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Toulouse, Frühling 1840

Josie blickte zu Phanor auf. Sein Haar wehte im Wind, und seine Augen waren so dunkel, dass sie das Sonnenlicht fast verschluckten. Sie wollte diese Lippen küssen, gleich hier auf dem Deck des Schiffes. »Bist du so glücklich wie ich, Phanor?«

Sein Lächeln sagte ihr alles, was sie wissen musste.

Cleos kleiner Gabriel suchte sich einen Weg zwischen den Deckstühlen hindurch und ließ sich vom Schaukeln des Schiffes kaum beeindrucken. Cleo folgte ihm, das Ende der Leine in der Hand. Sie hatte erklärt, es sei ihr egal, wie schrecklich es aussehe, sie würde nicht zulassen, dass ihr Kind über Bord ging, lieber würde sie ihm ein Seil um den Bauch binden.

Gabriel hob die Ärmchen, um sich aufheben zu lassen. Als Josie ihn hochnahm, versuchte er, auf die Reling zu klettern, aber sie behielt ihn fest auf ihrer Hüfte. »Ich halte ihn, Cleo.«

»Ich auch«, sagte Cleo lächelnd und wickelte sich das Ende der Leine noch einmal ums Handgelenk.

»Wie fühlst du dich jetzt, wo es nach Hause geht, Cleo?«, fragte Phanor. »Bist du froh?«

»Ich freue mich auf den alten Sam, auf Ellbogen-John und all die anderen. Aber Madame Emmeline … ich weiß ja nicht, ob sie mich überhaupt sehen will.«

»Aber es war ja meine Schuld, dass du weggelaufen bist«, erinnerte Josie sie.

»Vielleicht sieht Madame das aber anders.«

»Bedeutet dir das so viel?«, fragte Josie. »Ist das so wichtig für dich, dass Grand-mère dich wieder im Haus aufnimmt?«

Cleos Augen wurden nass, und Josie legte ihr eine Hand auf den Arm.

Der schwere, süße Duft der Magnolien wehte von einer Plantage am rechten Flussufer zum Schiff herüber. Eine riesige Rasenfläche erstreckte sich bis zu einem schlossähnlichen weißen Haus mit Säulen, die über zwei Stockwerke reichten und einen gewölbten Balkon trugen. Josie erkannte das Haus der Johnstons wieder, wo sie sich in Bertrand Chamard verliebt hatte und wo sie Wochen des lähmenden Entsetzens verbracht hatte, damals während der Überschwemmung. Wie lange war das inzwischen her!

Ein kleines Stück den Mississippi hinauf errichtete man gerade ein neues Haus. Das Dach war schon gedeckt, aber die Außenwände warteten noch auf ihre Holzverkleidung. Albany Johnstons Geschenk an seine Frau, vermutete Josie. Sie hoffte sehr, dass er mit ihrer Cousine Violette glücklich wurde.

Josie hatte ihrer Großmutter den Besuch in einem Brief angekündigt. Von ihrer Hochzeit hatte sie allerdings noch nichts geschrieben. Mr Gale las Grand-mère die Post vor, und so sehr sie den Mann als Aufseher und Verwalter schätzte, sie hielt ihn nicht unbedingt für den geeigneten Kandidaten, um diese freudige Nachricht zu überbringen. Und sie wollte vor allem sichergehen, dass ihre Großmutter es auch wirklich als gute Nachricht verstand. Grand-mère hatte erwartet, dass Josie des Geldes wegen oder aus Vernunft heiratete, irgendjemanden, der Vorteile von der Art bot, die Albany Johnston ihr hätte bieten können. Und nun hatte Josie den Sohn eines armen Cajun geheiratet.

Grand-mère konnte sehr streng sein, und ihr Verstand war nicht mehr das, was er früher gewesen war. Andererseits hatte sie Phanor immer gemocht, hatte seine Fähigkeiten und seinen Ehrgeiz geschätzt. Maman hätte ihn niemals akzeptiert, aber Josie hoffte, bei ihrer Großmutter auf mehr Nachsicht zu treffen.

Die Schiffspfeife ertönte, als ob man damit die Engel im Himmel aufschrecken wollte. Phanor drückte Gabriels Kopf an seine Brust und bedeckte seine Ohren mit beiden Händen. Als der Ton verebbte, sagte er zu ihm: »Schau!« und zeigte auf die Eichenallee, die zu dem grün und orangefarben gestrichenen Haus führte. »Jetzt sind wir da.«

Ellbogen-John und Thibault winkten vom Anleger, bereit, der Schiffsmannschaft mit der Gangway und dem Gepäck zu helfen.

»Schau dir den Jungen an!«, rief Cleo. »Der muss ja zwei Fuß gewachsen sein! Thibault!«

Sie war als Erste vom Schiff herunter, eilte über das Brett an Land, Gabriel auf dem Arm, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass einer von ihnen beiden ins Wasser fallen könnte. Mit dem freien Arm griff sie nach ihrem Bruder und hielt ihn ganz fest.

»Thibault, du darfst mich noch gar nicht loslassen, ich muss dich noch ein bisschen umarmen.«

Gabriel strampelte und schob Thibault ein Stückchen weg, als Cleo sie zu dritt so eng zusammendrückte, aber sobald Thibault sich von ihr losgemacht hatte, streckte er die Arme nach Gabriel aus und lächelte. Das Strahlen auf diesem einfältigen Gesicht verzauberte Gabriel sofort, und er stürzte sich in die Arme seines Onkels.

Ellbogen-John stand ein kleines Stück abseits. Cleo wusste, dass sie nicht mehr wie das Mädchen aussah, das er gekannt hatte. Sie trug ein feines blaues Musselinkleid mit weißer Stickerei, und ihr Haar war in ein schönes blaues Kopftuch gewickelt. Sie war eine Frau, kein Mädchen mehr. Aber sie liebte Ellbogen-John immer noch, blieb einen Augenblick vor ihm stehen und lächelte seinem wettergegerbten Gesicht entgegen. »Ich bin’s, John«, sagte sie.

»Ja, das ist wohl so«, sagte er und öffnete seine Arme, um sie zu umarmen.

Während Phanor mit dem Gepäck beschäftigt war, folgte Josie Cleo auf den Anleger. Thibault grinste von einem Ohr zum anderen, als sie zu ihm trat. »Du bist Josie«, sagte er stolz.

»Ja, Thibault. Hast du noch einen Kuss für deine Schwester übrig?«

»Viele Küsse. Das Baby hier gehört jetzt mir, oder?«

Josie lachte. »Du wirst ihn mit uns teilen müssen, Thibault. Diesen kleinen Kerl wollen ganz viele Leute haben.«

Dann warf sie Cleo einen fragenden Blick zu. »Bist du bereit?«

Cleo nickte. Sie nahm Gabriel wieder auf den Arm, und die beiden Frauen gingen langsam die Allee hinauf zum Haus. Grand-mère wartete in ihrem Rollstuhl auf der Veranda. Als Josie sich der Treppe näherte, schob die alte Dame Laurie zur Seite und versuchte aufzustehen, aber Josie eilte die Treppen hinauf, um sie aufzuhalten.

»Ich bin schon da, Grand-mère, nicht aufstehen.« Sie nahm die zitternden Hände ihrer Großmutter in ihre und ließ ihr Zeit, sie anzuschauen.

»Bistu?«, hörte sie.

»Ich bin die Einzige hier, die sie versteht«, mischte sich Laurie stolz ein. »Sie fragt: Bist das du?«

»Ja, ich bin’s tatsächlich, Grand-mère. Und schau mal, wen ich mitgebracht habe!«

Josie trat zur Seite, und dann stand Cleo vor Grand-mère. Die müden Augen blickten forschend auf Gabriel, der den Kopf an die Brust seiner Mutter gelegt hatte und den Blick der alten Frau eindringlich erwiderte.

»Emile?« Grand-mère streckte die Hände nach Gabriel aus. »Mein Emile!« Eine fast flehende Geste. »Mein Emile.«

»Sie sagt, er ist ihr Emile«, übersetzte Laurie unnötigerweise.

Cleos Gesicht überschattete sich. Sie kniete neben Grandmères Stuhl nieder. »Gabriel, sag guten Tag.« Er murmelte die Worte und erlaubte seiner Urgroßmutter, ihm über den schwarzen Haarschopf zu streicheln.

»Grand-mère, du hast Cleo noch gar nicht begrüßt«, sagte Josie.

Grand-mère starrte Cleo an, und endlich leuchtete so etwas wie Erkennen in ihrem Blick auf. Sie streckte eine Hand aus, um Cleos Gesicht zu streicheln, berührte ihr Haar, wie um sie zu segnen. Und Cleo ließ ihre Tränen in den Schoß ihrer Großmutter fallen.

Phanor kam zu ihnen auf die Veranda. Während Cleo ein paar Schritte zur Seite trat, um wieder zu sich zu kommen, lächelte er Grand-mère zu und beugte sich über ihre Hand. »Madame Emmeline«, sagte er, »ich wünsche einen guten Tag.«

Grand-mère war verwirrt. »Wer …«

»Das ist Phanor DeBlieux, Grand-mère.«

Sie starrte ihn lange an, dann lächelte sie mit ihrem halb gelähmten Gesicht. »Tag«, erwiderte sie seinen Gruß recht klar.

»Ich muss dir was erzählen, Grand-mère.« Josie streckte ihre Hand nach Phanor aus, und er hielt sie fest. »Phanor und ich haben geheiratet. Ich bin jetzt Madame DeBlieux.«

Sie warteten ab, während ihre Großmutter die Nachricht verdaute. Endlich nickte die alte Frau heftig. »Gut«, sagte sie schließlich.

In dieser Nacht lagen Josie und Phanor im Bett und lauschten auf die Geräusche des Hauses, das in der abkühlenden Luft knarrte und knackte. Draußen sangen die Grillen ihr Lied.

»Das ist ein schönes Bett«, sagte Phanor und drehte lässig eine von Josies Locken zwischen den Fingern.

»Schöner als unseres?«

»Na, in diesem Bett hier kann ein Mann wenigstens mal die Beine ausstrecken.«

»Ach, das hast du vor? Die Beine ausstrecken?«

»Wieso, was hast du denn vor?«

»Ich denke gerade darüber nach, ob unser erster Sohn Phanor Emile Antoine heißen soll oder Phanor Antoine Emile. Was meinst du?«

»Ich denke, wir sollten das Baby erst einmal zustande bringen, bevor wir ihm einen Namen geben.«

»Ja, siehst du, genau das hatte ich vor.«

Das Herz des Südens
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