeder der dreißig Männer sein, die in dieser Halle versammelt waren.
Und Fain wußte, daß er keine Möglichkeit hatte, mit Sicherheit festzustellen, welcher es war.
Das war der Witz. Er hatte den Änderung in der Falle. Er hatte ihn festgesetzt. Er hatte ihn gestellt. Und er konnte nichts tun.
Fain wandte sich zum Gehen. Was konnte er sonst tun? Als er auf die Tür zuging, bemerkte er plötzlich eine kurze Bewegung. Er sah zu Boden und fand ein langgestrecktes, haariges Insekt – irgendeine einheimische Tausendfüßlerart –, das an seinem Fuß vorbeihuschte. Automatisch hob er seinen Stiefel. Rasch trat er mit dem Absatz zu und zerquetschte das Ungeziefer. Es war nichts von Bedeutung, es war ein instinktiver, beinahe unbewußter Akt. Aber als er es tat – in dem Augenblick, da das Krabbeltier starb –, wurde für Fain alles verblüffend, erschreckend, überdeutlich klar. Der kalte, leere, klare Punkt im Kern seines Wesens öffnete sich plötzlich und zeigte ihm, was er war.
Fain lachte laut auf.
Er stand wie erstarrt in der Halle auf Alvea, aber er sah viel weiter.
… das hohle Brüllen eines Flammenwerfers hatte das Haus erfüllt, und sein Tosen hatte alles verschlungen, während der Mann sein Gesicht mit zuckenden Händen bedeckte und rückwärts wankte, mit schrillem, hohem Schrei, als die Flammen ihn umspülten, ihn ein letztes Mal reinigten, ihn bereitmachten für … und dann der gepeinigte Blick, der Ruf, der zwischen ihnen hing wie ein Speer und ihn erstarren ließ, als sein Vater schrie, verzweifelt versuchte, ein letztes Wort zu formen, ein unnötiges Wort, jetzt, da Fain verstand, während er spürte, wie das zertretene Insekt sich wand und wie seine brennenden Insektensäfte aus ihm hervorquollen, und Fain fühlte deutlich, wie sein Kern sich spaltete, an die Oberfläche drang, und die beiden letzten, sich schwärzenden Augenblicke verschmolzen miteinander, so daß Fain sah, jenseits aller Tatsachen, daß nichts wirklich und wichtig war als das Fließen durch die schwellende Folge von Ereignissen, nichts als der ewige, wogende Rhythmus der Sekunden, Augenblicke, Tage, sah, daß er tun sollte, was seiner Natur entsprach, was sein Leben ihm befahl, daß er handeln sollte, wie es der wahre, dunkle Geist Fains diktierte, daß er sich gegen den Gestaltwandler stellen und ihm ein Ende machen sollte, und das Wissen um das, was er tun mußte, war plötzlich schrecklich und tröstlich zugleich, denn in diesem fließenden Augenblick lag alle Freude, aller Schmerz, lachend, fließend …
Seine Hand fuhr an die Hüfte. Er sah, daß er laut geschrien haben mußte, denn die versammelten Alveaner fuhren erschrocken herum. Er zog seine Waffe. Seine Hand zitterte so, daß er den Griff mit beiden Händen umklammern mußte, und er stand da mit gespreizten Beinen und ausgestreckten, aber geschmeidig federnden Armen. Er blinzelte, seine Augen waren naß, und er schaltete auf automatisches Feuer. Jemand schrie. Ein Mann kam auf ihn zugerannt. Der Änderung? Vielleicht. Ein gähnender Augenblick …
Fain feuerte. Ein orangegelber Strahl, so hell wie ein Stern.
Er schnitt den Mann mittendurch. Und schwenkte die Waffe gleichmäßig herum.
Schreie, furchtbare Schreie.
Schneidend, brennend. Beißender, wallender Qualm.
Kreischen. Und ein Wimmern, beendet durch brüllende, scharfe Flammen.
Männer starben. Dreißig Alveaner, bei lebendigem Leibe verbrannt. Dreißig – und ein Änderung. Fain schwenkte die Waffe einmal durch die Halle, dann noch einmal. Er wollte sichergehen, daß niemand unnötige Qualen erlitt.
Fain, der Gnädige.
Fain, der Bewahrer.
Fain, der Vernichter.
Gab es da irgendeinen Unterschied?
Leckende, schnappende Flammen.
Fain ließ den Strahler fallen. Der Gestank des verkohlten Fleisches verursachte ihm Übelkeit.
Er beugte sich vor und übergab sich zwischen seine Füße. Scorpio, dachte er besinnungslos, du bist gerächt.
Und aus seinem inneren Kern verbreitete sich ein kaltes Vakuum nach außen, und seine Zehen und Finger wurden taub.
Fain wandte sich um und wankte zur Tür hinaus.
Insekt und Vater und Gestaltwandler, alles war jetzt gleich.