6

 

Fain war übel ge­launt, als Skal­lon zum Bat­tachran-Ho­tel zu­rück­kam. Skal­lon hat­te Da­non auf ei­ner na­he ge­le­ge­nen Be­hör­de zu­rück­ge­las­sen, da­mit er dort die Ge­sprä­che be­lausch­te. Das er­schi­en al­ler­dings we­nig sinn­voll. Der Än­de­rung war ge­schickt, und ge­wiß wür­de er kei­ne große Un­ru­he her­vor­ru­fen, ehe er sei­ne Plä­ne of­fen­bar­te. Aber Da­non war mit Be­geis­te­rung da­bei, und den Jun­gen dort zu las­sen, wo es zu­min­dest denk­bar war, daß et­was ge­schä­he, lie­fer­te Skal­lon we­nigs­tens et­was, was er Fain be­rich­ten konn­te.

Fains Lau­ne bes­ser­te sich des­we­gen nicht. Er sah Skal­lon lan­ge Zeit an und kniff die Au­gen da­bei leicht zu­sam­men, so daß Krä­hen­fü­ße bis in sei­ne Schlä­fen hin­ein­wuch­sen. „Der Ben­gel ist nutz­los, Skal­lon.“

„Kann sein. Aber wir brau­chen einen Füh­rer. Er ist klein. Er wird nicht auf­fal­len. Be­vor Al­vea­ner for­mell in ih­re Kas­ten­rol­le ein­ge­tre­ten sind, sind sie gar nichts.“

„Was ist mit Kish?“

Skal­lon schnauf­te. „Ich dach­te, wir wä­ren uns ei­nig, daß er un­zu­ver­läs­sig ist. Kein Ur­teils­ver­mö­gen. Und wie ge­sagt, er steckt in ei­ner for­mel­len Kas­ten­rol­le. Als Die­ner, als Wirt, darf er sich man­chen an­de­ren Kas­ten nicht ein­mal nä­hern. Nicht jetzt, wäh­rend der hei­li­gen Zeit.“

„Mhm.“ Fain ver­lor das In­ter­es­se.

„Wo ist Scor­pio?“

„Schläft.“

„Seit wir hier sind, hat er die meis­te Zeit ge­schla­fen.“

Fains Kopf fuhr hoch und er­starr­te; stirn­run­zelnd fun­kel­te er Skal­lon an. „Er ist kein ge­wöhn­li­cher Hund. Nicht ei­ner von die­sen kurz­at­mi­gen, klei­nen Pup­pen­hun­den für al­le Da­men mit zu­viel Geld.“

„Das weiß ich, aber …“

„Scor­pio muß je­den ein­zel­nen sei­ner Sin­ne an­stren­gen, um einen Än­de­rung aus­fin­dig zu ma­chen. Die Haut­flüs­sig­keit ei­nes Än­der­lings riecht fast ge­nau­so wie die ei­nes Men­schen. Wir …“

„Du hast recht. Laß ihn schla­fen. Wir brau­chen ihn heu­te nach­mit­tag in der Großen Hal­le. Komm jetzt …“ – er ver­such­te das The­ma zu wech­seln – „… laß uns et­was es­sen.“

„Die­sen Schlab­ber? Ich es­se Pro­te­in­ra­tio­nen.“

„Na schön.“

Skal­lon lief im Ho­tel her­um und über­prüf­te al­le Ein- und Aus­gän­ge. Es war ei­ne ele­men­ta­re Vor­sichts­maß­nah­me, denn als er in der Nacht zu­vor spät und mü­de her­ein­ge­kom­men war, hat­te er sich ver­irrt. Das Bat­tachran war ein al­ter, un­über­sicht­li­cher Bau aus Stein und Holz, der auf teil­wei­se hals­bre­che­risch an­mu­ten­de Art auf zer­brö­ckeln­den Fun­da­men­ten ruh­te. Die leich­te Gra­vi­ta­ti­on be­wirk­te, daß die Ar­chi­tek­tur ein­fa­cher, luf­ti­ger und flie­ßen­der war. Er um­run­de­te einen rie­si­gen, stin­ken­den Müll­hau­fen hin­ter dem Haus. Of­fen­bar wur­de der Müll hier nur sel­ten und viel­leicht nie­mals ab­ge­holt.

Ein Schwärm von Flie­gen er­hob sich von dem Ab­fall­berg und ver­schwand wie ei­ne sum­men­de Staub­wol­ke. Bern­stein­far­be­ner Dunst weh­te hin­ter ei­ner klei­nen Trau­er­ge­sell­schaft her, die die ri­tu­el­len Früch­te, ei­ne Art von blau­en Gra­na­täp­feln, ver­zehr­te. Die To­ten­bah­re war aus ölig­glän­zen­dem Holz, der Leich­nam selbst in ein schwärz­li­ches Tuch ge­wi­ckelt. Die Trau­ern­den zo­gen lang­sam über den zer­klüf­te­ten Bo­den hin­ter dem Bat­tachran. Sie lie­ßen sich Zeit. Ei­ner von ih­nen schlug hin und wie­der auf einen großen Baß­gong. Auf ei­nem Hü­gel in der Fer­ne rag­ten die al­vea­ni­schen Grab­stei­ne auf, Drei­e­cke, die sich hier­hin und dort­hin auf den un­ebe­nen Grab­fel­dern neig­ten.

„Kommt. Ruht Euch aus.“

Er dreh­te sich um. Jo­a­ne stand ne­ben ihm, in der Hand einen halb­ge­füll­ten Ei­mer mit Putz­was­ser.

„Laßt mich Euch …“ Ehe er noch zu­fas­sen konn­te, hal­te sie den Ei­mer auf den Müll­hau­fen ge­leert. Sie lä­chel­te und wink­te ihm her­ein­zu­kom­men.

Der plötz­li­che Wech­sel von al­vea­ni­scher Son­ne zu un­be­leuch­te­ten Kor­ri­do­ren über­for­der­te sei­ne Au­gen für einen Mo­ment. Sie nahm ihn bei der Hand – ein sei­di­ges, küh­les Ge­fühl – und führ­te ihn ein paar Schrit­te weit. Dann öff­ne­te sich ei­ne Tür, und er blin­zel­te.

Es war das run­de, ho­he Com­mu­nal, das er schon am Mor­gen ge­se­hen hat­te. Nicht we­ni­ger als zwan­zig Leu­te dräng­ten sich um die klei­nen Ti­sche; sie aßen und re­de­ten. Das Licht der Öl­lam­pen fla­cker­te in den dunklen, von Fal­ten durch­zo­ge­nen Ge­sich­tern. Je­der Mann und je­de Frau schi­en ei­ne Cha­rak­ter­stu­die für sich zu sein, so ver­schie­den wa­ren sie von­ein­an­der. Das Ide­al auf der Er­de war ein fle­cken­lo­ses, glat­tes Ge­sicht. Dank kos­me­ti­scher Be­hand­lung hat­ten die meis­ten Men­schen es bei­na­he ihr gan­zes Le­ben lang. Man konn­te oft nicht sa­gen, ob ei­ne Frau zwan­zig oder sech­zig Jah­re alt war. Jo­a­ne zog an sei­ner Hand, und als er sie an­sah, er­schi­en ihm ih­re Schön­heit um so at­trak­ti­ver, da er wuß­te, daß sie mit der Zeit ver­wit­tern, ver­wel­ken und ver­schwin­den wür­de.

Es war ein tra­di­tio­nel­les Com­mu­nal. Für die­je­ni­gen, die kei­ne Mahl­zeit vom Ho­tel be­stel­len woll­ten, gab es ein Sor­ti­ment von Töp­fen, Röst­ga­beln und Schla­cken­feu­ern in klei­nen, schwar­zen Ge­fäßen. Die Ver­sor­gung der Feu­er, das Put­zen und das Auf­räu­men wur­den vom Ho­tel aus­ge­führt, aber ei­ne Auf­sicht gab es nicht. In al­ten Zei­ten be­deu­te­te der Zu­gang zu ei­nem Com­mu­nal das Le­ben selbst, Schutz vor dem bren­nen­den Stern. Jo­a­ne führ­te ihn zu ei­nem Tisch, setz­te sich und sag­te: „Ich muß die Ar­beit in der Kü­che be­auf­sich­ti­gen, aber zwi­schen­durch kön­nen wir uns un­ter­hal­ten. Wollt Ihr et­was es­sen?“ Skal­lon nick­te. „Was be­vor­zugt Ihr?“

Er be­schrieb ei­ne al­vea­ni­sche Mahl­zeit aus dem Ge­dächt­nis. Bei ein oder zwei Ge­rich­ten run­zel­te sie die Stirn und be­merk­te, sie sei­en sehr alt, aber sie wol­le se­hen. Sie ver­schwand für einen Mo­ment, und Skal­lon be­lausch­te die Ge­sprä­che an den na­hen Ti­schen. Ei­ne Grup­pe von Frau­en brü­te­te über dem Schick­sal ei­nes Ver­wand­ten, den die Seu­chen in Ar­mut und Wahn­sinn ge­trie­ben hat­ten, der nur noch Ge­mü­se­ab­fäl­le es­sen konn­te und Un­ter­wä­sche aus Zei­tungs­pa­pier trug, und der sich aus ei­nem Ge­trei­de­sack Ho­sen mach­te, weil er sei­ne Ge­wän­der fort­ge­ge­ben hat­te.

Skal­lon hör­te einen zir­pen­den Ton und fand auch gleich sei­nen Ur­sprung: ein Sing­vo­gel in ei­nem win­zi­gen Plas­tik­kä­fig, blind. Er er­in­ner­te sich dar­an, daß man vor ein paar Jahr­hun­der­ten in Ka­lic aus­ge­dehn­ten Berg­bau ge­trie­ben hat­te, bis sich her­aus­stell­te, daß die Re­gi­on mit zahl­lo­sen Gift­ga­sein­schlüs­sen durch­setzt war. Selbst jetzt noch ris­sen ge­le­gent­lich Spal­ten auf, und die Com­mu­nals, tief un­ter der Er­de, wa­ren dann zu­erst be­trof­fen. Der Vo­gel war emp­find­lich. Er wür­de ster­ben, ehe die Men­schen das Be­wußt­sein ver­lo­ren.

In man­cher Hin­sicht wirk­te Al­vea wie die Er­de, und dann wie­der war es hier völ­lig an­ders. In der Erd­krus­te gab es längst kei­ne Bo­den­schät­ze mehr; Skal­lon war si­cher, daß man auf der Er­de in­zwi­schen so­gar ein töd­li­ches Gas ir­gend­wie nutz­bar ge­macht hät­te.

Kish er­schi­en; er klopf­te den Gäs­ten auf die Schul­ter und mach­te die ri­tu­el­len Hand­be­we­gun­gen des Will­kom­mens. Er be­grüß­te Skal­lon oh­ne über­trie­be­nes Thea­ter und ent­fern­te sich ab­rupt, als Jo­a­ne her­ein­kam. „Der ers­te Gang“, sag­te sie und setz­te ei­ne Plat­te mit röt­li­chem, kräu­ter­ge­würz­tem Fleisch vor ihn auf den Tisch.

„Warum ist Kish weg­ge­gan­gen?“

„Er über­läßt mich mei­nem Le­ben“, mur­mel­te sie schlicht und setz­te sich zu ihm.

„Ihr ver­spürt kei­ner­lei Be­schrän­kung?“

„Wo­durch?“

„Durch Eu­re Rol­le. Gut, Ihr seid mit ei­nem Gast­wirt ver­hei­ra­tet. Aber dar­an seid Ihr nicht für den Rest Eu­res Le­bens ge­ket­tet.“

„Es ist mein Platz.“

„Bis zu Eu­rem Tod?“ Skal­lon hör­te auf, an sei­nem Fleisch her­um­zu­schnei­den; es war un­er­war­tet dick und schwer. „Ihr glaubt, daß Ihr ir­gend­wann …“ – er such­te nach dem rich­ti­gen Aus­druck – „… al­les und je­der sein wer­det, nicht wahr?“

„Das ist be­wie­sen.“

„Gom­mer­sets Vier­hun­dert.“

„Ja, und auch durch die For­schung seit­her. For­schung, die hier auf Al­vea durch­ge­führt wur­de. Aber si­cher wißt und ver­steht Ihr das. Sonst wür­det Ihr Al­vea nicht so emp­fin­den, wie Ihr es tut.“

„Oh. Ja.“ Skal­lon wuß­te nicht, wie er ihr sa­gen soll­te, daß er all das kann­te, aber daß auf der Er­de nie­mand mehr dar­an glaub­te. „Ihr habt teil an dem … hm … ab­so­lu­ten Mo­nis­mus.“

„Wir zie­hen die Be­zeich­nung Non­dua­lis­mus vor, da­mit auch die Erd­ler es ver­ste­hen.“

„Das im­pli­ziert so et­was wie ein … nun, ein zy­kli­sches Uni­ver­sum.“

„Das tut es. Viel­leicht.“ Sie lä­chel­te. „Man wird es spä­ter ver­ste­hen.“

Skal­lon hieb an­ge­le­gent­lich in sein Fleisch. Ei­ne Sau­ce wur­de ser­viert, und er schau­fel­te sie auf sei­nen Tel­ler. Sie schmeck­te ent­fernt nach Gran­n­et­nüs­sen. Er woll­te Jo­a­ne nicht sa­gen, daß Gom­mer­sets Da­ten schon vor mehr als fünf­hun­dert Jah­ren wi­der­legt wor­den wa­ren.

Die be­rühm­ten Vier­hun­dert wa­ren Fäl­le von hyp­no­ti­scher Er­in­ne­rung ge­we­sen, schein­bar zwei­fels­frei ve­ri­fi­ziert. In ge­wöhn­li­cher Hyp­no­se hat­ten sie sich an ver­gan­ge­ne Le­ben er­in­nert, und zwar auf ei­ne bei­na­he un­heim­lich zu nen­nen­de de­tail­lier­te Wei­se. Wo die De­tails sich über­prü­fen lie­ßen, er­wie­sen sie sich als kor­rekt. Es gab un­ter ih­nen Schiffs­bau­er für Fer­di­nand und Isa­bel­la, Bau­ern aus dem al­ten East An­g­lia, Heb­am­men aus dem Rom des Kai­sers Clau­di­us. Man­che Ver­suchs­per­so­nen hat­ten sich nicht nur an ein ein­zi­ges Le­ben er­in­nert, son­dern an vie­le. Die His­to­ri­ker mach­ten einen Fall mit sie­ben­und­zwan­zig über­prüf­ten Iden­ti­tä­ten ding­fest.

Als Gom­mer­set sei­ne Un­ter­su­chun­gen ver­öf­fent­lich­te, ging ei­ne Wo­ge von re­li­gi­ösen Sek­ten um die Welt. Rein­kar­na­ti­on schi­en ei­ne ein­fa­che, har­te Tat­sa­che zu sein.

„Der zar­te Kör­per zieht wei­ter“, sag­te Jo­a­ne leicht­hin, als mach­te sie ge­sell­schaft­li­che Kon­ver­sa­ti­on. „Wir wan­dern in ei­ne neue, ver­gäng­li­che Be­hau­sung.“

„Wir nen­nen das – die­se Ide­en – die ‚Non­dua­lis­ti­sche Pha­se’“, nu­schel­te Skal­lon kau­end. Er spür­te, daß er et­was sa­gen muß­te, aber be­lü­gen konn­te er sie nicht.

„Oh?“ Höf­li­ches In­ter­es­se.

„Un­se­re in­tel­lek­tu­el­len His­to­ri­ker nen­nen es so. Es ent­spricht dem zy­kli­schen Re­pe­ti­ti­ons­mo­dell der ir­di­schen Ge­schich­te. Gom­mer­set – na ja, nicht er, aber die Re­ak­ti­on auf sei­ne Da­ten – war ein Pro­dukt des Zu­sam­men­bruchs im 21. Jahr­hun­dert.“

„Und Al­vea ist sei­ne Blü­te“, sag­te sie sanft.

„Hm. So ist es. Die Ra­ke­ten­schif­fe ha­ben den Gom­mer­se­tis­mus ver­brei­tet, be­vor man ihn noch wirk­lich über­prü­fen konn­te. Das war es auch, was ihn ei­gent­lich ver­nich­te­te – auf der Er­de, mei­ne ich.“

„Dort glaubt nie­mand dar­an?“

Skal­lon schüt­tel­te den Kopf. „Oh­ne die Ra­ke­ten­schif­fe – oder die Über­licht-Trans­por­te da­nach – hät­te die Non­dua­lis­ti­sche Pha­se sich durch­ge­setzt. So wie sie es auch in der Vor­ge­schich­te ge­tan hat – ich mei­ne, in den wirk­lich al­ten Ge­sell­schaf­ten auf der Er­de. Im größ­ten Teil Asi­ens, in die­sem Be­reich … das ist ein Kon­ti­nent“, füg­te er hin­zu, als er be­merk­te, daß sie die Geo­gra­phie der Er­de nicht kann­te. „Die­se Na­tio­nen hör­ten auf, sich aus­zu­brei­ten, sie ver­lo­ren ih­ren An­trieb und wand­ten sich nach in­nen. Non­dua­lis­ti­sche So­zio­me­trie ist sehr gut ge­eig­net da­für – es fehlt die Span­nung zwi­schen zwei Po­len, al­so pas­siert nichts.“

„Es muß doch auch nichts pas­sie­ren, mein Freund.“ Sie leg­te ih­re Hand auf die sei­ne. Ih­re Fin­ger wa­ren kühl.

„Aber die Din­ge pas­sie­ren. Er­eig­nis­se ha­ben ih­re ei­ge­ne Dy­na­mik. Hät­te die Er­de die Ra­ke­ten­schif­fe nicht ent­wi­ckelt, dann wä­ren wir nach und nach in Ar­mut ver­sun­ken – kei­ne Roh­stof­fe mehr, ein gan­zer Hau­fen von Pro­ble­men.“ Er sprach mit erns­ter Mie­ne und stach da­bei mit dem Zei­ge­fin­ger in die Luft.

„Aber Ihr habt jetzt auch kei­ne Roh­stof­fe.“

„Ja, aber wir kön­nen sie uns ho­len. Von euch, von den an­de­ren Wel­ten. Das Kon­zept des Ko­ope­ra­ti­ven Im­pe­ri­ums bil­det ei­ne völ­lig neue Ära in der mensch­li­chen Ge­schich­te. Ei­ne non­dua­lis­ti­sche Er­de könn­te die hoch­ent­wi­ckel­te Tech­no­lo­gie, den Trans­port, die Kom­mu­ni­ka­ti­on, die so­zio­me­tri­schen Kal­ku­la­tio­nen und Theo­ri­en über­haupt nicht auf­brin­gen.“

„Aber ich fra­ge mich, ob wir sie brau­chen.“

„Na­tür­lich braucht ihr sie! Ra­ke­ten­schif­fe ste­hen für je­der­mann zur Ver­fü­gung; ge­ra­de jetzt sind zwei im Or­bit zum Be­la­den. Aber sie sind zu lang­sam, um das Ko­ope­ra­ti­ve Im­pe­ri­um zu­sam­men­zu­hal­ten. Oh­ne die Über­licht­schif­fe gä­be es kei­ne ech­ten in­ter­kul­tu­rel­len Kon­tak­te. Al­vea wä­re in ei­ner kul­tu­rel­len Sack­gas­se.“ Er sag­te nicht, daß Al­vea in sei­nen Au­gen oh­ne­hin schon fast sta­gnier­te. Das war wahr­schein­lich auch ein vor­über­ge­hen­der Ef­fekt der Seu­chen.

„Die Schif­fe ha­ben eu­ren Glau­ben zer­stört.“

„Nein, das ha­ben die Da­ten ge­tan. Nie­mand konn­te Gom­mer­sets Re­sul­ta­te wie­der­ho­len.“

„Nicht ein­mal mit sei­nen Vier­hun­dert?“

„Nun, die wa­ren of­fen­sicht­lich prä­pa­riert; je­mand hat­te sich an ih­rem Vor­der­hirn zu schaf­fen ge­macht, da gab es kei­nen Zwei­fel.“

„Gom­mer­set?“

„Weiß ich nicht. Als ei­ne kom­plet­te Ana­ly­se mög­lich war, leb­te er schon nicht mehr.“

„Es ist auch leich­ter, einen to­ten Mann in den Schmutz zu zie­hen.“

„Nun, ich will wirk­lich kei­ne große Sa­che dar­aus ma­chen.“

„Ihr wollt nicht glau­ben. Die Er­de will nicht glau­ben.“

„Ach …“ Dies­mal war es Skal­lon, der nach ih­rer Hand griff. „Glau­ben, nicht glau­ben – mir ist es egal.“

„Das den­ke ich nicht.“

„Wenn ich st­er­be und in ei­nem an­de­ren Job wie­der zu­rück­kom­me, als Agri­mech oder sonst­was – pri­ma. Ich kann doch dar­an nichts än­dern. Und wenn ir­gend­wann Schluß ist – pfifft –, ge­nau­so­we­nig. Al­so ma­che ich mir auch kei­ne Sor­gen.“

„Je­der denkt über die­se Din­ge nach. Je­der hat Sehn­sucht.“

„Ich ha­be kei­ne Sehn­sucht da­nach, auf je­der Ebe­ne des Le­bens noch ein­mal zu­rück­zu­kom­men. Aber das ist es, was ihr denkt, nicht wahr? Weil ihr ei­ne un­be­grenz­te An­zahl – oder doch we­nigs­tens ei­ne sehr große An­zahl – von Le­ben habt, braucht ihr euch auch nicht die Mü­he zu ma­chen, eu­re so­zia­le Rol­le jetzt zu ver­än­dern, nicht wahr?“

„Un­ser Weg gibt uns in­ne­re Ru­he.“

„Ich ha­be aber lie­ber die … die Freu­de des Neu­en.“ Er starr­te sie ernst­haft an. Der Ker­rin­wein in sei­nem Es­sen ließ sei­nen Kopf ein we­nig rau­schen. Der Raum hall­te wi­der von vie­len in­ein­an­der ver­floch­te­nen Ge­sprä­chen; die Luft war schwer und vol­ler Ge­rü­che.

„Auch Ihr braucht die Ru­he. Je­der braucht sie.“

 

Skal­lon lehn­te die mür­ben Sü­ßig­kei­ten, die ihm zum Des­sert ge­reicht wur­den, ab, und so ver­lie­ßen sie das Com­mu­nal früh­zei­tig, noch ehe das Ge­drän­ge am dich­tes­ten war. Von den ge­dämpf­ten Eß- und Sprech­ge­räuschen und dem schar­fen Knacken des of­fe­nen Feu­ers führ­te sie ihn in die hin­te­ren Kor­ri­do­re des Ho­tels. Sie ka­men an Fains Zim­mer vor­bei, und Skal­lon ver­spür­te einen Im­puls an­zu­klop­fen, doch er un­ter­drück­te ihn. Er brauch­te Ru­he, und die Durch­su­chung der Großen Hal­le wür­de spä­ter sei­ne gan­ze Wach­sam­keit er­for­dern.

Jo­a­ne öff­ne­te ihm ei­ne ro­he Holz­tür, hin­ter der er zu­nächst sei­ne Kam­mer ver­mu­te­te. Aber der Raum war grö­ßer, und durch die Fens­ter sah man die Fel­der hin­ter dem Haus. Die Luft hier war fri­scher als in den un­te­ren Räu­men, und sein Kopf war gleich kla­rer.

Sie trat zu ihm, als die Tür kli­ckend ins Schloß fiel. Jo­a­ne war viel klei­ner als Skal­lon, aber sie schi­en ihn ganz zu um­schlie­ßen, und der Duft ei­ner neu­en, war­men, ani­ma­li­schen Hit­ze stieg zwi­schen ih­nen auf. Er hat­te das Ge­fühl, nur aus Ell­bo­gen und Kni­en zu be­ste­hen. Sie mur­mel­te et­was, als sie sei­nen Hals küß­te, aber er ver­stand es nicht, konn­te sich nicht kon­zen­trie­ren auf das, was er tat.

All­mäh­lich ent­spann­te er sich. Es war nicht wie bei den an­de­ren Ge­le­gen­hei­ten, wo er sich je­der Be­we­gung, je­der Ges­te be­wußt ge­we­sen war, be­wußt auch der Im­pli­ka­tio­nen des­sen, was die Frau­en woll­ten und was sie von ihm er­war­te­ten. Hier mit Jo­a­ne floß al­les in­ein­an­der. Grif­fe lös­ten sich, Glie­der glit­ten ge­schmei­dig hin­durch und schlan­gen sich um­ein­an­der. Er ver­lor das Gleich­ge­wicht, und sie fie­len mit traum­haf­ter Leich­tig­keit (die Gra­vi­ta­ti­on? frag­te er sich, aber nein, das war es nicht) und form­ten ein­an­der zu ver­schie­de­nen Ge­stal­ten, Fi­gu­ren, Um­hül­lun­gen.

Die Zeit ver­strich in trun­ke­ner Träg­heit, und er be­trach­te­te sie un­ter sich, wie der ro­si­ge Ring ih­res Mun­des ihn in ei­nem tie­fen Rhyth­mus um­schloß, und es ström­te in Wel­len in den Raum zwi­schen sei­nem Kopf und sei­nem Her­zen. Et­was in ihm schi­en zu schmer­zen, in wei­ter Fer­ne. Das Be­ben ei­ner merk­wür­di­gen, un­an­ge­brach­ten Angst durch­zuck­te ihn. Na­tür­lich war er schon frü­her mit Frau­en zu­sam­men ge­we­sen, hat­te al­les dies ge­tan … aber jetzt schi­en es tief in sei­nem In­nern auf neue Re­so­nanz zu sto­ßen und un­be­kann­te Ak­kor­de zum Klin­gen zu brin­gen. Er be­weg­te sie, öff­ne­te sie, schob sich in sie hin­ein. Ah. Ein stamp­fen­der Rhyth­mus. Als er kam, war es, als brä­che ein Ge­räusch aus ihm her­vor. Er er­war­te­te, es in dem klei­nen Raum wi­der­hal­len zu hö­ren. Tiefer ein­drin­gend spür­te er ei­ne auf­ge­stau­te Ex­plo­si­on, er schob sich hin­ein, und es kam, drän­gend, tief und er­schau­ernd. Der aro­ma­ti­sche, wür­zi­ge Duft von Al­vea tat sich ihm auf, ein Schwall von wo­gen­den Lau­ten, ein sei­di­ger Schim­mer, der ihn in neue Ab­grün­de Jo­a­nes wir­bel­te, tiefer hin­ab in ei­ne end­lo­se Fins­ter­nis, die ihn ver­schluck­te, und keu­chend kämpf­te er sich zu ei­nem neu­en Ufer, au­ßer Atem, den Hö­he­punkt hin­ter sich, voll und ge­sät­tigt. Er mur­mel­te in ihr Ohr, und sie wis­per­te kur­ze, ras­peln­de, zi­schen­de Lau­te, Wor­te, die ihn tiefer in ei­ne wei­che, sanf­te Ru­he dräng­ten; so lag er still, at­me­te die Luft mit ge­schlos­se­nen Au­gen, mur­melnd, dö­send, er schlief ein mit Jo­a­ne in sei­nen Ar­men, und sie war ein ver­schwom­me­ner Mit­tel­punkt, in dem er ru­hen konn­te.