12
Der Abend war längst herabgesunken. Skallon wanderte durch die kühler werdende Luft zwischen einzelnen Gruppen von feiertäglichen Alveanern, Nachzüglern, die alle von den Versammlungen in der Stadtmitte von Kalic kamen. Sein Gang war gelassen, beinahe unbekümmert; er versuchte, den Eindruck zu vermitteln, als dächte er nicht daran, daß er verfolgt werden könnte. Gelassen, ja. Achtlos.
Ein oder zwei Blocks hinter ihm, das wußte er, hielt Fain sich im Schatten der Straße. Scorpio war bei ihm, froh, daß er endlich einmal frei umherstöbern konnte, geschützt von der alles umhüllenden Dunkelheit. Wenn Kalic eine Stadt auf der Erde gewesen wäre, wären immer dort, wo ein Lebewesen vorüberging, die Leuchtkörper aufgeflammt und hätten so eine Lichtspur auf der Straße gebildet – das kostete nur die nötigste Energie, vermittelte aber vollständige Daten über jeden, der sich in den Straßen herumtrieb, und damit leicht zugängliche Informationen für die Computerüberwachung. In Kalic gab es willkommene Schatteninseln und ganze Blocks ohne eine einzige Laterne. Arme Planeten hatten eben auch ihre Vorteile.
Skallon blieb stehen, sah sich müßig um und kaufte sich ein Brötchen aus heißem Quantimakas-Samen, bestreut mit Dollegen-Kräutern. Er verzehrte es und genoß den aromatischen, knusprigen Geschmack. Lungerte da jemand an einer Straßenecke herum, einen halben Block weit hinter ihm? Er konnte es nicht genau erkennen. Fain konnte ihm so nah nicht sein.
Also funktionierte es vielleicht tatsächlich. Fain hatte diesen alten Doppelverfolger-Trick vorgeschlagen, als sie das Haus verließen. Sie funkten Danon an und sagten ihm, er solle bleiben, wo er war und sich noch wenigstens eine Stunde in den Schatten versteckt hallen. Dann war Skallon unerschrocken losmarschiert, in der Hoffnung, daß der Änderung in der Nähe geblieben war, um zuzusehen, wie seine List aufging. Fain würde ihm auf einer leicht veränderten Route folgen und ihn beschatten, um zu sehen, ob ihm jemand folgte.
Erst als Skallon auf der Straße stand, begriff er, welches Risiko er damit einging. Was sollte den Änderung daran hindern, ihm ein sauberes Brandloch in die Brust zu schmoren, wenn er aus dem Hause trat? Auf der beinahe ausgestorbenen Straße war er eine einfache, dumme Zielscheibe.
Krachend biß er in das Quantimakas-Brot, und Ärger stieg in ihm auf. Er war jetzt sieben Blocks weit gekommen. Entweder hatte Fain jemanden ausgemacht, der ihn verfolgte, oder nicht. Vielleicht war Fain auch allzu sehr mit seinem kostbaren Hund beschäftigt, um ein Auge auf die vorübertreibenden Gestalten und ihre Gewänder zu haben. Das wäre typisch.
Vor ihm ergoß sich helles Licht über die geschnitzte, mahagonifarbene Fassade eines öffentlichen Gebäudes. Das Planetarische Museum, beaufsichtigt von zwei in safrangelbe Gewänder gekleideten Wächtern aus der Kaste der Spatemper, die im Torbogen standen. Skallon streichelte über das polierte Holz; es war natürlich kein Mahagoni – dieses alte Holz gab es nicht mehr –, aber etwas Ähnliches, mit sanften Wirbeln und Strudeln in der Maserung. Er zögerte. Hier herein würden Fain und Scorpio ihm selbstverständlich nicht folgen können, aber der Änderung sehr wohl. Allerdings bezweifelte er, daß der Änderung ihn an einem öffentlichen Ort überfallen würde. Dazu hatte er den ganzen Tag über reichlich Gelegenheit gehabt.
Und es wäre ein unerwarteter Schachzug. Vielleicht gefiel es ihm deswegen. Fain würde frustriert sein – aber was scherte ihn das? Fains alberne Wutanfälle bei dem Fiasko der Jagd waren geradezu lächerlich. Warum konnte der Mann nicht mit kühlem Kopfüber diese Dinge nachdenken? Zugegeben, der Änderung ließ sie immer wieder in eine Sackgasse laufen. Aber warum auch nicht? Vielleicht dachte er, er könne seine Aufgabe ohne viel Blutvergießen erledigen. Vielleicht hatte auch die Erde überhaupt nicht begriffen, aus welchem Grund der Änderung hier war.
Skallon schluckte sein würziges Brot hinunter und trat durch den Torbogen in das Gebäude, ein Gewölbe mit hoher, gerippter Decke und durchbrochenen Steinverzierungen. Fain konnte draußen stehenbleiben und aufpassen, ob ihm jemand nachging. Falls nicht, würde Skallon wenigstens ein paar erfreuliche Minuten haben.
Hinter dem Gitter des Eingangs stand eine alte, polierte Außenhaut. Skallon betrachtete sie, in der Hoffnung, daß sich jemand darin spiegeln könnte, der im Eingang herumstand und darauf wartete, daß er herauskam. Eine junge Frau verließ mit unsicherem Gang das Gebäude, aber niemand kam herein.
Skallon las, was auf der Erläuterungstafel stand: Es war ein Fragment des ersten unbemannten Orbiter-Landers, der Alvea erforscht hatte. Darüber hingen Hochglanzphotos, die noch früher entstanden waren, aufgenommen von der vorüberziehenden, raketengetriebenen Sonde. (Wo mag sie wohl jetzt sein? dachte Skallon. Wahrscheinlich schon jenseits der Grenzen der Galaxis.) Dieses vormenschliche Alvea war eine fleckige Welt aus Ozeanen, und seine Kontinente waren braune Kleckse. Die ersten Kolonisten hatten sich die Mühe gemacht, die Landungssonde aufzustöbern, und einer der alten Künstler hatte dann mit dem Laser facettenartige Szenen darauf angebracht, Bilder aus den ersten Jahren der Kolonie, aus den Dekaden des Reichtums und aus dem ersten Jahrhundert, bis zu der Zeit der ersten Seuchen: Stockatem und Krampffäule. Eine dieser beiden Krankheiten hatte wahrscheinlich auch diesen Künstler dahingerafft.
Skallon schlenderte weiter und betrachtete den leeren Bogengang. Er fand sich in einer historischen Bildergalerie. Sozialdokumentarische Arbeiten zum größten Teil, und von erstaunlicher Qualität. Viele Pastelle und ein paar Ölgemälde. Die Armen waren auf allen schlank, und ihre Gesichter waren düster, bleich und ernst. Alle offensichtlich guten Menschen – diejenigen, die ohne Murren ihren Platz in der Gesellschaft einnahmen – waren hingegen korpulent, dickhalsig und prall von satter, unerschütterlicher Tugend. Sie strahlten ihn an. Glückliche Leute, die sicher waren, daß ihr Weg sie durch alle Schichten der alveanischen Hierarchie führen würde, und die wußten, daß Gommerset ihnen den einzigen wahren Weg gewiesen hatte, und so waren sie hier verewigt, die einzigen Spuren, die von ihnen geblieben waren.
Es sei denn, dachte Skallon, Gommerset hätte recht gehabt. Joanes ruhige, schlaue Einwände waren unter die Schale seiner eigenen, glasharten Gewißheit geglitten, und jetzt bohrten sie dort, wo er es am wenigsten gebrauchen konnte. Es stimmte, daß man Gommerset nach seinem Tode diskreditiert hatte, als er sich nicht mehr zur Wehr setzen konnte, und seine Jünger hatte man in alle Winde zerstreut. Die Regierung der Erde war dem Gommersetismus gegenüber feindlich eingestellt, und sie war es immer gewesen. Hatte sie die neuen Daten manipuliert? Es wäre der Regierung zuzutrauen, daß sie eine solche folgenschwere Tatsache unter den Teppich kehrte.
Etwas regte sich in Skallon. Wenn Gommerset recht hätte, und sei es auch nur teilweise …
Er schüttelte sich. Dieser Glaube implizierte ein unermeßlich viel größeres Universum, als Skallon es sich jemals vorgestellt hatte. Es würde eine Weile dauern, bis er das begreifen könnte. Aber wie sollte er tatsächlich zu einer Entscheidung gelangen? Die Gommersetismus-Forschung war auf der Erde schon vor Jahrhunderten eingestellt worden, verboten durch die Verordnungen über Wesentliche Aktivitäten. Nein, der einzige Ort, an dem man den Gommersetismus ungehindert untersuchen konnte, war Alvea. Vielleicht konnte er etwas in Gang bringen, solange er noch hier war. Es war ein komisches Problem: geringe Wahrscheinlichkeit dafür, daß Gommerset recht hatte, aber ein buchstäblich grenzenloser Gewinn an Verständnis, wenn er recht hatte. Plötzlich verlangte es Skallon danach, zu wissen; er wollte sehen, ob es möglich war, daß der Rest der Menschheit sich in einer so ungeheuerlichen Frage irrte. Wenn er nur etwas tun könnte …
Ein Wächter der Spatemper-Kaste schritt durch die widerhallende Galerie und mahnte die Besucher zum Aufbruch. Das Museum wurde geschlossen, wenngleich es noch früh am Abend war. Die Alveaner wollten sich auf den Weg machen, um sich in ihren Communals zu versammeln und das Fest zu feiern.
Skallon begab sich vorsichtig hinaus. Er studierte jede Person, die aus den angrenzenden Gewölben kam. Die rötliche Steintäfelung reflektierte das plappernde Geschnatter dieser Menschen, und Skallon entspannte sich. Er fühlte eine Geborgenheit, die er schon seil Stunden nicht mehr empfunden hatte.
Auf der Straße wandte er sich nach rechts, ging rasch einen Block weiter und blieb dann in einem versteckten Bogengang stehen. Einen Augenblick später hörte er ein Keuchen in der Dunkelheit, und dann erschien Fain, gefolgt von Scorpio.
„Was zum Teufel sollte das?“
„Es sollte zeigen, ob mir jemand folgte.“
„Hat es aber nicht.“
„Na, vorher hast du doch auch niemanden gesehen, oder?“
„Nein“, antwortete Fain widerstrebend.
„Dann war dieser Schlenker immerhin einen Versuch wert. Stimmt’s? Komm jetzt. Laß uns zum Hotel zurückgehen. Vielleicht hat Danon etwas gesehen. Wir haben über einiges nachzudenken.“