2

Josie hielt ihr Versprechen. Als der Winter kam und Cleo kalte Füße hatte, schenkte ihr Josie ein hübsches Paar Schuhe aus ihrem Schrank. Und als Maman in der Weihnachtszeit den groben Baumwollstoff verteilte, aus dem die Sklaven sich neue Kleider schneidern sollten, schenkte Josie Cleo ein blaues Leinenkleid und noch ein grünes dazu.

Es war nicht schwierig, Cleo lieb zu haben. Sie war hübsch wie eine dunkelhäutige Puppe, und sie kannte alle möglichen Spiele und Lieder, die sie von Grammy Tulia in den Unterkünften gelernt hatte.

Josie wusste, dass Bibi sich freute, wenn sie gut für Cleo sorgte. Bibi sah, wenn sie ihre Malstifte mit Cleo teilte oder ihr half, die Schuhe zuzuknöpfen. Später nahm Bibi Josie auf den Schoß und summte ihr etwas vor, während sie ihr das lange braune Haar bürstete. Papa lächelte auch, wenn sie mit Cleo spielte.

Nur Maman war nicht erfreut darüber, dass Josie freundlich zu ihrer Sklavin war. Als Maman am Tag nach Weihnachten ins Kinderzimmer trat, entdeckte sie Cleo in dem bestickten blauen Leinenkleid.

»Woher hat sie das?«

Josie spürte, wie ihr die Kehle eng wurde. »Ich habe es ihr geschenkt, Maman«, sagte sie mit leiser Stimme.

»Das geht nicht. Sie trägt den Sklavenstoff wie alle anderen hier.«

Cleo saß da, eine Maiskolbenpuppe im Arm, die dunklen Augen fest auf Mamans blasses Gesicht gerichtet. Maman marschierte durchs Zimmer, packte Cleo am Arm und zog sie mit einer groben Bewegung hoch. »Sieh mich nicht so an, du …« Dann riss sie an den Knöpfen am Rücken des Kleides und drehte Cleos Arm aus dem Ärmel.

Cleo reagierte nicht anders als eine Schlenkerpuppe, aber Josie begann zu weinen. Mamans Gesicht war so böse, ihre Lippen zu einer schmalen Linie zusammengezogen, ihre blauen Augen hart und schmal.

»Was soll denn der Lärm hier?« Papa stand in der Tür. Seine Stimme klang sanft, aber Josie konnte sehen, dass sein Gesicht fast so angespannt und wütend war wie das von Maman.

Maman ließ Cleos Arm los und fuhr herum. »Sieh dir doch an, was sie trägt!«

Josie hörte mit Weinen auf und wartete, was passieren würde. Seit jenem Tag im Sommer, als Papa Mamans Perlenkette mitgenommen hatte, hatte sie sich an die anhaltende Spannung im Haus gewöhnen müssen. Maman war eigentlich immer wütend. Josie wusste, dass ihre Mutter Bibi und Cleo nicht mochte, und nun mochte sie anscheinend auch Papa nicht mehr.

»Das ist unerträglich«, sagte Maman.

Papa ging zu Cleo, beugte sich zu ihr hinunter und zog ihr das Kleid wieder über die Schulter. »Es ist doch nur ein Kleid, Celine.«

Maman stürzte aus dem Zimmer und schlug die Schlafzimmertür hinter sich zu. Josie konnte hören, wie sie sich aufs Bett warf.

Papa knöpfte Cleo das Kleid wieder zu. »Das sieht wirklich sehr hübsch aus, Cleo.«

Er richtete sich auf und hielt Josie seine Hand hin, um sie zu sich zu ziehen. Als sie vor ihm stand, nahm er ihr Gesicht in beide Hände und sah ihr in die Augen. »Es ist niemals verkehrt, freundlich zu sein, Josephine. Denk immer daran, vergiss das nicht.« Er küsste sie auf die Stirn. »Und nun lauft, ihr beiden, lauft zu Bibi. Sagt ihr, ihr habt euch ein Stück Kuchen und ein Glas Milch verdient.«

Als Cleos kleiner Bruder geboren wurde, waren die beiden Mädchen, inzwischen sechs und sieben Jahre alt, unzertrennlich geworden. Sie hatten ein großes Geschick darin entwickelt, Mamans strenge Verbote und häufige Ermahnungen zu umgehen, und jetzt hatten sie nur ein Ziel bei ihren heimlichen Unternehmungen: Sie wollten das Neugeborene sehen.

»Hübscher als die Engel«, sagte Grammy Tulia. »Nicht einmal ihr zwei wart so hübsch wie dieser kleine Kerl.«

Cleo legte einen Finger an Thibaults Lippen. Sein Mund sah wie eine Rosenknospe aus, und er machte den Mädchen die Freude, kräftig zu schmatzen und zu saugen.

Josie beugte sich über die handgeschnitzte Wiege. »Darf ich auch mal?«

»Sicher. Tauch den Finger in den Topf da.«

Bei ihrem nächsten Besuch roch Josie den Pfeifentabak ihres Vaters in der Hütte, und als sie ein paar Tage später wiederkamen, sah sie, dass er seine Pfeife auf dem Kaminsims hatte liegen lassen. Mein Papa mag Babys, dachte sie.

Monate später war Thibault immer noch hübsch, ein zufriedenes Baby, nett und freundlich, aber sehr still. Und als er fast ein Jahr alt war, zeigte er immer noch nicht viel Interesse an den Spielsachen, die Josie und Cleo aus dem Kinderzimmer heranschleppten.

An einem strahlenden Sommermorgen, während Maman noch schlief, wusch Bibi Josie und Cleo die Gesichter und sagte ihnen, sie sollten warten, bis sie wiederkäme, dann gäbe es Frühstück. Aber das Haus war still, Grand-mère saß schon am Schreibtisch, Papa war mit den Hunden draußen. Niemand würde sie beide vermissen. Also schlossen sie leise die Tür hinter sich und liefen die Hintertreppe hinunter und dann den Weg entlang zu Grammy Tulias Hütte.

Als sie die graue Holztür aufdrückten, sahen sie Bibi im Schaukelstuhl sitzen, mit Thibault im Arm. Sie hatte Tränen im Gesicht.

Josie stand auf der einen Seite des Schaukelstuhls, Cleo auf der anderen. Cleo legte eine Hand auf Thibaults Köpfchen. »Er wird wieder gesund, Maman«, sagte sie. »Thibault ist so ein liebes Baby.«

Aber Bibi weinte nur noch mehr. Sie hatte die Augen geschlossen und schüttelte den Kopf, während sie weiterschaukelte.

»Was ist mit ihm?«, flüsterte Josie. Manchmal ging Cleo zur Hütte, wenn Josie bei ihrer Mutter bleiben musste. Cleo wusste Dinge, von denen Josie keine Ahnung hatte, und oft fühlte sich Josie deshalb ausgeschlossen. »Warum weint Bibi denn?«

»Thibault ist einfältig.«

Josie sah sie verständnislos an.

»Das heißt, er kann nie ein kluger Mann werden. Er bleibt einfältig wie Nick, der immer lächelt, weißt du? Du kennst ihn doch, er ist immer mit den anderen draußen bei der Zuckerrohrernte.«

Josie nickte. Jeder kannte Nick. Selbst der Aufseher, Mr Gale, war nett zu ihm, weil er immerzu lächelte.

Bibi öffnete die Augen und sah Josie lange an. »Ich weiß ja, du bist selbst noch so klein.« Sie hielt Josie am Handgelenk fest. »Aber du musst das wissen, Josie, denn du musst auf ihn aufpassen, und auf Cleo auch, verstehst du?«

Josie nickte. »Ich bin doch schon fast acht.«

»Verstehst du mich?« Bibi hielt sie noch fester. »Dieses Baby hier, das ist dein Baby, deins und Cleos. Wenn mir etwas passiert, oder wenn deinem Papa etwas passiert, dann musst du für es sorgen.«

Josie nickte. Sie gehörten alle zu ihr, Grammy Tulia, Bibi, Cleo, Papa und Thibault. Sie gehörten zu ihr, und sie liebte sie alle.

So ging die Kinderzeit dahin, glückliche, kaum getrübte Tage. Josie und Cleo spielten mit den Kindern des Aufsehers Verstecken und manchmal auch mit Cleos dunkleren Cousinen aus den Unterkünften. Als Thibault alt genug war, nahmen sie manchmal auch ihn mit, wenn sie im Bach Molche oder Froschlaich fingen. Thibault lächelte, wenn sie ihn mit Geißblattranken schmückten oder seine Taschen mit Raupen füllten.

Ellbogen-John, dessen Arm durch einen Unfall beim Holz-fällen für immer unbrauchbar geworden war, passte untertags auf sie auf. Er ging zerstreut mit, wenn die Mädchen die Sümpfe am Rand der Plantage erforschten oder auf die Zypressen kletterten, wo die Schlingpflanzen in das schwarze Wasser reichten. Wenn sie in der Nachmittagshitze schläfrig wurden, saß er neben ihnen unter der alten Eiche hinter dem Haus und erzählte ihnen Geschichten aus Afrika, die er von seinem Großvater gehört hatte.

Ab und zu gab es auch Streit.

»Ich bin die Prinzessin«, erklärte Josie.

»Immer du! Heute bin ich dran, ich bin die Prinzessin, und du bist der Ritter.«

Und bald schrien und weinten sie beide, und Bibi schickte sie in entgegengesetzte Winkel des Hauses. Stunden später, wenn sie ihnen wieder erlaubte, zusammenzukommen, umarmten sie sich, als hätten sie sich jahrelang nicht gesehen.

Als Josie acht Jahre alt wurde, schickte Maman Ellbogen-John zurück in die Ställe. Josie sollte Unterricht bekommen, sie musste ihre Petticoats und ihre Hände sauber halten, sie sollte eine feine junge Dame werden. Dienstags und donnerstags übte Madame Estelle mit ihr englische Grammatik. Montags und mittwochs begeisterte sich Mademoiselle Fatima an der französischen Literatur. Freitags kam Monsieur Pierre und bestand darauf, dass Josie aufrecht vor dem Klavier saß, wenn sie ihre Tonleitern übte. Und danach hielt er sie in seinen hölzernen Armen, um ihr das Tanzen beizubringen.

Josie wäre so viel lieber draußen auf die Bäume geklettert oder hätte Louella beim Wasserschöpfen geholfen. Aber Maman hatte die Lehrer genau zu dem Zweck engagiert, sie von diesem Benehmen abzuhalten. Andere Töchter aus guter Familie verbrachten ihre Zeit schließlich auch nicht wie die Wilden.

Also kamen die Lehrer, und Josie musste sich abgewöhnen, zu springen und zu rennen und zu schaukeln. Cleo leistete ihr getreulich Gesellschaft, wenn sie bei Mademoiselle Fatima saß, die ihnen mit ihrem Damenbart und ihren Leberflecken viel zu nahe kam, wenn sie aus Perraults Märchen vorlas, dass die Spucke nur so flog. Monsieur Pierre schreckte nicht davor zurück, Josie auf die Handgelenke zu schlagen, wenn sie sie am Klavier sinken ließ. Und am schlimmsten war Madame Estelle, die absolute Perfektion von ihr verlangte.

»Put, put, put«, rezitierte Josie die unregelmäßigen Verben. »Run, ran, run. Sit, sat, sat.« Sie konnte kein Muster erkennen, und sie litt unter dem angewiderten Ausdruck auf Madames Gesicht, wenn sie einen Fehler machte. Manchmal flehte sie schweigend Cleo an, die auf dem Boden in der Ecke saß, und Cleo sagte ihr vor oder zuckte, wenn sie ebenso wenig Ahnung hatte, die Schultern.

Nur ihr Vater ließ sich während der Unterrichtsstunden manchmal blicken. Dann stand er einfach ein paar Minuten lang an den Türrahmen gelehnt da und hörte Josie zu, wie sie ein englisches Verb konjugierte oder ein paar Zeilen Montaigne vorlas, den sie ebenso wenig verstand, wie wenn er in Englisch geschrieben hätte.

Eines Morgens, als Josie unter Madame Estelles Aufsicht vor sich hin litt, während Cleo auf dem Boden saß und Buchstaben auf ein Stück Papier malte, nahm Madame Papa beiseite.

»Monsieur Tassin, vielleicht ist Ihnen bisher entgangen, dass diese kleine Sklavin Josephine zum Unterricht begleitet. Ich fühle mich sehr unwohl angesichts dieses Gesetzesbruchs.« Madame bezog sich darauf, dass jede Art von Unterricht für Sklaven verboten war. Tatsächlich war es von den weisen Männern Louisianas sogar als Verbrechen unter Strafe gestellt worden, einem Sklaven das Lesen beizubringen.

Papa warf einen Blick auf Josie und Cleo, die beide aufmerksam zuhörten und auf seine Reaktion warteten. Ein Lächeln spielte um seine Lippen. »Madame, es war mir nicht klar, dass Sie danach streben, beide Mädchen zu unterrichten.«

»Natürlich nicht! Aber Sie sehen ja, was passiert. Das Sklavenmädchen hört ständig zu, sie wagt es sogar, das Schreiben von Buchstaben zu üben. Wenn wir nicht gut aufpassen, wird sie bald lesen können.«

»Josephine, du bringst Cleo doch nicht etwa das Lesen bei, oder?«

»Nein, Papa, wirklich nicht.« Sie warf Cleo einen schuldbewussten Blick zu, aber Cleo machte jenes leere Gesicht, das sie auch aufsetzte, wenn Maman mit ihr schimpfte.

»Ich auch nicht. Sehen Sie, Madame Estelle, die Einzige, von der Cleo lesen lernen könnte, sind Sie, und ich bin sicher, eines solchen Verbrechens würden Sie sich niemals schuldig machen.«

Madame Estelle verzog die Lippen und stand kerzengerade da. »Ich verstehe vollkommen«, sagte sie. »Ich werde Sie damit nicht noch einmal belästigen.«

Josie lernte pflichtschuldig, wenn auch ohne Begeisterung. Cleo machte fast ebenso große Fortschritte wie sie, und so konnten die Heimlichkeiten weitergehen.

Was das Klavier anging, so ergriff Josie hier zum ersten Mal bewusst Cleos Partei und ging in Opposition zu ihrer Mutter. Vorher hatte sie sich immer hilflos gefühlt, wenn ihre Mutter gemein zu Cleo war. Oft hatte sie geweint, wenn Maman Cleo beschimpft oder geschüttelt hatte. Sie hatte gewartet, bis Maman aus dem Zimmer war, und war dann zu der ungerührten Cleo gekrochen, um sie zu trösten und selbst ein bisschen Trost zu finden.

An dem Tag, an dem sie sich zum ersten Mal auflehnte, übte sie gerade die Stücke, die Monsieur Pierre ihr aufgegeben hatte, und ihre Mutter hatte sich hingelegt, um ein Nachmittagsschläfchen zu machen. Gelegentlich rief ihre Mutter ihr etwas zu, wenn sie den Takt nicht richtig hielt oder falsche Töne spielte, aber meistens schlief sie während der Stunde, in der Josie übte. Und wenn Josie keine Lust mehr hatte, überließ sie die Klavierbank stillschweigend ihrer Freundin Cleo.

Cleo hatte nie selbst Unterricht bei Monsieur Pierre gehabt, aber sie besaß ein gutes musikalisches Gehör und dieses unfassbare gewisse Etwas: Talent. Sie konnte alles nachspielen, was sie hörte, und bei geschlossener Schlafzimmertür hätte Maman den Unterschied niemals bemerkt.

Aber an diesem Nachmittag wurde Cleo übermütig. Sie begann eine Melodie zu spielen, die sie in den Unterkünften aufgeschnappt hatte, ein altes Lied, das die Männer und Frauen sangen, wenn sie Zuckerrohr schnitten oder Baumwolle pflückten. Josie saß auf dem Sofa und blickte durch das Fernglas, das Papa aus New Orleans mitgebracht hatte. Im ersten Moment hörte sie gar nicht, wie ihre Mutter ins Zimmer trat.

Aber Cleo sah sie sofort. Sie erstarrte, die Hände noch auf den Tasten. Josie blickte auf, sah, wie Cleo und Maman einander anschauten. Mama bewegte sich zuerst. Mit drei schnellen Schritten war sie am Klavier, griff in Cleos Haarschopf und riss ihren Kopf zurück.

»Du kleiner Bastard!« Sie schlug Cleo heftig. Cleo keuchte, aber sie hatte schon vor langer Zeit aufgehört, zu weinen, wenn Maman sie bestrafte.

Josie jedoch hielt es nicht mehr aus. Sie rannte durchs Zimmer und griff nach dem erhobenen Arm ihrer Mutter. »Nein, Maman!«

Das Gesicht ihrer Mutter war weiß vor Zorn, ein Ausdruck, vor dem Josie graute. »Du kommst später auch noch dran, mein Fräulein!« Sie entzog Josie ihren Arm und hob ihn, um noch einmal nach Cleo zu schlagen.

»Maman!« Josie griff wieder nach ihrem Arm und zerrte sie weg vom Klavier.

Maman zeigte mit dem Finger auf Cleo. »Du weist sie auf der Stelle zurecht, auf der Stelle, oder ich lasse sie auspeitschen.«

Josie schüttelte den Kopf. »Sie gehört mir. Papa hat sie mir geschenkt.«

Mit einem Rascheln ihrer Röcke drehte sich Maman wieder zu Cleo um. Sie griff nach einer Handvoll schwarzem Haar und zog Cleo von der Klavierbank hoch. Cleo schlug mit dem Kopf auf die Kante der Bank, als sie stürzte, und über ihrem rechten Auge klaffte eine scheußliche Platzwunde. Aber Maman ließ sich vom Anblick des Blutes nicht aufhalten. Sie zerrte Cleo weiter weg vom Klavier und zog mit beiden Händen an ihren Haaren.

Josie warf sich ihrer Mutter entgegen. »Lass sie los!«

Maman stolperte und fiel über Cleo. Josie ging mit den beiden zu Boden und versuchte immer noch, ihre Mutter zu zwingen, dass sie Cleos Haare losließ. Sie schrie und zog an den Fingern ihrer Mutter.

Maman rutschte ein Stück über den Boden. Ihr Gesicht war verzerrt, und sie hielt sich einen Handrücken vor den Mund, während sie Josie anstarrte. »Du ergreifst ihre Partei! Du hältst tatsächlich zu ihr! Du bist genau wie er!« Maman schluchzte und vergrub ihr Gesicht in beiden Händen.

»Sie gehört mir«, flüsterte Josie.

Cleo lag wie gelähmt da, ohne ein Wort zu sprechen, das Blut strömte ihr übers Gesicht und tropfte auf ihr Kleid. Josie starrte auf das Blut und dann auf die zitternden Hände ihrer Mutter.

»Maman?«

Ihre Mutter schaukelte vor und zurück, während sie laut vor sich hin schluchzte.

»Maman?«

Ihre Mutter wandte den Kopf ab.

Josie kroch hinüber zu Cleo. Sie half ihr aufzustehen, und Arm in Arm verließen die beiden den Salon, um Bibi zu suchen.

Nach diesem Zwischenfall verließ ihre Mutter tagelang nicht mehr ihr Schlafzimmer. Als sie schließlich doch wieder bei Tisch erschien, tat sie, als wäre nichts geschehen. Aschfahl, doch sehr würdig, machte Maman Konversation mit Grand-mère und Papa und erkundigte sich nach Josies Englischlektionen. Josie hatte das Gefühl, zum ersten Mal seit dem Nachmittag am Klavier wieder durchatmen zu können.

Auch den Unterricht in Handarbeiten nahm Maman wieder auf. Am Samstagmorgen, als keine anderen Lehrer zur Hand waren, sagte sie: »Josie, hol deinen Handarbeitskorb und setz dich zu mir in den Salon.«

Josie zögerte. Gerade hatte sie mit Cleo nach draußen gehen wollen, um Ellbogen-John zu suchen, der mit ihnen in die Sümpfe fahren sollte. Aber nach ihrem Sieg im Kampf um Cleo entschied sie, es sei besser, sich anzustrengen, um ihrer Mutter zu gefallen. So setzte sie sich ans Fenster und fädelte einen Faden ein.

Sie beschwerte sich nicht, behielt die Uhr aber ständig im Auge. Sie machte ein paar Stiche an dem Puppenkleid, das Maman für sie zugeschnitten hatte, und schon sah sie wieder nach, wie viele Minuten inzwischen vergangen sein mochten. Wenn die alte Standuhr nicht so laut getickt hätte, wäre Josie sicher gewesen, dass sie stehen geblieben war.

Nach einer Stunde taten Josie die Augen weh. »Hör auf zu schielen«, sagte Maman. »Wenn du dein Gesicht nicht ruhig hältst, wirst du früh Falten bekommen.«

Grand-mère hatte Falten. Grammy Tulia hatte Falten. Sie sahen beide so schön aus, so … echt. Aber Josie musste zugeben, dass ihre Mutter viel hübscher war als die beiden. Mamans Eltern waren beide aus Deutschland, und ihr Haar war goldblond, ihre Augen blau wie die Prachtwinden am Zaun. Deshalb war Josie nicht so dunkel wie ihr Papa und alle seine Neffen und Cousinen und Tanten und Onkel.

Mit ihren schwitzigen Händen konnte Josie die Nadel kaum halten, aber sie dachte ohnehin nicht mehr ans Nähen. Cleo war jetzt wahrscheinlich mit Ellbogen-John draußen im Sumpf beim Fischen. Oder vielleicht war sie irgendwo in den Unterkünften unterwegs und spielte mit Thibault. Was auch immer sie tun mochte, es machte sicherlich mehr Spaß als Nähen.

Als die Uhr endlich zehn Mal schlug, sagte Maman: »Nun lass mich sehen, was du geschafft hast.« Kopfschüttelnd blickte sie auf die Arbeit. »Josie, deine Stiche sind so unregelmäßig! Ich bin sicher, andere Neunjährige können das besser. Du gibst dir einfach keine Mühe.«

»Doch, Maman«, sagte Josie leise.

»Jetzt bekomme ich wieder Kopfschmerzen«, sagte Maman. »Lass mich allein.«

Sorgfältig verstaute Josie ihre Handarbeit in ihrem Korb, knickste vor ihrer Mutter und durchquerte langsam das Zimmer. Doch sobald sie außer Sichtweite war, rannte sie durchs Haus, ohne auf das Geklapper zu achten, das ihre Schuhe auf dem Holzboden verursachten.

Sie rannte zu Grammy Tulia. Wenn Cleo dort nicht war, konnte sie immer noch mit Thibault spielen. Er liebte es, wenn sie für ihn Bilder auf den Erdboden malte. Aber bei Tulia war niemand zu Hause. Josie ließ die Schultern sinken. Wo waren sie alle?

Die Blaubeeren waren reif. Josie griff nach einem Sirup-Eimer, der auf Grammys Veranda stand, und eilte die Gasse zwischen den Unterkünften hinunter zur Blaubeerstelle. Dort fand sie Cleo, Ellbogen-John, Grammy und Thibault, die in der Mittagshitze Blaubeeren pflückten.

»Sieh mal, wie viele wir schon gepflückt haben«, sagte Cleo. »Louella hat gesagt, wir könnten einen Kuchen backen, du und ich.«

»Raus aus der Sonne«, sagte Ellbogen-John. »Deine Maman lässt mich schlagen, wenn du wieder Sommersprossen kriegst, Mamsell.«

»Aber ich habe ja noch gar nichts gepflückt, ich bin doch gerade erst gekommen.«

Cleo nahm ihren Strohhut ab und setzte ihn Josie auf. Dann drehte sie sich zu Ellbogen-John um. »Können wir nicht noch ein bisschen bleiben?«

»Na, ich denke, ein paar Minuten werden nicht schaden.«

Thibault, der mit seinem kleinen Eimer herumlief, ging mit Josie, und sie zeigte ihm die Beeren, die unten in den Büschen hingen.

Mit vollen Eimern kehrten sie zurück. Josie und Cleo gingen zum Küchenhaus, um kaltes Wasser aus der Zisterne zu trinken. Louella hatte ihren Backofen bereits vorgeheizt. »Der Teig ist schon ausgerollt, ihr könnt die Beeren verlesen und mit Zucker und Zimt mischen. Dann machen wir einen Kuchen für Monsieur Emile.«

»Maman mag Blaubeerkuchen auch«, bemerkte Josie.

»Hmm«, machte Louella. »Vorsicht mit dem Zimt, Cleo, nimm nicht zu viel.«

Mit Louella in der Küche zu sein machte mehr Spaß als alles andere auf der Welt; selbst Fischen mit Ellbogen-John war weniger lustig. Josie maß den Zucker ab und rührte Cleos Löffel voll Zimt darunter. »Butter kommt auch noch hinein, oder?«, fragte sie.

»Ja, sicher. Du weißt ja, wo die Butter ist.«

Cleo legte den Boden in die Form, Josie füllte die Beeren hinein, und beide legten den Teigdeckel darauf und verschlossen ihn. Dann ließen sie Louella mit dem Kuchen allein, und den ganzen Nachmittag lang, während sie mit Cleo und Ellbogen-John im Sumpf unterwegs war, um die Reusen zu prüfen, stellte sich Josie vor, wie stolz Papa sein würde, weil sie ihm einen Kuchen gebacken hatte. Und Grand-mère auch. Grand-mère fand nämlich, kreolische Frauen müssten fähig und nützlich sein, um auf der Plantage mitzuarbeiten. Maman war da anderer Ansicht. Sie versuchte, Josie zu einer feinen Dame zu erziehen, die ihre Hände nicht schmutzig machte und immer ordentlich frisiert war. Es war nicht einfach, Grand-mère und Maman gleichermaßen zufriedenzustellen.

Mit Papa war es einfacher. Er lächelte ihr zu, ob sie nun schmutzig oder sauber war, faul oder fleißig. Er würde den Blaubeerkuchen einfach lieben.

Das Herz des Südens
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