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Fain blieb stehen. Nein, dachte er, so geht es nicht. Die ruhige Gewißheit in ihm redete durch seine wachsende Wut und legte eine kühle Hand auf seine Stirn. Kein Grund zur Sorge. Nichts ist endgültig, mein Sohn. Seine Hände zitterten. Stocksteif stand er in dem engen Tunnel und ließ seinen Zorn über sich hinwegfluten, in sich hinein, hindurch und hinaus. Er konnte warten. Er würde ruhig sein. Er würde nachdenken. Er hatte zuviel getan, zu schwer gekämpft, um sich jetzt von diesem Änderung aufs Kreuz legen zu lassen. Was hier vor sich ging, war ein ausgeklügeltes Spiel. Wenn es ihm gelänge, noch für eine Weile den Schwachkopf zu spielen und den Änderung damit tiefer hineinzulocken, dann würde sich möglicherweise eine Lösung finden lassen. Aber es war nicht leicht, sich einen klaren Blick zu bewahren. Einen kurzen Moment lang war der Änderung Skallon gewesen. Er war verdammt gut, wenn er das tun konnte und noch dazu so schnell. Und lange vorher war er schon Danon gewesen. Jetzt klärte sich allmählich alles auf. Aber er mußte über die Gegenwart nachdenken, nicht über die Vergangenheit.
„Scorpio!“ rief er und machte sich wieder auf den Weg. Seine Hände streiften die glitschigen Wände des Tunnels, und erst jetzt erinnerte er sich an die Lampe in seinem Gewand. Er schaltete sie ein, und die gelbe Lichtpfütze erfüllte ihn mit Erleichterung. „Scorpio!“ Der Hund würde irgendwo vor ihm warten und aufpassen. Fain halte keine Ahnung, wie weit ihn sein erster, hektischer Spurt gebracht hatte. Nicht weit genug – Scorpio antwortete nicht.
Konnte es sein, daß der Änderung in der Gestalt Skallons Scorpio überrascht hatte?
Ein Teil seiner Hast erwachte wieder. Der sichere Mittelpunkt versank. Er trabte weiter und hielt Ausschau nach dem Ende des Tunnels. Er rief Scorpios Namen und hielt kurz inne, um dem Hund Gelegenheit zum Antworten zu geben. Endlich glaubte er in der Ferne etwas zu hören – seinen eigenen Namen. Jetzt rannte er wieder. Es kam ihm so vor, als hätte er das Ende des Tunnels schon längst erreicht haben müssen. Aber Zeit und Entfernung waren elastische Mengen, leicht zu verlängern durch Dunkelheil und Angst. „Scorpio!“ Er blieb stehen. „Scorpio, hörst du mich?“
„Fain.“ Diesmal hörte er es ganz deutlich … eine Stimme … ja, Scorpios Stimme.
Fain rannte. Er rannte, bis die Luft in seinen Lungen brannte, und blieb wieder stehen. Mühsam rief er: „Scorpio, hör zu.“
„Ich. Höre. Dich. Fain.“ Die Stimme klang jetzt viel deutlicher. Er mußte dicht vor dem Ende des Tunnels sein.
„Scorpio, hast du jemanden gesehen? Ist jemand oder etwas an dir vorbeigekommen?“
„Nur. Eines.“
„Wer? Was?“
„Es. War. Skallon.“
„Wie lange ist das her?“
„Nicht. Lange.“
„Siehst du ihn noch? Hörst du ihn? Scorpio, kannst du seine Fährte aufnehmen? Skallon ist der Änderung. Verstehst du? Was da vorbeikam, war der Änderung.“
„Ich. Versuche. Es. Fain.“ Die Stimme ließ keinerlei Überraschung erkennen. Natürlich nicht – sie konnte es nicht. Das war ein Vorteil, den Scorpio jedem Menschen gegenüber immer haben würde. Die Wege des Universums beunruhigten ihn niemals. Er wußte nie, was er zu erwarten hatte, und so war er niemals überrascht.
Fain trabte weiter. Der Tunnel endete abrupt, und unvermittelt überkam ihn ein überwältigendes Gefühl von freiem Raum. Er taumelte, und beinahe hätte er die Lampe verloren. Er leuchtete in jeden Winkel. „Scorpio, wo bist du?“
„Hier. Fain. Hier. Ich. Rieche. Änderung.“
Fain richtete den Lichtstrahl in die Richtung, aus der die Stimme kam, und sah eine schattenhafte Bewegung. „Hinterher. Ich komme.“ Die Mündung seines Hitzestrahlers wies in die vor ihm liegende Dunkelheit. „Wenn wir uns beeilen, erwischen wir ihn diesmal vielleicht.“
Der Weg, den Scorpio eingeschlagen hatte, schien nicht zurück zum Hotel zu führen. Fain versuchte nicht darüber nachzudenken. Es konnte alles mögliche bedeuten – ein anderes Versteck, vielleicht eine neue Identität. Er befahl Scorpio, sich zu beeilen, und ging rasch weiter. Seine Beine versuchten immer wieder zu rennen, aber er hielt sich zurück; er wußte, daß er mit seinen Kräften sparsam umgehen mußte. Gelegentlich, wenn die Gewölbe sich erweiterten, erhaschte er einen Blick auf Scorpio, der vor ihm herhetzte. Sie bewahrten lediglich Sprechkontakt. Scorpio glaubte dem Flüchtenden näher zu kommen. Fain blieb stehen und lauschte, aber er hörte keine Schritte. Die Fährte war hier unten sehr ausgeprägt. Es gab keine anderen Gerüche, die den Hund verwirren konnten.
Fain stieß auf eine kahle Wand und blieb stehen. Er leuchtete umher und entdeckte zwei Gänge an den beiden gegenüberliegenden Enden der Wand. „Scorpio!“
„Hier. Fain. Hier.“
Der Tunnel zur Linken.
Fain ging hinein.
Der Änderung wußte offensichtlich, wohin er wollte. Fain wünschte sich, es ebenfalls zu wissen. Schon jetzt hatte er sich hoffnungslos verirrt. Die Fährte, die er auf Scorpios Spuren verfolgte, verlief in einem irrsinnigen Zickzackkurs. Das konnte Zufall sein – weil der Änderung verzweifelt versuchte zu entkommen –, aber Fain zweifelte daran. Der Änderung hatte zuviel Zeit gehabt. In Danons Gestalt hatte er keinen Grund gehabt, sich vor Fain zu fürchten. Er hatte jederzeit genau gewußt, was er vorhatte. Fain gab sich selbst die Schuld daran. Er hätte es wissen müssen. Danon hatte so große Angst vor dem Hund gehabt. Danon war bei jedem Änderung-Zwischenfall dabeigewesen. Danon hatte problemlos Zugang zu den Straßen der Stadt und zur Großen Halle gehabt. Fain hätte es wissen müssen – und er hatte es nicht gewußt. War es jetzt zu spät, zurückzugewinnen, was er durch sein Versagen verloren hatte? Der Änderung glaubte es anscheinend. Er hatte sich offenbart, wo er hätte verborgen bleiben können. Er hatte über ihn gelacht und ihn offen verhöhnt. Der Aufruhr oben in der Stadt. Die Explosion von Haß gegen die Erde. Der offensichtliche Fehlschlag bei der zentralen Versammlung. Der Änderung hielt sich für den Sieger, aber Fain selbst war davon weniger überzeugt. Vielleicht hatte er noch eine Chance. Wenn er den Änderung jetzt zu fassen bekäme, wenn er ihn töten könnte, dann wäre Skallon – oder sonst jemand – vielleicht in der Lage zu reparieren, was zerstört worden war. Die Chance war gering, aber zumindest würde er das Vergnügen haben, seinen Feind tot zu sehen. Zuletzt gelacht. Das war doch etwas.
„Fain. Hier. Entlang.“ Er folgte der Stimme des Hundes, schlüpfte unter einem niedrigen Bogen hindurch und überquerte eine Brücke, die über einen schmalen Bach führte.
„Scorpio“, rief er. „Wie nah sind wir?“
„Sehr nah, Fain. In der Tat sehr nah.“
Er erstarrte. Das war nicht Scorpios Stimme. Sie gehörte jemand anderem – jemandem, den er nicht kannte.
„Scorpio, was ist los?“
Schweigen.
„Scorpio, bist du da?“
Dann leuchtete er umher. Während der letzten paar Sekunden, bevor er den Hund gerufen hatte, hatte er ein gewisses Gefühl der Vertrautheit empfunden: Er war hier schon einmal gewesen.
Jetzt, im Lichtkreis der Handlampe, sah er die runde Mündung des Tunnels, hinter dem er Skallon versteckt hatte.
Er sah auch die Nische, in der Scorpio hatte warten sollen. Und in der Nische hing eine Pfote. Eine Hundepfote. Scorpios Pfote.
Fain ging hinüber, richtete den Strahl der Lampe nach oben und sah hinauf. Das rote, versengte Loch in der Flanke des Hundes war groß genug, um einen Laternenpfahl aufzunehmen. Die Augen waren offen, aber sie sahen nichts. Tot. Fain berührte das kalte Fell. Tot, und zwar schon seit einiger Zeit.
Und das bedeutete, daß er die ganze Zeit, im Zickzack durch Tunnel und Gewölbe stolpernd wie ein Narr, dem Änderung gefolgt war – und nur dem Änderung.
Etwas in Fain wallte auf, strömte über. Er vergaß Skallon, der gefesselt in der Zelle saß, vergaß die Lampe in seiner Hand. Scorpio. Scorpio. Fain stolperte. Er stürzte. Prallte mit dem Gesicht gegen eine massive Wand. Spritzte bis an die Hüften versunken durch einen stinkenden Tümpel. Er mußte hinaus, den Änderung finden.