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„Ist Jo­a­ne ges­tern bei dir ge­we­sen?“ frag­te Fain Skal­lon. Die bei­den Män­ner wat­schel­ten mit ge­üb­ter Leich­tig­keit durch die vom Mor­gen­ver­kehr ver­stopf­ten Stra­ßen von Ka­lic. Fain, der sich der di­cken Wat­te­pols­ter, die sich um sei­ne Tail­le schlan­gen, kaum noch be­wußt war, sprach mit lau­ter Stim­me, um den ste­ti­gen Rhyth­mus ei­ner Pro­zes­si­on sin­gen­der Mön­che zu über­tö­nen, die ih­nen vor­aus­ging. Er glaub­te, sich nach all den Ta­gen hier auf die­ser Welt end­lich hei­misch zu füh­len. Skal­lon hät­te ihm dar­in al­ler­dings nicht zu­ge­stimmt. Skal­lon hat­te fort­ge­setzt an sei­nem Ak­zent, sei­nen Ma­nie­ren und sei­ner Hal­tung her­um­zumä­keln. Aber Fain wuß­te, daß es dar­um nicht ging. Es ging dar­um, wie er sich selbst fühl­te. Und er fühl­te sich wohl. Der Än­de­rung wür­de – könn­te – sich nie­mals wohl­füh­len. Kein Än­de­rung fühl­te sich je­mals ir­gend­wo hei­misch, viel­leicht nicht ein­mal auf sei­ner ei­ge­nen Welt. Und das war ein Vor­teil. Fain hat­te die Ab­sicht, die­sen Vor­teil zu nut­zen.

Skal­lon schüt­tel­te den Kopf. „Nein, ich ha­be sie seit ges­tern mor­gen nicht mehr ge­se­hen. Hat sie nach mir ge­sucht?“

„Nein, sie nicht. Kish. Er kam letz­te Nacht auf mein Zim­mer und frag­te mich, ob ich sie ge­se­hen hät­te.“

„Und was hast du ge­sagt?“

„Ich ha­be ge­lo­gen. Mir wä­re, als hät­te ich sie aus­ge­hen se­hen, sag­te ich ihm.“

Skal­lon zuck­te die Ach­seln. „Wahr­schein­lich war es auch so. Sie geht oft nachts aus – zu ei­nem der Tem­pel.“

„Viel­leicht war es das.“

„Es über­rascht mich nur, daß Kish sich die Mü­he ge­macht hat, nach ihr zu su­chen.“

„Viel­leicht woll­te er sei­ne So­cken ge­wa­schen ha­ben.“

„Al­vea­ner tra­gen kei­ne So­cken.“

„Dann eben sein Ge­wand.“ Fain sah kei­nen Grund, das The­ma wei­ter zu ver­fol­gen. Als ers­tes hat­te er am Mor­gen, ge­nau wie er es sich in der Nacht ver­spro­chen hat­te, Scor­pio still­schwei­gend in die Kü­che ge­schmug­gelt und den Wirt aus der Nä­he be­schnüf­feln las­sen. Das Re­sul­tat war ne­ga­tiv: Kish war nur Kish. Fain hat­te ein­ge­se­hen, daß ein un­ter­schwel­li­ges Schuld­ge­fühl sei­nem Arg­wohn der ver­gan­ge­nen Nacht Nah­rung ge­ge­ben hal­te, und er hal­te ei­ne selt­sa­me Mi­schung aus Ent­täu­schung und Er­leich­te­rung emp­fun­den, als der Hund ver­nein­te. Wenn Kish sich schließ­lich als Än­de­rung er­wie­sen hät­te, wä­re al­les so ein­fach ge­we­sen: Ein ein­zi­ger, kur­z­er Feu­er­stoß aus dem Hit­ze­strah­ler, und der Job wä­re er­le­digt. Ein­fach, ja, und viel­leicht zu ein­fach. Fain wuß­te, daß er ei­ne grö­ße­re Her­aus­for­de­rung brauch­te, um das Ver­trau­en in sei­ne ei­ge­nen Fä­hig­kei­ten, das er ein­mal be­ses­sen hat­te, zu er­neu­ern. Und jetzt war die Her­aus­for­de­rung wie­der da. Aber war er auch be­reit, ihr ent­ge­gen­zu­tre­ten?

Ei­ne vor­über­zie­hen­de Pro­zes­si­on von jun­gen, leuch­tend be­mal­ten Frau­en in sil­ber­nen Ge­wän­dern lenk­te sei­ne Auf­merk­sam­keit für ei­ne Wei­le von sei­nen ei­ge­nen Ge­dan­ken­gän­gen ab. Die Ge­wän­der der Frau­en en­de­ten weil ober­halb ih­rer nack­ten Knie. Er konn­te sich nicht ent­sin­nen, ein öf­fent­lich zur Schau ge­tra­ge­nes nack­tes Bein ge­se­hen zu ha­ben, seit er auf die­sem Pla­ne­ten an­ge­kom­men war.

Skal­lon lä­chel­te. „Kai­ser­li­che Kon­ku­bi­nen“, er­klär­te er. „Es hat nie­mals so et­was wie einen Kai­ser auf Al­vea ge­ge­ben, aber der Ur­sprung der Kas­te geht auf die Gom­mer­set-Ära der Er­de zu­rück, und die Al­vea­ner ha­ben es nie für nö­tig ge­hall­ten, dar­an et­was zu än­dern.“

Kopf­schüt­telnd starr­te Fain den Frau­en nach. „Ich glau­be ich kann ver­ste­hen, warum.“

„Und es sind al­les Jung­frau­en. Sie woh­nen in klei­nen Häu­sern in der Nä­he der Tem­pel und le­ben von öf­fent­li­chen Al­mo­sen. Man sieht sie nur ein­mal im Jahr in der Öf­fent­lich­keit, zur Zeit des Fes­tes. Sex ist ih­nen ver­bo­ten, denn sie sind für den Kai­ser re­ser­viert, und einen Kai­ser gibt es nicht.“

„Wo­her kommt denn dann der Nach­wuchs? Ich dach­te, der sprin­gen­de Punkt beim Kas­ten­sys­tem sei, daß der Sohn die Zu­ge­hö­rig­keil vom Va­ter erbt.“

„Nicht bei die­sen Frau­en. Sie wer­den aus­er­wählt. Die hüb­sche­s­ten Mäd­chen des gan­zen Pla­ne­ten.“

„Ist das kein Wi­der­spruch?“

Skal­lon zuck­te die Ach­seln. „Ich den­ke schon. Aber ei­nem Al­vea­ner darfst du das nicht sa­gen. Ich bin si­cher, er hät­te ei­ne Er­klä­rung.“

„Dann ist es wahr­schein­lich am bes­ten, wenn man häß­lich auf die Welt kommt.“

„Wie­so?“

„Weil ich mir nicht vor­stel­len kann, daß das Le­ben als jung­fräu­li­che Kon­ku­bi­ne be­son­ders viel Spaß macht.“

„Für wel­che Frau macht das Le­ben auf die­sem Pla­ne­ten schon Spaß?“

Fain fühl­te sich ver­sucht, die­se Fra­ge zu be­ant­wor­ten, aber er be­schloß, Skal­lons Ge­füh­le nicht zu ver­let­zen. Au­ßer­dem, wer war er. daß er Jo­a­nes Mo­ral kri­ti­sier­te? Das, was sie tat, wä­re auf der Er­de völ­lig nor­mal.

„Wir soll­ten ma­chen, daß wir wei­ter­kom­men“, sag­te Fain. Die Men­schen­men­ge, die größ­ten­teils ste­hen­ge­blie­ben war, um die Pro­zes­si­on zu se­hen, ström­te eben­falls wei­ter. Fain führ­te Skal­lon mit­ten hin­ein.

Sie wa­ren ein paar Blocks wei­ter in Rich­tung auf die Große Hal­le zu­ge­gan­gen, als Fain noch et­was ein­fiel. „Wo ist Da­non heu­te? Hat er be­schlos­sen, zu Hau­se zu blei­ben und zur Ab­wechs­lung mal zu ar­bei­ten?“

„Nein. Er muß­te heu­te sehr früh fort, kurz be­vor du mit Scor­pio her­un­ter­kamst. Er woll­te ver­su­chen, uns bei der Hal­le zu tref­fen.“

„Gut.“ Trotz sei­ner ur­sprüng­li­chen Zu­rück­hal­tung hat­te Fain mitt­ler­wei­le zu­ge­ben müs­sen, daß die Un­ter­stüt­zung des Jun­gen hilf­reich war. Da­n­ons Kennt­nis der ein­hei­mi­schen Ge­bräu­che über­traf Skal­lons Schul­weis­hei­ten bei wei­tem. Mehr­mals schon hat­te der Jun­ge ih­nen aus ei­ner miß­li­chen La­ge ge­hol­fen, in die sie aus ih­rer ei­ge­nen Un­kennt­nis her­aus ge­ra­ten wa­ren. Fain hat­te das deut­li­che Ge­fühl: Wenn je­mand die ge­gen­wär­ti­ge Ver­klei­dung des Än­der­lings er­ken­nen könn­te, dann wä­re das Da­non.

Der Jun­ge er­war­te­te sie auf dem weit­räu­mi­gen Platz, der vor der Großen Hal­le lag. Er wirk­te un­ge­wöhn­lich auf­ge­regt, als er auf sie zu­ge­rannt kam.

„Ich ha­be ihn ge­fun­den!“ rief Da­non. „Es ist Eu­er Feind! Ich ha­be ihn mit ei­ge­nen Au­gen ge­se­hen!“

Fain wür­de nicht noch ein­mal ei­nem falschen Alarm auf­sit­zen. Er be­fahl dem Jun­gen, lei­ser zu spre­chen, und frag­te ihn dann: „Was hast du denn ge­se­hen, daß du so si­cher bist?“

Ver­ständ­nis­los ver­zog der Jun­ge sein Ge­sicht und sah Skal­lon an, der Fains Fra­ge in deut­li­che­rem Ak­zent wie­der­hol­te.

Da­non ant­wor­te­te has­tig und er­regt. Fain fiel es leich­ter, ihn zu ver­ste­hen, als sich selbst ver­ständ­lich zu ma­chen. Da­non sag­te: „Ein Mann in schwar­zen Ge­wän­dern hat die Hal­le be­tre­ten.“

Fain be­merk­te Skal­lons Über­ra­schung, und er wuß­te, daß es sich um et­was Wich­ti­ges han­deln muß­te. „Und?“ frag­te er.

„Das ge­schieht nie­mals“, er­wi­der­te Da­non. „Es ist un­mög­lich.“

Fain wand­te sich an Skal­lon. „Viel­leicht soll­test du mich ein­wei­hen.“

Skal­lon run­zel­te die Stirn; of­fen­bar dach­te er dar­an, wie frucht­los die Schnell­be­hand­lung in al­vea­ni­schen An­ge­le­gen­hei­ten für Fain ge­we­sen war. „Nur ei­ne ein­zi­ge Kas­te auf Al­vea trägt schwar­ze Ge­wän­der: die At­ten­tä­ter. Und Da­non sagt, ei­ner von ih­nen ha­be tat­säch­lich die Hal­le be­tre­ten.“

„So? Viel­leicht soll er je­man­den um­brin­gen. Das ist wohl kaum un­ser Pro­blem.“

Skal­lon sah jetzt noch är­ger­li­cher aus. „Be­greifst du denn über­haupt nichts, Fain? Die­se Leu­te hier glau­ben an die Rein­kar­na­ti­on, an See­len, die von Kör­per zu Kör­per wan­dern. Für sie ist ein Mord ei­ne furcht­ba­re Tat. Er ist ei­ne Un­ter­bre­chung des Le­bens, be­vor es sei­ne wah­re Vollen­dung ge­fun­den hat. Einen Mann tö­ten be­deu­tet mehr als nur, ihn zu tö­ten: Es be­deu­tet, daß er dann nicht wie­der­ge­bo­ren wer­den kann.“

„Das ist doch Quatsch.“

„Aber nicht für sie.“

„Und? Du hast im­mer noch nicht ge­sagt, worum es ei­gent­lich geht.“

„Es geht dar­um“, ant­wor­te­te Skal­lon lang­sam, sei­ne Wut be­zwin­gend, „daß die At­ten­tä­ter ei­gent­lich ei­ne Kas­te von Aus­ge­sto­ße­nen sind. Sie dür­fen nicht mit den an­de­ren Kas­ten spre­chen, nicht mit ih­nen es­sen und über­haupt in kei­ner Wei­se mit ih­nen ver­keh­ren. Wenn jetzt ein At­ten­tä­ter auf die Stra­ße trä­te, wä­re sie in­ner­halb von zwei Mi­nu­ten völ­lig aus­ge­stor­ben. Aber das wür­de kei­ner von ih­nen tun, und das ist der Punkt. Sie zei­gen sich nie­mals in der Öf­fent­lich­keit. Sie fah­ren in Kut­schen, in dunklen Kut­schen mit ver­häng­ten Fens­tern und – dort, siehst du?“

Fain sah in die Rich­tung, die Skal­lon ihm wies, und ent­deck­te, was die­ser so­eben be­schrie­ben hat­te: ei­ne dunkle Kut­sche, de­ren Schlag of­fen­stand.

„Al­so wis­sen wir jetzt, wie er her­kam. Und was soll das?“

„Die Große Hal­le zu be­tre­ten könn­te ei­nem At­ten­tä­ter nur dann ein­fal­len, wenn er über­haupt kei­ner wä­re, son­dern …“

Fain be­en­de­te den Satz: „… der Än­de­rung.“ Er pack­te sei­nen Hit­ze­strah­ler und wand­te sich wie­der an Da­non. „Wann? Wie lan­ge ist er schon da drin?“

„We­ni­ge Au­gen­bli­cke erst“, ant­wor­te­te der Jun­ge. „Ge­ra­de be­vor ich Euch her­an­kom­men sah. Ich sah die Kut­sche, sie hielt an und er – der schwarz­ge­klei­de­te Mann – stieg aus. Ich bin fort­ge­lau­fen, aber ich ha­be ge­se­hen, wie er die Hal­le be­trat.“

Fain blick­te zu dem ho­hen Por­tal hin­über, das vor ih­nen lag.

Wäh­rend sie mit­ein­an­der spra­chen, schrit­ten un­auf­hör­lich An­ge­hö­ri­ge der Ho­hen Kas­ten hin­durch. „Wenn es stimmt, was du sagst, warum sind sie dann nicht her­aus­ge­kom­men? Es müß­te doch einen Auf­ruhr ge­ben.“

„Viel­leicht ha­ben sie zu­viel Angst für einen Auf­ruhr“, mein­te Skal­lon.

Fain muß­te einen Au­gen­blick nach­den­ken. War es mög­lich? Konn­te der Än­de­rung einen so schwe­ren Feh­ler be­ge­hen?

Der Än­de­rung wür­de noch we­ni­ger über die­se Welt wis­sen als Fain. Das Ver­til konn­te ihm hel­fen. Aber wenn er un­vor­sich­tig ge­wor­den war, wenn er ein­fach die Iden­ti­tät ei­nes Al­vea­ners aus den Ho­hen Kas­ten an­ge­nom­men hat­te, dann war es viel­leicht mög­lich. Er hat­te schon er­lebt, daß Än­der­lin­ge sol­che Fehl­trit­te be­gin­gen. Sie wa­ren ge­ris­sen, aber sie wa­ren auch dreist und ei­tel.

„Da­non“, sag­te er mit schar­fer Stim­me, „du bleibst hier. Klet­te­re auf­ei­nen Pfahl oder einen Baum, such dir einen Win­kel, von wo aus du die Hal­le im Au­ge be­hal­ten kannst. Wenn der At­ten­tä­ter her­aus­kommt, wäh­rend wir drin sind, dann be­ob­ach­te, wo­hin er geht.“

„Ich … ich wer­de ihm fol­gen“, sag­te Da­non.

„Nein, das wirst du nicht. Du sollst ihn nur be­ob­ach­ten. Und Skal­lon …“ – Fain dreh­te sich um – „… du gehst mit mir hin­ein. Wenn wir drin­nen sind, tren­nen wir uns und ge­hen ihn von bei­den Sei­ten an. Wenn du schießt, dann paß auf, daß du ihn sau­ber triffst. Wir kön­nen hier nicht Ein­ge­bo­re­ne um­brin­gen, oh­ne daß un­se­re Tar­nung zum Teu­fel geht. Wenn dies das En­de ist, dann muß es wirk­lich das En­de sein. Ver­stan­den?“

Aber Skal­lon schüt­tel­te den Kopf. „Schie­ßen?“

„Ja. Schie­ßen. Tö­ten. Wie ein At­ten­tä­ter, ver­siehst du?“

„Aber was ist, wenn wir uns ir­ren? Wenn der Mann nicht der Än­de­rung ist?“

„Ich dach­te, du hät­test mir ge­ra­de er­zählt, daß er es sein muß?“

„Aber … na ja, wir kön­nen uns doch ir­ren. Ich mei­ne, viel­leicht gibt es ei­ne an­de­re Er­klä­rung für die An­we­sen­heil die­ses Al­ten­tä­ters.“

„Zum Bei­spiel?“

„Ich … ich weiß es nicht.“

„Dann tu, was ich dir sa­ge. Tu, was ich sa­ge, und in ein paar Mo­na­ten bist du wie­der si­cher und be­hag­lich zu Hau­se in dei­ner hüb­schen, war­men Un­ter­kunft.“

„Aber Fain, ich fin­de wirk­lich, wir …“

Er pack­te Skal­lon beim Arm und stieß ihn auf die Hal­le zu. „Halt den Mund und be­eil dich. Wir müs­sen die­se Chan­ce nüt­zen. Wenn wir es nicht tun, wer­den wir kaum ei­ne zwei­te be­kom­men.“

Sie be­tra­ten die Große Hal­le. Fain hat­te kaum einen Fuß in den Ver­samm­lungs­raum ge­setzt, als er den At­ten­tä­ter ent­deck­te. Es er­for­der­te kei­ne be­son­ders schar­fe Be­ob­ach­tungs­ga­be. Der schwarz-ge­wan­de­te Mann saß ganz für sich al­lein mit dem Rücken zur Tür. Um ihn her­um stand ein wei­ter Kreis von ver­ängs­tig­ten Al­vea­nern. Fain konn­te nur den Hin­ter­kopf und die Schul­tern des At­ten­tä­ters se­hen. Aber er war schlank – schlan­ker als al­le Al­vea­ner, die Fain bis­her ge­se­hen hat­te. Er stu­dier­te die star­ren Mie­nen der Al­vea­ner. Die gan­ze Sze­ne er­in­ner­te ihn an ein selt­sa­mes al­tes Ge­mäl­de, das er ein­mal ge­se­hen hat­te: „Der Tod als Be­su­cher“. Der schwarz­ge­klei­de­te Al­ten­tä­ter war zwei­fel­los der Tod, aber zu wem war er ge­kom­men? Die Al­vea­ner schie­nen es nicht zu wis­sen, denn bis jetzt hat­te noch kei­ner von ih­nen auch nur einen Mus­kel ge­rührt.

Fain merk­te, daß er flüs­ter­te. „Von hier aus ha­be ich kein frei­es Schuß­feld. Wir ver­su­chen am bes­ten, uns durch die Men­ge zu zwän­gen. Du gehst dort ent­lang, und ich ge­he nach links.“

„Aber Fain, das kann nicht der Än­de­rung sein. Er wür­de doch nicht ein­fach da­sit­zen und nichts …“

„Wo­her weißt du das?“ Er gab Skal­lon einen Stoß. „Ich ha­be ge­sagt: Geh! Al­so gehst du.“

Fain setz­te sich in Be­we­gung. Die Al­vea­ner, die den Al­ten­tä­ter um­ring­ten, wei­ger­ten sich, ihm Platz zu ma­chen. Fain muß­te die Ar­me aus­stre­cken und je­den Mann ge­walt­sam bei­sei­te sto­ßen, um vor­an­zu­kom­men. Fains halb ge­flüs­ter­ter Ein­wand ging ihm durch den Kopf, und er wuß­te, daß das, was er hat­te sa­gen wol­len, ei­ne ge­wis­se Lo­gik be­saß. In­zwi­schen muß­te der At­ten­tä­ter, Än­de­rung oder nicht, ja nun wirk­lich ge­merkt ha­ben, daß er mit dem Be­tre­ten der Hal­le einen ernst­haf­ten Feh­ler be­gan­gen hat­te. Müß­te er nicht ver­su­chen, so rasch wie mög­lich zu ent­kom­men, frag­te sich Fain.

Was wä­re denn ver­nünf­ti­ger? Wenn der Än­de­rung in wil­der Flucht hin­aus­stürz­te und Fain und Skal­lon da­mit je­de Mög­lich­keit gä­be, ihn aus ei­ge­ner Kraft zu fin­den? Oder wenn er blie­be, wo er war, al­lein und iso­liert, und wo es sehr schwie­rig sein wür­de, ihn un­be­merkt zu er­wi­schen? Fain be­gann sich mit noch grö­ße­rer Vor­sicht zu be­we­gen. Er zog sei­ne Waf­fe her­aus, hielt sie aber wei­ter am Ober­schen­kel ver­bor­gen. Er hielt den Kopf ge­senkt und ver­such­te, die Men­ge zu tei­len, oh­ne da­bei ih­re Form un­nö­tig in Be­we­gung zu brin­gen. Auf der ge­gen­über­lie­gen­den Sei­te müß­te Skal­lon das glei­che tun. Wenn er es nicht tat – und Fain war ver­flucht si­cher, daß Skal­lon sei­ne Sa­che wie­der ver­pat­zen wür­de –, dann müß­te das zu­min­dest die Auf­merk­sam­keit des Än­der­lings von der Ecke ab­len­ken, aus der die wirk­li­che Ge­fahr nah­te.

Als Fain hin­ter der ers­ten Rei­he der Al­vea­ner an­ge­langt war – im­mer noch gut zehn Me­ter von dem ein­sa­men, schwarz­ge­klei­de­ten Mann ent­fernt –, blieb er ste­hen. Er ver­such­te, sich den At­ten­tä­ter ge­nau an­zu­se­hen, aber da gab es nicht viel zu se­hen. So­weit er es er­ken­nen konn­te, sah der Mann nicht an­ders aus als je­der an­de­re dun­kel ge­klei­de­te, hell­häu­ti­ge Al­vea­ner.

Der Än­de­rung?

Fain sah kei­nen Grund zu glau­ben, daß er es nicht war.

So, dach­te er, wer im­mer und was im­mer du auch bist, Än­de­rung und In­fil­trant oder al­vea­ni­scher Al­ten­tä­ter, ich wer­de dich tö­ten.

Er hob den Hit­ze­strah­ler, schob ihn zwi­schen den Schul­tern der bei­den brei­ten Al­vea­ner vor ihm hin­durch, rich­te­te ihn aus, kniff ein Au­ge zu, ziel­te und drück­te sanft den Ab­zug.

Je­mand schrie. Er­schreckt fuhr der Al­vea­ner zur Sei­te.

Fain fuhr zu­sam­men; der Schrei war di­rekt hin­ter ihm aus­ge­sto­ßen wor­den. Der Hit­ze­strah­ler ging los, und der Strahl folg­te dem Al­vea­ner, oh­ne ihn je­doch zu tref­fen. Es war, wie Fain er­war­tet hat­te. Der Mann war der Än­de­rung, und er hat­te nur dar­auf ge­war­tet, daß Fain sich zeig­te. Jetzt rann­te der Mann. Er stürz­te auf die Men­schen­an­samm­lung bei der Tür zu. Die Al­vea­ner wi­chen ängst­lich zu­rück, um die schwarz­ge­klei­de­te Ge­stalt vor­bei­zu­las­sen. Fain hät­te noch ein­mal feu­ern kön­nen, doch er zö­ger­te einen Au­gen­blick lang.

Ei­ne Faust schlug hef­tig ge­gen sei­nen Arm. Fast wä­re ihm der Strah­ler aus der Hand ge­schleu­dert wor­den. Er wir­bel­te her­um.

Skal­lon stand ne­ben ihm. „Fain, wir kön­nen nicht … noch nicht. Es ist Mord. Es ist glat­ter, kalt­blü­ti­ger …“

Fain schlug ihn. Nicht sehr hart. Ge­ra­de ge­nug, um ihn zu­rück­zu­sto­ßen. Er fuhr her­um, aber kost­ba­re Se­kun­den wa­ren ver­lo­ren.

Al­les was er sah, war ein we­hen­des, schwar­zes Ge­wand, als der At­ten­tä­ter un­be­hel­ligt durch die of­fe­ne Tür ins Freie ent­kam.

Er wand­te sich zu­rück, pack­te den ver­blüff­ten Skal­lon und schüt­tel­te ihn. „Du dum­mes, däm­li­ches, be­scheu­er­tes, ein­fäl­ti­ges Arsch­loch. Wenn das Ding uns ent­wischt – ich schwö­re dir, ich brin­ge dich ei­gen­hän­dig um.“

Skal­lon hielt sich das Kinn. „Fain, was ist, wenn wir uns ir­ren?“ frag­te er lei­se.

„Dann ir­ren wir uns eben, ver­dammt. Sonst noch was?“ Fain rann­te zur Tür. Er hör­te, wie Skal­lon hin­ter ihm her­stol­per­te. Es gab im­mer noch ei­ne Chan­ce.