18

Toulouse

Als die Patrouille durch das Tor von Toulouse kam, mussten sich die Sklaven hinter dem Pferd des Weißen beeilen, um Schritt zu halten. Das Geräusch von Eisen auf Eisen hatte jeden Schritt von Remy begleitet, seit die Männer ihn vor acht Tagen eingefangen hatten.

Beim Anblick des Ortes, an dem er geboren war, musste er schwer schlucken. Seine Mutter lag hier auf dem Friedhof hinter den Unterkünften, der Duft des brennenden Hickoryholzes drang aus den Schornsteinen, und die neue Schmiede, die er mit seinen eigenen Händen hatte bauen helfen, leuchtete mit ihrem frischen Holz. Hier war er zu Hause, und hier wartete Cleo auf ihn. Und doch war Toulouse für ihn ein Ort der Gefangenschaft, und er kehrte in Ketten hierher zurück.

Zwei Monate und elf Tage lang war Remy ein freier Mann gewesen. Er war davongelaufen und hatte sich versteckt; ein müder Rothaariger, der langsamer war als er, hatte versucht, ihn zu erwischen; er war von Hunden gejagt worden, und er hatte gehungert, wenn er nicht irgendwo aus den Futtervorräten eines Farmers hatte einen Kürbis oder etwas Mais stehlen können. Und doch war er niemals zuvor so glücklich gewesen. Solange er die Luft der Freiheit geatmet hatte, hatte er gewusst, er war am Leben.

Als die Flüchtlinge dem Sklavenhändler in den hinteren Hof folgten, hörte Remy Cleos Stimme, noch bevor er sie sah. Sie schrie: »Madame!«, und dann kam sie die Treppe heruntergerannt und lief über den Hof auf ihn zu.

Er konnte ihr nicht einmal antworten, so schwach war er – und so sehr schämte er sich. Aber Cleo fand ihn sofort, zog ihn in ihre Arme, und als er schwankte, hielt sie ihn aufrecht. Die halb verheilte Wunde über seiner Augenbraue hatte sich entzündet, aber Cleo legte ihm die Hand auf das verschwollene Gesicht und flüsterte ihm zu: »Jetzt wird alles wieder gut.«

Ohne Vorwarnung klatschte die Peitsche des Weißen auf Cleos Rücken, schnitt durch ihre Bluse und ließ ihre Haut aufplatzen. »Weg da, Mädchen«, sagte der Mann auf der schwarzen Stute. Seine Stimme ließ nicht einmal Bosheit hören, es war nur die selbstverständliche Annahme, dass eine schwarze Sklavin gehorchen musste.

Doch Remy, verletzt wie er war, die Hände auf dem Rücken gefesselt, die Fußgelenke zusammengebunden und am Hals durch einen schweren Eisenkragen mit einem anderen Mann verbunden, drehte sich um und starrte den Sklavenhändler trotzig an.

»He, Junge, was glotzt du so?« Der Mann hob die Hand, um Remy mit seiner Peitsche zu schlagen, aber Cleo warf sich gegen die Flanke seines Pferdes. Die Stiefelspitze des Mannes steckte im Steigbügel, sodass er ihre Rippen nicht treffen konnte, aber jetzt begann er, mit dem Griff seiner Peitsche auf sie einzuprügeln. Das Pferd trat einen Schritt zurück, und Cleo blieb dicht bei ihm, sodass sie die Schläge des Sklavenhändlers auffing.

Jetzt sprang auch Remy gegen die Flanke des Pferdes, seinen Körper als seine einzige Waffe einsetzend. Der Sklave, der an ihn gefesselt war, fiel auf die Knie, und der Mann hinter ihm stolperte.

Die anderen Sklaventreiber lenkten ihre Pferde in die Menge der gefesselten Männer und Frauen, setzten Stöcke und Peitschen ein, fluchten und schrien.

Remy zog Cleo von der Mähne des Pferdes weg und versuchte, sie mit seinem Körper zu schützen.

Jetzt kam LeBrec aus dem Aufseherhaus gerannt, die Pistole in der Hand, aber Madame Emmeline hielt ihn auf und nahm ihm die Pistole weg. Jetzt war sie keine gebeugte alte Frau mehr – sie stand aufrecht da und feuerte in die Luft.

Bei dem Geräusch des Schusses fuhren alle zusammen, ein Pferd ging hoch und wieherte, dann war der kurze Aufruhr auch schon vorbei. Remy stand nach vorn gebeugt da, wie gelähmt von den Schlägen, die der Sklaventreiber ihm verpasst hatte. Cleo rappelte sich hoch und half ihm, aufrecht zu stehen.

Die Leute von der Plantage, die gerade in der Nähe waren, liefen zusammen, als sie den Schuss hörten. Louella rannte über den Hof, und ihr ausladender Busen wogte, als sie schrie: »Was ist hier los? Auf wen wird geschossen?«

Madame Emmeline drückte LeBrec die Waffe wieder in die Hand. »Niemand wurde erschossen. Bringt Wasser für diese Leute.« Dann wandte sie sich an den Sklavenhändler auf dem schwarzen Pferd.

»Wie ich sehe, haben Sie meinen Jungen gefunden, Mr Hayes«, stellte sie fest.

»Ja, Madame, ich denke, das ist er.«

»Dann können Sie ihn jetzt loslassen. Monsieur LeBrec, bringen Sie ihn aus dem Gedränge, ich denke, im Augenblick wäre die Scheune vielleicht der richtige Platz.« Sie wandte sich wieder an den Führer der Patrouille. »Sie können hier warten, ich hole das Geld.«

Wie auf Kommando setzten sich alle gefesselten Sklaven auf den Boden. Sie hockten in der Sonne, und das Küchen-haus schützte sie ein wenig vor dem kalten Wind. Louella begann, Wasser für die armen Seelen zu holen, die barfuß durch eisige Schlammpfützen gelaufen waren und deren Knöchel blutig waren von den Fesseln. »Thibault«, sagte sie, »hol doch mal noch ein paar Eimer aus den Unterkünften, wir müssen diesen Leuten Wasser geben.«

Einer der Weißen schloss die Ketten an Remys Hals, Händen und Füßen auf. Er schob ihn mit einer groben Bewegung zu Cleo hinüber, sodass sie beide zu Boden gingen. Der Sklaventreiber lachte und trat noch einmal lässig nach Remys blutendem Bein.

Remy stand mühsam auf und reichte Cleo die Hand, um ihr auf die Füße zu helfen. LeBrec schubste Cleo grob zur Seite und schob Remy Richtung Scheune.

»Monsieur, kann ich dem Jungen nicht erst etwas Wasser geben?«, fragte Louella.

»Der hat noch genug Kraft, auch ohne Wasser. Los, Junge«, antwortete LeBrec.

Madame Emmeline reichte einen Umschlag hinauf zu dem Sklaventreiber auf dem schwarzen Pferd, der nicht einmal die Höflichkeit besessen hatte, abzusteigen.

»Auf den Kerl würde ich aufpassen, Madame Tassin«, sagte er. »Ein ganz harter Knochen. Keinen Respekt vor Peitsche oder Stock, überhaupt nicht.«

»Wir wissen schon, wie wir mit unseren Leuten umgehen müssen, Mr Hayes. Guten Tag.«

Hayes legte kurz eine Hand an den Hut, bevor er seine Peitsche über den Köpfen der sitzenden Sklaven knallen ließ, damit sie wieder aufstanden.

»Madame«, begann Cleo. Sie konnte sich kaum noch auf den Beinen halten, so groß war ihre Angst um Remy. »Madame, Sie lassen Monsieur LeBrec doch nicht …«

Remy hatte sie gehört und drehte sich um, weil er es nicht ertragen konnte, dass sie für ihn bat. Seine Stimme reichte kaum noch bis zu ihr. »Nicht, Cleo!«

Madame Emmeline warf ihm einen kalten Blick zu. »Geh ins Haus«, befahl sie Cleo.

LeBrec schob Remy vor sich her zur Scheune, und Remy schlurfte weiter, mit ungeschickten Schritten nach dem langen Marsch in Ketten. Warum renne ich nicht einfach wieder weg?, dachte er. Ich könnte ihm diese Pistole abnehmen, ihn niederschlagen und wieder in den Sümpfen sein, bevor sie die Sklaventreiber zurückrufen.

Er schwankte vom Fieber und vor Entkräftung. Nein, er war zu schwach. So verletzt und ausgehungert, wie er war, würde er noch vor Einbruch der Nacht sterben, wenn er jetzt wieder weglief.

Er betrat die dunkle Scheune. Es war kalt hier drinnen, aber es war trocken, und es duftete süß nach Getreide, das großzügige Nachbarn nach der Überschwemmung geschickt hatten. Als LeBrec ihm eine Hand auf den Rücken legte und ihn in eine Ecke schob, verlor Remy das Gleichgewicht und stürzte zu Boden.

LeBrec öffnete das schmale Fenster bei der Tür, um besser zu sehen. Als Remy sich zu ihm umdrehte, stand er schon mit dem Messer über ihm. Das Sonnenlicht funkelte auf der Klinge, aber Remy sah nur einen Blitz, dann war LeBrec schon bei ihm.

Die Klinge fuhr in seine Ohrmuschel. Remy schrie; dann wurde er bewusstlos.

Kurz darauf kam er wieder zu sich, bemerkte, dass er allein war, und hörte Cleo, die mit den Fäusten an die verschlossene Tür schlug. »Remy!«, rief sie.

Er legte eine Hand an sein verstümmeltes Ohr und wäre beinahe wieder ohnmächtig geworden. Durch die Tür hörte er LeBrec, der sagte: »Mach mich bloß nicht wütend, Mädchen.«

»Remy!«, schrie sie. Remy wusste genau, was ein Aufseher einer jungen Sklavin antun konnte. Und dieser LeBrec war mit Cleo da draußen, während er, Remy, sich auf der falschen Seite der Tür befand.

»Mit mir ist alles in Ordnung, Cleo!«, rief er durch das kleine Fenster. »Geh weg da! Geh ins Haus, bevor du Schwierigkeiten kriegst!«

»Das ist dein Schatz da drinnen, hm?«, knurrte LeBrec. Remy spürte den Schlag, als Cleo mit dem Rücken an die Wand gedrückt wurde, und er presste sein Gesicht an das kleine Fenster, sodass er LeBrec sehen konnte, der mit tabakbraunen Zähnen Cleo angrinste.

»Du weißt ja sicher, wie du ihm die Axt ersparen kannst, oder?«, sagte er gerade zu ihr.

»Cleo, nein! Du musst das nicht tun! Nein, Cleo!«

Remy konnte den Gestank des Aufsehers riechen, wie Maultierpisse, die in der Kälte dampft. Er schlug mit der Faust an die Scheunenwand. »Ich bring dich um, LeBrec«, brüllte er, als der Aufseher seinen stinkenden Mund auf Cleos Lippen drückte.

»Monsieur LeBrec.«

LeBrec fuhr herum und wusste einen Augenblick lang nicht, was er tun sollte. Madame Emmeline verzog keine Miene, der Blick aus ihren schwarzen Augen war steinhart. Er versuchte es mit einer Ausrede.

»Dieses schwarze Mädchen versucht, zu dem Flüchtigen hineinzukommen. Sie hört einfach kein Verbot, wenn man es ihr nicht mit der Faust sagt.«

Madame sah Cleo an. »Ich habe dir gesagt, geh ins Haus«, befahl sie.

Louella tauchte hinter Madame auf, einen Eimer mit Wasser in der Hand und frische Kleider unter dem Arm. Madame sah LeBrec wieder an. »Ich würde mich jetzt gern um den Jungen kümmern, Monsieur LeBrec. Schließen Sie die Tür auf und lassen Sie mir den Schlüssel hier. Sie können jetzt wieder an Ihre Arbeit gehen.«

LeBrec gab ihr den Schlüssel und schlich davon. Remy sah Cleo nach, die zur Verandatreppe ging, die blutverschmierte Bluse klebte ihr am Rücken. Dann war Madame bei ihm und bestand darauf, dass er sich an einen Reissack lehnte und so sitzen blieb.

Sie wusch ihm selbst die Wunde aus, denn LeBrec hatte ihm das halbe Ohr weggeschnitten. Die Blutung stillte sie mit einer selbst zusammengerührten Salbe, die sie jahrelang erprobt und immer weiter verbessert hatte. Er konnte sich noch erinnern, wie er als Kind einmal schreckliche Ohrenschmerzen gehabt und seine Mutter sich so große Sorgen gemacht hatte, dass sie nach Madame Emmeline gerufen hatte. Da hatte Madame ihm warmes süßes Öl ins Ohr gegeben, und dann hatte er endlich schlafen können. Jetzt schloss er einfach die Augen und ließ alles mit sich geschehen.

Im großen Haus zog Cleo sich vorsichtig das Hemd vom Rücken und blickte über ihre Schulter in Josies Spiegel. Die Wunde war fünfzehn Zentimeter lang und sehr tief; die Peitsche hatte sie genau zwischen den Schulterblättern getroffen. Es würde eine Narbe davon zurückbleiben, das Zeichen der Sklaverei.

Cleos Hände zitterten, als sie versuchte, die Wunde auszuwaschen. Als Louella mit einer Schüssel und frischen Tüchern kam, legte sie sich auf den Boden und ließ Louella weitermachen. Sie ballte die Fäuste, als das Essigwasser in die Wunde drang, aber die Salbe, die Louella auftrug, beruhigte sie schnell wieder.

»Du darfst jetzt erst mal nichts Schweres tragen, Kind. Wenn du daran ziehst, geht die Wunde immer wieder auf. Ich bringe das Essen ins Haus, und du bleibst schön hier liegen.«

»Louella, was geschieht mit Remy?«

»Ach, Kind, diese Gesetze, da kenne ich mich nicht aus. Vielleicht ist LeBrec ja zufrieden, dass er ihm das Ohr abgeschnitten hat. Vielleicht genügt das ja.«

Cleo blieb in ihrem Zimmer und sah den Schatten zu, die ihr zeigten, wie der Tag verging. Wenn doch nur Josie hier wäre, dachte sie wohl hundert Mal. Josie würde Remy retten, sie würde nicht zulassen, dass man ihm den Fuß abhackte. Josie würde ihn beschützen, da war Cleo ganz sicher.

Thibault kam hereingeschlichen und legte sich neben sie. Sie hielt seine Hand, und sie lagen beide schweigend da.

Am Spätnachmittag hörte sie LeBrecs schwere Stiefel auf der Treppe zur Veranda. Thibault war eingeschlafen. Sie hätte jetzt eigentlich zur Tür gehen müssen, um LeBrec hereinzulassen, aber sie blieb liegen.

Madame ließ den Aufseher selbst herein und führte ihn in ihr Arbeitszimmer.

Cleo stand vorsichtig auf, um Thibault nicht zu wecken. Bei der Bewegung zog es an ihrer Wunde, und sie musste die Zähne zusammenbeißen, so weh tat es. Auf nackten Füßen tappte sie zur Tür des Arbeitszimmers und legte ihr Ohr ans Schlüsselloch.

Madame war nicht zufrieden mit LeBrec. Nicht nur, dass er ihren Besitz beschädigt hatte, er hatte auch das Leben eines ihrer Sklaven in Gefahr gebracht, indem er ihm in seinem geschwächten Zustand noch eine zusätzliche Wunde zugefügt hatte. In Zukunft würde er sich bitte mit ihr beraten, bevor er irgendwelche außergewöhnlichen Strafmaßnahmen durchführte.

Cleo atmete auf.

Madame würde nicht zulassen, dass man Remy einen Fuß abhackte. Das würde seinen Wert weiter mindern, aber Cleo wollte auch gern glauben, dass Madame um das Wohl ihrer Sklaven genauso besorgt war wie um das Wohl ihres Geldbeutels.

»Aber wir müssen etwas unternehmen, um den anderen Sklaven zu zeigen, was passiert, wenn man wegläuft, Madame«, gab LeBrec zu bedenken. »Sie wissen doch, wenn einer damit durchkommt, versuchen es so und so viele andere auch.«

»Ja, das ist mir klar. Natürlich muss es eine Strafe geben. Aber ich dulde keine weiteren Verstümmelungen. Und ein Sklave, der am Pfahl halb tot gepeitscht wird, nützt uns auf den Feldern überhaupt nichts. Denken Sie sich eine Strafe aus, die meinem Besitz keinerlei Schaden zufügt, Monsieur LeBrec.«

Cleo blickte durchs Schlüsselloch. Madame hatte LeBrec keinen Stuhl angeboten, er stand da und drehte nervös seinen Hut in den Händen.

»Gut, ich weiß, was zu tun ist. Ja, Madame.«

»Dann können Sie jetzt wieder an Ihre Arbeit gehen, Monsieur.«

Cleo eilte zurück ins Schlafzimmer und blickte verstohlen durch einen Schlitz zwischen den Vorhängen, als LeBrec über den Hof in Richtung Schmiede schwankte.

Nach Einbruch der Dunkelheit schlich sie über die Hintertreppe aus dem Haus. Jetzt konnte sie Remy ein paar Reste von Madames Abendessen bringen, mit ihm sprechen, ihn durch das kleine Fenster berühren.

Im Schatten der Myrtenbüsche blieb sie stehen, um das Gelände zwischen ihr und der Scheune zu überblicken. Gerade als sie über den Hof eilen wollte, war ein Lichtschein von der Ecke her zu sehen, und LeBrec kam heran, ein Gewehr über der Schulter und seinen Jagdhund gleich hinter sich.

Er überprüfte das Schloss am Scheunentor, leuchtete mit seiner Laterne durch das kleine Fenster und schien zufrieden. Für einen Augenblick stand er ganz still und sah in Cleos Richtung. Er hielt die Laterne in die Höhe, aber sie stand im Schatten, und er konnte sie nicht erkennen.

Solange der Hund kein Interesse an ihr zeigte, war sie in Sicherheit.

LeBrec kratzte sich ausgiebig im Schritt und spuckte auf den Boden. Dann ging er zurück zu seinem Wohnhaus. Cleo beobachtete, wie er auf die Veranda trat, die Laterne löschte und sie an einen Haken bei der Tür hängte, bevor er hineinging. Der Hund kroch unter die Veranda und suchte sich einen Schlafplatz.

Eilig lief Cleo über den Hof.

»Remy«, flüsterte sie durchs Fenster. »Remy, bist du noch wach?«

Er streckte die Hand durch das kleine Fenster, und sie ergriff sie mit ihren beiden Händen. Sie küsste jeden seiner Finger, und er legte seine Hand um ihr Gesicht.

»Bist du schwer verletzt?«

»Nur eine Schwellung, mach dir keine Sorgen.«

Sie zog eine Serviette aus ihrer Rocktasche. »Ich habe dir ein Hühnerbein mitgebracht, Remy, du musst doch Hunger haben.«

»Wahrscheinlich habe ich den Rest meines Lebens immerzu Hunger«, antwortete er, nahm das Hühnerbein und aß es mit drei Bissen auf.

»Das hier hat mir Louella für dich mitgegeben. Sie sagt, du sollst alles auf einmal trinken, dann tut dein Ohr in der Nacht nicht so weh.«

»Das wäre ein Segen.«

»Wie weit bist du gekommen, bevor sie dich erwischt haben?«

»Keine Ahnung. Es gab immer noch schwarze und weiße Leute, soweit ich gesehen habe. Ich war wohl noch nicht im Norden, aber weit kann es nicht mehr gewesen sein.«

»Madame hat LeBrec verboten, noch mal mit dem Messer auf dich loszugehen, oder mit der Axt.«

Für einen Augenblick war Remy still. Dann sagte er: »Dieser Mistkerl … dem fällt schon was ein, das ist noch nicht das Ende. Aber ich halte das durch, so schnell gebe ich nicht auf.«

»Was soll das heißen? Du willst doch wohl nicht noch mal weglaufen?«

»Liebste, ich habe dir gesagt, ich werde ein freier Mann sein. Wenn ich wieder bei Kräften bin, haue ich ab.«

Cleo drückte seine Hand. »Ach, Remy«, sagte sie ratlos.

»Ich tue es für uns, Cleo, das weißt du doch. Unsere Kinder werden frei sein.«

Sie steckte das Gesicht durch das kleine Fenster und küsste ihn.

»Erst musst du wieder zu Kräften kommen, Remy. Du brauchst genug zu essen, und du musst diesem Mann aus dem Weg gehen.«

»Du, Cleo, du musst ihm aus dem Weg gehen. Hörst du mich?«

»Ich höre dich, Remy.«

»Geh ins Haus zurück. Meine Beine machen nicht mehr lange mit, ich muss mich wieder hinlegen, und ich will nicht, dass du im Dunkeln da draußen rumläufst.«

Früh am nächsten Morgen feuerte der Gehilfe des Schmieds seine Esse an und betätigte den Blasebalg. Den ganzen Morgen und frühen Nachmittag lang wurde in der Schmiede gehämmert und gearbeitet, bis das Modell fertig war, das LeBrec dem Schmied in Auftrag gegeben hatte. Vor dem Abendessen wurden die letzten Einzelteile montiert – vier Glöckchen –, dann schickte er den Jungen zu LeBrec, um zu melden, dass alles fertig war.

Der Aufseher versammelte alle Männer, Frauen und Kinder vor den Unterkünften, damit sie Zeugen von Remys Demütigung wurden. Um diese Jahreszeit wurde es früh dunkel, und um die Zeit des Sonnenuntergangs scheuchte er die Leute den Weg hinunter. Der alte Sam und sein Sohn wurden losgeschickt, Remy zu holen. Als alle versammelt waren, befahl LeBrec Remy, niederzuknien. »So verfahren wir auf Toulouse mit Leuten, die weglaufen wollen«, verkündete er laut.

Dann hob er das schwere Eisenteil hoch, das der Schmied für ihn angefertigt hatte, und zeigte es allen. Lachend schüttelte er es, sodass die Glöckchen klingelten. Er öffnete das Scharnier und legte den Ring Remy um den Hals. Der Kragen schnitt ihm in die Schulter, und rund um den Kopf erhoben sich gebogene Eisenstangen, die oben zusammengefügt waren, sodass Remys gesamter Kopf in einer Art Eisenkorb gefangen war. Vom höchsten Punkt hingen die Glöckchen herab.

»Und nun versuch doch mal zu laufen, Nigger«, sagte Le Brec.

Remy rührte sich nicht.

»Steh auf, sage ich, wir wollen sehen, wie du läufst.« Er versetzte Remy einen Tritt, und Remy versuchte aufzustehen. Der alte Sam und sein Sohn halfen ihm, mit dem Gewicht des Eisenkorbs auf dem Kopf richtig zu stehen. Der Korb rutschte nach vorn, Remy schwankte, und die Glöckchen klingelten. Er griff mit beiden Händen nach dem Korb, um ihn gerade zu rücken, und fand sein Gleichgewicht wieder.

»Lauf los, verdammt noch mal«, befahl LeBrec.

Remy stolperte, dann schlurfte er einmal im Kreis herum. Die Glöckchen klingelten bei jedem Schritt, und das Gewicht des Käfigs drückte ihm auf die Schlüsselbeine. Er bemerkte Freunde und Verwandte in seiner Nähe. Der alte Sam stand mit versteinertem Gesicht da, Tante Liza weinte, sein Cousin Jean starrte ihn voller Mitleid und Furcht an.

Remy blickte nur noch zu Boden. Er konnte nichts sehen, als er begann, im Kreis herumzulaufen. Das Eisen war so schwer, dass er es nicht nur in seinen Schultern spürte, sondern bis hinunter in seine Knie und Füße. Aber das Schlimmste waren diese Glöckchen, die sich über seine Schmerzen lustig zu machen schienen. Sie klingelten und klingelten und hörten nicht auf!

Erschöpft sank Remy wieder in die Knie, und endlich schwiegen die Glöckchen, aber LeBrec schrie ihn an, er solle aufstehen und weiterlaufen. Remy versuchte aufzustehen, und er hörte die Glöckchen wieder, aber er brach auf dem Boden zusammen, keuchend, die Schultern jetzt schon wund von der scharfen Kante des Eisens.

Befriedigt spuckte LeBrec auf den Boden, wandte sich ab, ging fort und ließ sie alle stehen.

Der alte Sam und zwei weitere Männer halfen Remy auf. Sie brachten ihn zu seinem alten Schlafplatz in der Hütte der unverheirateten Männer und legten ihn ins Bett, wobei die Glöckchen bei jeder Bewegung weiterklingelten. Dann brachten sie ihm eine alte Flickendecke, um seinen Kopf in dem eisernen Käfig ein wenig abzupolstern, und rieten ihm, erst einmal zu schlafen.

Remy lauschte auf die nächtlichen Geräusche. Ein Kind weinte sich in den Schlaf, auf einer Veranda in der Nähe sprachen ein paar Männer halblaut miteinander, der Wind bewegte die Blätter in den Eichen. Solange er nicht versuchte, sich umzudrehen oder zu bewegen, blieben die Glöckchen still.

Gott sei Dank, dass Cleo nicht dabei war, dachte er. Wenn ich sie das nächste Mal treffe, stehe ich aufrecht. Ich werde ihr zeigen, dass dieser Käfig mir nichts ausmacht. Ich werde ihr zeigen, dass ich ein Mann bin.

Das Herz des Südens
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