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Skallon trieb aus hohlem, pelzigem Schlaf an die Oberfläche. Er hörte das vertraute Gemurmel der Menschen ringsumher, seiner Schlafgenossen in den Unterkünften des Instituts. Er wußte, wenn er sich konzentrierte, würde er das zornige Getuschel der Spieler in der Ecke hören, wo ein paar Schwachköpfe ihren Wochenverdienst in einer einzigen Stunde verloren. Oder er könnte das Grunzen der alltäglichen Paarung auf der Pritsche neben ihm belauschen, wo ein bleiches Mädchen seine mageren Schenkel einmal mehr um einen verdrossenen, benommenen Mann schlang, der sich dumpf in sie hineinpflügte, heraus und wieder hinein mit neuem Stoß, in einem Rhythmus, den sie anscheinend mühelos aufnahm, arbeitend, ächzend, hinein, heraus, mit trüben, glasigen Augen, ohne das Klappern der Tassen auf den Eisenrohren neben ihr zu hören, oder das flache, rasselnde Lachen der drei nackten Männer, die neben ihrer Pritsche anstanden, bis sie an der Reihe waren. Morgens war sie immer verfügbar, bevor sie dann aufstand und zur Arbeit ging, mit schmalen Augen und umgeben von einem Schimmer stählerner Effizienz. Das Mädchen keuchte gelegentlich, schnell, erhitzt und krampfhaft. Verschwommen dachte Skallon daran, sich selbst auf sie zu rollen, wenn die anderen fertig wären, um sich von einer drängenden Spannung zu befreien – aber dann, als er immer höher ins Bewußtsein aufstieg, schreckte er vor diesem Gedanken zurück, wie er es immer getan hatte; er wußte, daß dieser Impuls ein Teil seiner selbst war, doch er wollte ihn sich jetzt nicht eingestehen, und so klammerte er sich an die zerknüllten Laken und drehte sich um, vergrub sich vor den Geräuschen, während die Steifheit zwischen seinen Beinen langsam dahinschwand. Um den Gedanken auszulöschen, konzentrierte er sich auf das gedämpfte Gemurmel, das den langgestreckten Raum erfüllte; er zwang sich, gänzlich aufzuwachen, und öffnete ein Auge …
Die abblätternde Tapete, das lohfarbene Sonnenlicht, die würzige Luft von Alvea, alles das strömte auf ihn ein.
Er sog die Luft in seine Lungen. Die Unterkunft löste sich auf, und er war hier, auf Alvea, endlich. Das magere Mädchen, das an jedem Morgen jeden bediente, der kam, war nichts als eine saure Erinnerung – und er erinnerte sich, ja, er hatte sie sich eines Morgens vorgenommen. Er war schlaftrunken gewesen, und sie hatte kein Wort gesagt. Aber hier war Joane statt ihrer, und anstatt wieder einen Tag mit den Tapes zu verbringen, konnte er das unsaubere Zimmer verlassen, und draußen würde er Alvea finden.
Er richtete sich auf und ächzte. Ein Chor von Schmerzen begleitete jede seiner Bewegungen. Unfaßbar, wenn man daran dachte, daß die Gravitation von Alvea geringer war als die der Erde. Andererseits, erinnerte Skallon sich, mußte er sich einen neuen Gang und neue Bewegungen angewöhnen. Neue Muskeln knirschten, als er sich anzog. Dazu kamen die unbequeme Wattierung, die ihn fett erscheinen lassen sollte, und die unförmigen Doubluth-Gewänder selbst. Dennoch war er über seinen Muskelkater überrascht. Immerhin war seine körperliche Kondition hervorragend, wie er wußte. Darauf war er stolz. Ein seltsam schmerzliches Gefühl der Verletzlichkeit überkam ihn. Vielleicht war es das, was man empfand, wenn man alt wurde.
Er schüttelte sein Unbehagen ab und verließ das enge Zimmer. Das Hotel wirkte nicht mehr so geheimnisvoll und schmutzig wie in der Nacht. Vielleicht hatte jemand den Fußboden gekehrt oder sonstwie saubergemacht. Er folgte seiner Nase zur Küche. Er gelangte zu einer dicken Holztür und stieß sie auf. Ein Gewirr von Stimmen rollte über ihn hinweg. Ein Dutzend Leute saßen auf Schemeln um ein riesiges Feuer herum; vorsichtig hielten sie Tassen in ihren Händen, dampfend in der Kühle des Morgens unter den Öllampen. Einige Augenpaare bemerkten ihn, betrachteten ihn einen Moment lang und wandten sich dann wieder ab. Der Raum war fast rund. Die Decke lag hoch, und es roch muffig. Fenster, die das Tageslicht hereingelassen hätten, gab es nicht.
Skallon nickte und ließ die Tür krachend ins Schloß fallen, ohne einzutreten. Dies mußte das Communal sein, das gesellschaftliche Zentrum jedes Hauses und jeder Herberge. Es war eine archaische Institution, ein Überbleibsel aus den alten Zeiten, da die Menschen sich allmählich an die starke UV-Einstrahlung von der alveanischen Sonne anpaßten. In den Anfangstagen war es mitunter erforderlich gewesen, daß die gesamte Bevölkerung einer Stadt sich für eine beträchtliche Zeit in den Untergrund zurückzog, und es war mehr als wahrscheinlich, daß unter den Straßen und Häusern von Kalic ein komplexes System von Höhlen und Tunnels für diesen Zweck lag. Das Communal stammte aus der darauffolgenden Zeit, als die frühen Kolonisten während der Mittagszeit Schulz in einem fensterlosen Raum suchten, der aus Gründen der Zweckmäßigkeit zumeist im Keller gelegen war. Natürlich war es nicht notwendig, alle Fenster zu eliminieren, denn gewöhnliches Glas konnte die ultraviolette Strahlung aufhalten. Aber das Gefühl, völlig drinnen zu sein, versteckt und sicher in einem von Menschen geschaffenen Schlupfloch, schaffte einen wichtigen psychologischen Effekt. Und so wurden die ausgedehnten Mittagspausen, die ungeheuer üppigen Mahlzeiten und die darauf folgenden Nickerchen zu einer alveanischen Sitte, selbst als genetische Adaption die Alveaner längst gegen ihre strahlenspeiende Sonne immun gemacht hatte.
Skallon fand seinen Weg durch Korridore, an die er sich erinnerte. Er drückte eine Tür auf und fand sich in einer Küche. Joanes Profil betrachtete nachdenklich einen Berg von Konfekt. Als er eintrat, wandte sie sich ihm zu.
„Oh, guten Morgen“, sagte sie mit sanfter Stimme.
„Ihr seht sehr hübsch aus, im Sonnenlicht“, sagte Skallon, und er war ein wenig verlegen. Irgendwie sah sie in den Strahlen der Sonne tatsächlich besser aus.
„Oh, vielen Dank. Unser Gespräch gestern abend hat mir gut gefallen.“
„Ach. Ja, mir auch. Ist mein … Partner …?“
„Er frühstückt. Dort.“ Sie deutete auf einen Durchgang. Skallon schaute in den angrenzenden Raum und sah, wie Fain methodisch einen Teller mit grauem Brei auslöffelte. Scorpio lag kauend unter dem Tisch. Es war derselbe Raum, in dem sie auch gestern abend gegessen halten, jetzt allerdings wirkte er ein wenig ordentlicher. Wahrscheinlich war Joane schon früh aufgestanden, um aufzuräumen. Zufrieden nickte Skallon. Es waren gute, zuverlässige Leute.
Fain blickte auf und betrachtete ihn gleichmütig, als dächte er über etwas nach.
„Hol dir etwas zu essen“, sagte Fain.
„Gutes. Essen“, fügte Scorpio hinzu. Skallon fragte sich, ob der Hund versuchte, sich zu unterhalten. War das möglich? Er schien eigentlich nicht intelligent genug dazu. Andererseits war es schwer zu sagen.
Joane reichte ihm einen Teller mit einer schaumigen Masse; Fleischklumpen schwammen in einer bräunlichen Paste, dazwischen befand sich undefinierbares Gemüse. Er setzte sich Fain gegenüber an den Tisch. Nach ein paar Bissen warf Fain seinen Löffel auf den Tisch, daß es nach allen Seiten spritzte. „Genug davon. Diese Brühe esse ich nicht.“
„Etwas anderes gibt es hier nicht.“
„Ich habe Notrationen bei mir. Damit und mit dem Wasser, das sie hier haben – und das im übrigen ebenfalls grauenhaft ist – werde ich schon zurechtkommen.“
„Alveanisches Essen ist eigentlich ziemlich raffiniert. Und ich finde dieses complannet auch nicht so schrecklich.“
„Du wirst krank werden davon.“
„Das bezweifle ich. Wir haben eine interne Bakteriophagen-Behandlung bekommen, bevor wir die Erde verließen. Es gibt eigentlich keinen …“
„Das Fleisch gestern abend hat ganz ordentlich geschmeckt. Aber vor einer Stunde habe ich alles wieder ausgekotzt, unverdaut.“
„Das ist die Metaphasenumstellung. In ein oder zwei Tagen …“
„Du kannst mich! Ich werde mir jetzt einen Proteinmix aufmachen. Wo gibt’s denn hier Wasser?“
Fain schlug mit der Faust auf den Tisch. Als niemand erschien, stampfte er hinaus. Einen Moment später lugte Joane durch die offene Tür und hob fragend eine Augenbraue. Skallon zuckte die Achseln. Er gab die pantomimische Darstellung eines Wutausbruchs, schlug lautlos mit der Faust auf den rohen Holztisch und bleckte die Zähne. Sie kicherte. Er zuckle noch einmal die Schultern und winkte ihr zu verschwinden, denn Fain kam polternd durch eine Seitentür zurück. In der einen Hand hielt er eine Wasserflasche, während er mit dem Daumen der anderen die Verpackung von einem Proteinriegel löste.
Skallon aß schweigend, während Fain krachend seinen Proteinriegel verzehrte. Mit glasklarem Bewußtsein hörte er Joane in der Küche mit Tellern und Töpfen klappern. Irgend etwas an ihr faszinierte ihn. Eine gewisse Art, den Kopf zu heben und zu drehen, wenn sie sprach. Jetzt, wo er darüber nachdachte, fand er, daß ihre Nase eigentlich überhaupt nicht zu lang war. Sie paßte zu ihrem Gesicht, gab ihm eine gewisse Ausgeglichenheit.
Diese Halbwahrheit, daß man ihn aus heiterem Himmel Für diese Mission ausgewählt habe, halte er ihr wahrscheinlich nicht auftischen sollen. Er kaute auf dem säuerlichen Fleisch des complannet und dachte an die letzten Wochen des Feldtrainings, als ihm der Gedanke gekommen war und als er ihn, ohne viel darüber nachzudenken, in die Tat umgesetzt hatte.
Zuerst hatte er eine Riechgranate präpariert, so daß sie eine Spur salzempfindlicher als nötig war. Als er sie auf der Patrouille abwarf, hatte sie sich natürlich aktiviert. Slocum war zweihundert Meter hinter ihm. Der reaktionsschnelle Slocum, der grimmige Slocum, der unumstrittene Hauptkandidat für Alvea. Als der Riechsensor ihn erfaßt hatte, ging Slocums Abschirmung augenblicklich hoch, aber ein Splitter drang trotzdem durch. Ein sauberer Oberschenkeldurchschuß. Slocum blutete, als habe jemand einen Hahn geöffnet, und er wimmerte wie ein kleiner Junge, während sie auf die Sanitätsflieger warteten.
Und dann Ising. Mit dem war es leichter. Ising war ein Gewohnheitstier.
Jeden Morgen vor einem Übungsmanöver reinigte Ising den Lauf seines Megajoule-Flammenstrahlers. Eines Morgens war zufällig eine Spur von Butyl-Dunst darin gewesen. Der Lauf explodierte, und eine Stichflamme fuhr heraus. Eine ganze Wand der Waffenkammer geriet in Brand, das Feuer erfaßte Isings rechten Arm und brannte zwei tiefe Löcher durch die Isolationsschicht. Das Ergebnis waren Verbrennungen dritten Grades. Es dauerte mehrere Wochen, bis das Gewebe nachgewachsen war.
Damit war nur noch Skallon übrig. Ein ganz ordentlicher Kandidat für den zweiten Mann im Alvea-Team, wenn und falls ein solches Team erforderlich sein würde. Aber natürlich hatte jedermann schon seit Wochen gewußt, daß sich da eine Krise zusammenbraute. Alvea geriet allmählich außer Kontrolle. Die Nachricht, daß ein Änderung entkommen war, ließ die Sache zusätzlich in einem anderen Licht erscheinen. Skallon hatte erwartet, daß man zwei Alvea-Spezialisten vom Institut anfordern würde, die dann auf Superlicht-Trägern dorthin reisen und die Exportbeziehungen zur Erde kräftigen sollten. Mit dem Änderung hatte er eigentlich nicht gerechnet.
„Schmeckt das Zeug besser als complannet?“ fragte er Fain.
„Hm. ’scheinlich nicht.“
„Bestimmte einheimische Nahrungsmittel wirst du essen müssen, weißt du.“
Fain zeigte zurückhaltendes Interesse. „Wieso?“
„Zur Tarnung. Du hast doch gemerkt, daß die Alveaner einen stechenden Geruch an sich haben.“ Fain nickte. „Balajan-Kraut. Es ist in ihrem Essen. Eigentlich nicht schlecht. Ein mildes Gewürz. Aber wenn du nicht danach riechst, wird es irgendwann jemand bemerken und sich fragen, wieso nicht.“
„So lange werden wir gar nicht hier sein, daß es darauf ankäme.“
„Was?“
„Ich will das jetzt gleich erledigen. Iß auf, und dann gehen wir.“
„Wohin?“
„Ich will, daß du dich ein bißchen in den Straßen umsiehst. Du sollst feststellen, was für wichtige Zusammenkünfte stattfinden.“
„Wichtig in welcher Hinsicht?“
„Für den Änderung. Je nachdem, welcher Weg ihn am schnellsten an die Spitze der Machtstruktur führt. Dort werden wir ihn finden.“
„Ich verstehe. In Ordnung. Ich werde es herausfinden, aber ich möchte Danon mitnehmen. Er kennt sich in der Stadt aus. Er kann mir sagen, wo ich wahrscheinlich Tratsch aufschnappen werde und wo echte Informationen.“
„Wieso nimmst du nicht den Alten mit?“
„Kish?“ Skallon überlegte einen Augenblick. „Nein, er ist nicht der Richtige. Aus irgendeinem Grund ist er ein Versager. Ich glaube, weil er kein gutes Urteilsvermögen hat.“
Fain nickte. „Das denke ich auch. Dann gib dem Kleinen aber ein Armbandradio. Dadurch kannst du ihn besser einsetzen, und er kann allein herumschnüffeln. Sag ihm, er soll es unter dem Ärmel verstecken. Wir wollen ja nicht, daß jemand auf die Idee kommt, es könnten sich Erdler in der Stadt herumtreiben.“
Sie aßen weiter. Skallon verspürte ein sonderbares Gefühl der Freude, weil Fain ihm zugestimmt hatte. Als er mit seinem Frühstück fertig war, bat er Joane, die ihm diese Idee eingegeben hatte, Danon zu rufen. Der Junge war einverstanden, ihn auf die Märkte und Basare von Kalic zu führen, um Informationen auszugraben. Er gab Danon ein Armbandradio und zeigte ihm, wie man es bediente.
Danach lungerte Skallon noch eine Weile in der Küche herum und wechselte ein paar Worte mit Joane. Sie spülte die schmierigen Teller und benutzte hierzu kaltes Wasser und eine graue Seife. Erst als er und Danon im Begriff waren hinauszugehen, fiel ihm ein, daß alveanische Frauen niemanden außer ihren Ehemännern bedienten. Dennoch hatte sie ihm und Fain das Frühstück serviert. Er fragte sich, was das bedeuten mochte.