6

Später in der Nacht schlug ein Blitz in die alte Eiche im Hof ein. Josie spürte den Schlag, bevor sie ihn hörte. Sie kämpfte sich aus dem Moskitonetz und eilte ans Fenster. Cleo, die in der anderen Zimmerecke auf einer Pritsche schlief, kam gleich hinter ihr her.

»Geh doch mal ein Stück zur Seite«, sagte sie, öffnete das Fenster und schob die Fensterläden weg, ohne darauf zu achten, dass es hereinregnete.

Weniger als fünfzehn Meter vom Fenster entfernt, brannte der Baum wie eine riesige Fackel, trotz des strömenden Regens.

Papa kam ins Zimmer geeilt, eine Kerze in der Hand. Josie kannte die beiden Männer nicht, die ihm folgten. Sie waren vollständig angezogen und rochen nach Tabak und Alkohol. Vermutlich hatten sie in Papas Zimmer Karten gespielt.

Papa stellte die Kerze auf dem Tisch ab. Er nahm Josies Stola vom Stuhl und legte sie ihr um die Schultern. »Du wirst dich erkälten! Cleo, Kind, mach doch das Fenster zu!«

Josie wurde stocksteif, als Papa den Arm um sie legte. Ihre Gefühle für ihn hatten einen schweren Schlag erlitten, sie fühlte sich, als würde sie ihn überhaupt nicht kennen, nachdem sie jetzt begriffen hatte, was zwischen ihm und Bibi vorging.

Er drehte sie um, damit sie die Männer ansah, und sie bemerkte peinlich berührt ihre nackten Füße und ihre unzureichende Kleidung.

»Meine Tochter. Die Herren Chamard und Medout.«

»Mademoiselle Josephine«, murmelte Monsieur Medout und nickte förmlich.

Josie sah den anderen Mann an, dessen Zigarre in dem schwachen Kerzenlicht rötlich leuchtete.

»Bertrand, vielleicht erinnerst du dich noch an deine Cousine? Damals, bevor du nach Paris gingst?«

»Mademoiselle.« Bertrand Chamard nahm die Zigarre aus dem Mund und verbeugte sich leicht.

Josie spürte, wie seine Blicke durch den dünnen Stoff ihres Nachthemds drangen. Sie wurde sich ihres eigenen Körpers, ihrer Brüste, ihres Bauches, ihrer geheimsten Körperteile bewusst; ein seltsames, schwindelerregendes Gefühl. Für einen Augenblick schlug sie die Augen nieder, aber sie konnte sich seinem Blick nicht entziehen.

»Ich erinnere mich da eher an ein Mädchen mit Stroh in den Haaren und einer großen Zahnlücke.« Sein Lächeln leuchtete förmlich im Kerzenlicht.

Jetzt erst schien ihr Vater zu bemerken, dass seine Tochter nicht in der richtigen Verfassung war, um männliche Besucher zu empfangen. »Bitte entschuldige uns, Josie. Ich wollte eigentlich nur nachsehen, wie nahe der Blitzeinschlag dem Haus gekommen war. Geht wieder zu Bett, meine Lieben, ich werde dafür sorgen, dass Mr Gale sich um das Feuer kümmert.«

Josies Gesicht brannte, als sie bemerkte, dass Bertrand Chamard sie immer noch ansah. Und hatten seine Augen nicht auch versucht, die Schatten zu durchdringen, wo Cleo stand, auch sie im Nachthemd?

Die Herren zogen sich zurück, und Josie kehrte wieder ans Fenster zurück, um dem Feuer zuzusehen, das weiter dem Regen trotzte.

Dieser Chamard war empörend unhöflich. Irritierend. Das Kerzenlicht hatte sich in seinen Augen gespiegelt, sein dunkles Haar war ihm wirr in die Stirn gehangen. Er hatte die Krawatte lose um den Hals getragen, sodass man die Haut unten an seinem Hals sehen konnte. Und obwohl sie sich nicht berührt hatten, konnte Josie immer noch die Hitze dieses Mannes spüren, die starke körperliche Anziehung, die von ihm ausging.

Cleo hakte Josie unter. »Wie oft wir wohl unter diesem alten Baum gesessen haben?«

Bei der Berührung durch Cleos warme braune Haut dachte Josie plötzlich an ihren Vater, wie er Bibi berührt haben musste. Er hatte ihre Kinderfrau berührt, und zwar so, wie Josie es sich von diesem Chamard wünschte. Sie hatte von ihm nur Gutes erfahren, hatte Bibi gesagt. Cleo war die Verkörperung der Sünden, die ihr Vater begangen hatte, und Josie fühlte sich beschmutzt durch ihre Berührung. Sie zog sich zurück und ging ins Bett.

In den folgenden Tagen behaupteten manche Leute, der letzte Vollmond wäre blau gewesen; andere sagten, nein, der Mond sei nicht blau gewesen, aber der Fluss habe eine seltsam grünliche Farbe gehabt, bevor der Regen begann, die ganze Woche schon. Was auch immer der Grund sein mochte, der Regen ließ die Bäche anschwellen, das Sumpfland und den Fluss.

Im Hof sprangen Frösche umher, und eines Morgens schrie Bibi so laut auf, dass Emile angerannt kam. Sie war auf der Treppe zur Veranda auf eine Gartenschlange getreten und hatte vor Schreck beinahe ihren Wäschekorb fallen lassen. Emile beförderte die Schlange mit Fußtritten von der Treppe und befahl Ellbogen-John, sie wegzuschaffen.

Josie lehnte sich aus dem Fenster ihres Zimmers, um zu sehen, was draußen vorging. Papa stand nahe bei Bibi, eine Hand auf ihren Arm gelegt, sein Gesicht so freundlich, dass es fast leuchtete.

»Sie hätte dich nicht gebissen, verstehst du, es war nur eine Blindschleiche.«

Bibi lehnte sich an ihn und vergab ihm den neckenden Ton mit einem Lächeln. Josie wollte die beiden nicht länger zusammen sehen, vor allem nicht in dieser Situation, wo sie sich allein wähnten. Sie zog sich ins Zimmer zurück und sah Cleo an, die einen Strumpf stopfte.

»Was war los?«, fragte Cleo.

»Eine Schlange auf der Treppe«, berichtete Josie. »Bibi ist draufgetreten, aber Papa hat sie weggeschoben.«

Cleo lächelte. »Maman mag keine Schlangen.« Sie war ganz auf ihre Arbeit konzentriert.

Josie starrte auf Cleos gesenkten Kopf. Ihr Haar war lockig, während Bibis sich kräuselte. Cleo hatte auch hellere Haut als Bibi, und Bibi war schon heller als ihre Mutter Tulia. Wer wohl Bibis Vater gewesen war?

Sie hätte das alles schon viel früher bemerken müssen, dachte Josie. Jetzt begriff sie so viele Zusammenhänge. Warum ihr Vater Bibi und Cleo immer beschützt hatte, warum ihre Mutter so wütend darüber gewesen war.

Darum hat Papa Cleo mir geschenkt. Meine Schwester, meine Sklavin. Damit ich sie vor Maman beschütze.

Josie wurde rot vor Zorn und Scham. Dass Papa Maman so etwas antun konnte! Und ihr! Dass Josie, seine Tochter, ihren Vater mit einem Sklavenkind teilen musste!

Cleo blickte auf und sah ihren Blick. »Was ist?«

Josie drehte sich zum Fenster. »Nichts«, sagte sie. Cleo hatte Papa und Bibi gerade dort unten nicht gesehen. Cleo wusste nicht, was Josie wusste. Oder wusste sie es doch? Die Leute in den Unterkünften redeten doch sicher darüber. Vielleicht hatte Cleo es immer schon gewusst. Vielleicht war Josie ja die Einzige, die es nicht begriffen hatte. Sie starrte in den grauen Himmel, an dem sich neue Wolken zusammenballten.

Die Menschen am Fluss begannen, den Himmel zu beobachten. Grand-mère und Mr Gale machten sich Sorgen um die Ernte, Papa ärgerte sich über entgangene Jagdfreuden, und Josie trauerte um ihre Mutter und versuchte zu verstehen, was ihr Vater getan hatte. Manchmal beobachtete sie ihn, wenn er auf der Veranda eine Pfeife rauchte oder sich abends noch einen Brandy einschenkte. Wer war dieser Mann? Sie konnte sein Tun nicht gutheißen oder entschuldigen, und sie hatte das Gefühl, der Papa, den sie immer so sehr geliebt hatte, war über Nacht ein Fremder geworden.

Am späten Vormittag hörte der Regen für einen Augenblick auf, und Josie ging den Weg hinauf zu dem kleinen Familienfriedhof. Nur das Geräusch des Flusses war durch die Bäume zu hören. Was für ein einsamer Platz, an dem Maman jetzt lag, dachte sie.

Der Sturm hatte dem Friedhof schwer zugesetzt, und die Familiengruft stand wie eine Insel in einer großen Wasserpfütze. An den weiß gekalkten Wänden war der Schlamm hochgespritzt, und herabgefallene Zweige und Blätter bedeckten den schmutzigen Boden.

So konnte Mamans letzte Ruhestätte nicht bleiben! Josie konnte Ellbogen-John nicht finden, und die meisten Sklaven waren unterwegs, um Entwässerungsgräben auf den Feldern zu ziehen. Cleo – sie wusste nicht, wo Cleo war, aber Maman würde Cleo ohnehin nicht an ihrem Grab haben wollen. Sie würde es allein in Ordnung bringen müssen.

Zurück im Haus, rollte Josie ihre Strümpfe herunter und suchte hinten im Schrank nach ihren ältesten Schuhen. Sie nahm ein Bündel Lumpen mit, eine Kelle, die im Wagenschuppen unter den Gartengeräten lag, und dann trottete sie den Hügel hinauf zurück zum Friedhof.

Für einen Augenblick setzte sie sich auf die kleine Steinbank und versuchte, die Gegenwart ihrer Mutter zu erspüren. Sie wollte Maman sagen, wie leid es ihr tat, dass sie nie begriffen hatte, wie sehr sie gelitten hatte. Wie sehr sie all die Jahre gedemütigt worden war, mit Bibi unter ihrem eigenen Dach zusammenleben zu müssen. Wie schrecklich! Kein Wunder, dass Maman manchmal grausam gewesen war. Josie schloss die Augen. Sie versuchte sich zu erinnern, ob ihre Mutter jemals gelächelt hatte, ob sie jemals glücklich gewesen war, aber ihr fiel nichts ein. Das stärkste Bild in ihrer Erinnerung war ihre Mutter, die dem Tod entgegenstarrte und sich davor fürchtete, mit dieser Bitterkeit im Herzen vor Gott treten zu müssen.

Josie wischte sich über die Augen. Sie bekreuzigte sich und betete zur Muttergottes, dass ihre Mutter Frieden finden möge. Dann stand sie auf und sah den kleinen See rund um das Grab an, bevor sie hineinwatete. Das Wasser schwappte ihr in die alten Schuhe, und sie fror, obwohl es draußen heiß und schwül war. Sie griff sich den ersten Lumpen und wischte den Schlamm vom Stein. Dann versuchte sie, mit der Kelle das stehende Wasser wegzuschieben, wie beim Ausleeren eines Bootes.

Aber das funktionierte nicht. Wo immer sich eine Senke auftat, wo die Steine sich etwas gesetzt hatten, floss das Wasser so schnell zurück, wie sie es wegschob. Vergib mir, Maman, ich verderbe mir jetzt das Kleid, dachte sie kurz, als sie sich auf die Knie niederließ und Schlamm zur Seite schob.

In der aufgewühlten Erde wanden sich die Würmer, die ihrer überfluteten Welt entkommen wollten. Josie machten die Tiere nichts aus. Sie hatte mit Cleo immer Würmer gesucht, sie hatten sie aus der Erde gelockt, indem sie einen Stock in den Boden gesteckt und einen zweiten daran gerieben hatten. Wenn sie einen ganzen Eimer voll eingesammelt hatten, war Ellbogen-John mit ihnen zum Fischen gefahren. Maman hätte ein Riesentheater gemacht, wenn sie davon gewusst hätte, aber Bibi hatte die schmutzigen Kleider immer versteckt. Es gab so viele Dinge, die ich mit Cleo und Ellbogen-John gemacht habe und von denen Maman nichts wusste. Arme Maman. Sie hatte sich so oft in ihr Zimmer zurückgezogen. Josie war sicher, ihre Mutter hatte nie den Frühnebel über dem Sumpfland gesehen, hatte nie gesehen, wie ein Kranich aufflog.

»Mademoiselle?«

Josie fuhr zusammen. Phanor DeBlieux stand vor ihr, keine drei Meter entfernt, sein Gewehr in der Hand und einen vollen Sack über der Schulter.

»Entschuldigen Sie, ich wollte Ihnen keine Angst machen«, sagte er.

»Nein, nein, Sie haben mich nur ein bisschen erschreckt«, antwortete sie. Sie erhob sich aus dem Schlamm und hoffte, sie hätte sich nicht auch noch das Gesicht beschmiert, als sie sich das Haar nach hinten gestrichen hatte. Irgendwie sah Phanor DeBlieux mit seinen schmutzigen Hosenbeinen und allem zum … sie versuchte, den Gedanken wegzuschieben. »Waren Sie auf der Jagd?«

»Ja, ich habe ein Opossum erwischt.« Er stellte das Gewehr an der Kiefer ab. »Der Regen hat den Gräbern arg zugesetzt. Das von meiner Mutter sieht auch schlimm aus.«

»Ich versuche, diesen Zulauf hier zu sperren«, sagte Josie. »Ich weiß nicht, was man sonst tun könnte.«

»Soll ich Ihnen helfen? Ich kann Ihnen zeigen, was ich beim Grab meiner Mutter gemacht habe.«

Dann nahm er die Kelle und zog mit entschlossenen Bewegungen einen Graben rund um das Grab. Josie setzte sich auf die kleine Steinbank und sah ihm zu. Auf der höheren Seite führte er den Zulauf in seinen Graben, und am niedrigeren Ende teilte er den Graben in kleinere Verzweigungen auf.

»Wenn der Regen nicht aufhört, müssen Sie vielleicht jemanden kommen lassen, der die Erde hier auffüllt«, sagte er.

Josie zog ihren Rock zur Seite, um ihm auf der Bank Platz zu machen. Während er sich an einem ihrer Lumpen die Hände abwischte, fragte sie ihn: »Ihre Mutter ist im Winter gestorben?«

»Ja.« Er schob den Hut in den Nacken, und Josie sah, dass er schwer schluckte. Würde sie in einem halben Jahr immer noch Schwierigkeiten haben, von Maman zu sprechen?

»Sie hatte es auf den Lungen, schon lange«, sagte er.

»Das tut mir leid.«

Phanor atmete tief durch. »Sie war eine gute Frau, meine Maman.«

»Und nun sind Sie mit ihrem Vater allein?«

»Aber nein! Wir sind zu fünft. Papa und ich, meine Schwester Eulalie, ihr Mann und der kleine Nicholas.«

»Schön, dass Sie eine Schwester haben.«

Josie sah ihre Grand-mère Emmeline über den Hof gehen. Wenn sie jetzt zum Hügel schaute und sie mit Phanor hier sitzen sah, ohne Begleitung … Aber Grand-mère ging ohne einen Seitenblick zum Küchenhaus, und Josie sprach ein kleines, lautloses Dankgebet. »Ich muss jetzt gehen«, sagte sie.

Phanor nickte, ein trauriges Lächeln auf dem Gesicht. »Das war knapp, hm?« Er warf sich den Sack mit dem Opossum über die Schulter und nahm sein Gewehr. »Au revoir, Mademoiselle. Vielleicht sehen wir uns mal wieder.«

Josie sah ihm nach, wie er den Hügel hinunterging. Sie wollte nicht, dass er ging. Ohne sich Gedanken über Sitte und Anstand zu machen, und sicher geschützt vor Grand-mères Blicken, rutschte sie den schlammigen Abhang hinter ihm hinunter. »Monsieur!«, rief sie.

Sie schlingerte auf den Grasflecken zu, bei dem er auf sie wartete. Als er ihr eine helfende Hand entgegenstreckte, nahm sie sie, und ihr blieb fast das Herz stehen. Seine Hand war warm und fest.

»Ich habe mich noch gar nicht bedankt«, sagte sie. »Phanor.« Sie fand sich sehr kühn, ihn beim Vornamen anzureden, aber schließlich hatte er es ihr schon einmal erlaubt. Trotzdem spürte sie, wie sie rot wurde.

»Aber bitte sehr – Josephine.«

Es war sicher irgendwie nicht richtig, ihm zu erlauben, ihren Vornamen zu benutzen, dachte sie. Aber gerade eben hatte sie seinen benutzt, und es schien wirklich eine alberne Förmlichkeit, so wie sie beide aussahen, von den Knien abwärts mit Schlamm bedeckt.

»Aber«, fügte er hinzu, »Cleo nennt Sie Josie. Soll ich Sie auch Josie nennen?« Der leicht neckende Ton zeigte, er wusste ebenso gut wie sie, dass das unmöglich war. Sie wollte gerade auf Josephine bestehen, als er sich bückte und einen roten, sich windenden Wurm von ihrem Rock pflückte.

Sie musste lachen. Es war einfach lächerlich, auf Förmlichkeiten zu bestehen, wenn man einen Regenwurm auf dem Kleid hatte. »Von mir aus gern Josie. Aber«, warnte sie ihn, »wenn meine Großmutter in der Nähe ist, müssen Sie bitte weiterhin ›Mademoiselle Josephine‹ sagen.«

»Ist doch klar. Selbst mein Vater ist vorsichtig mit Madame Emmeline, obwohl sie sich schon seit ihrer Kindheit kennen.«

»Ist das so?«

»Aber sicher. Ihre Väter haben im Sumpf zusammen Alligatoren gejagt. Papa sagt, früher haben unsere Großväter große Grillabende unten am See veranstaltet, und die beiden Familien haben am Ufer zusammen gepicknickt.«

»Cajuns und Kreolen? Ich meine, meine Großmutter …«

Phanor nickte. »Ich verstehe schon. Ich werde nicht vergessen, dass Sie Mademoiselle Josephine sind.«

Josie versuchte, den peinlichen Augenblick schnell zu beenden. »Mögen Sie Opossum?«

»Delikat«, erwiderte Phanor und küsste seine Finger. »Meine Schwester macht einen Braten mit Süßkartoffeln und Äpfeln daraus. Irgendwann bringe ich Ihnen ein Opossum, und ich bin sicher, Ihre Köchin weiß, was sie damit anstellen muss.«

Für einen Augenblick verlor sich Josie in seinen braunen Augen. So wunderschöne Augen! Er hielt ihrem Blick stand und trat einen Schritt auf sie zu. Ihr Atem ging schneller. Sie waren ganz allein hier. Würde er versuchen, sie zu küssen?

Sie hob ihr Gesicht, bereit, seinen Lippen zu begegnen, seinen schönen, vollen Lippen. Sie machte einen Schritt vorwärts, aber ihre leichten Schuhe mit den glatten Ledersohlen fanden keinen Halt, und ehe sie sich’s versah, saß sie schon auf dem schlammigen Boden.

Phanor brach in Lachen aus, und genauso innig, wie sie ihn einen Augenblick vorher hatte küssen wollen, hätte sie ihn jetzt am liebsten umgebracht. Wütend starrte sie die Hand an, die er ihr reichte, um sie hochzuziehen.

Er grinste, setzte Gewehr und Sack ab und hob sie dann an beiden Armen hoch. Dabei berührte sie seinen Körper, trat aber sofort einen Schritt zurück. Hatte er durch sein Hemd ihre Brüste fühlen können?

Mit aller Würde, die sie noch aufbringen konnte, versuchte sie, ihren Rock glattzustreichen. Sie konnte ihn unmöglich ansehen. Er musste sie für eine Närrin halten, und für mannstoll obendrein. Um ein Haar hätte sie ihn geküsst!

»Bitte, Josie. Es tut mir leid, dass ich lachen musste, aber es ging alles so schnell, ich konnte einfach nicht anders.«

Sie warf ihm einen bösen Blick zu, aber er lächelte einfach zurück, und seine schwarzen Augen sahen richtiggehend fröhlich aus. »Ich bitte aufrichtig um Entschuldigung.«

Sie verschränkte die Arme und legte den Kopf schief. »Wirklich?«

»Wirklich.« Er legte eine Hand auf sein Herz und setzte ein todernstes Gesicht auf.

»Nun, dann werde ich Ihnen vielleicht vergeben – irgendwann.«

Der Augenblick der Zerknirschung war vergangen, und um seine Lippen spielte schon wieder ein Lächeln. »Und wenn ich ein Leben lang auf diesen Tag warten muss.« Er nahm sein Gewehr und seinen Sack wieder auf. »Soll ich Sie zurück zum Haus begleiten?«

»Oh, äh, nein. Das würde in der Tat sehr seltsam aussehen.« Sie blickte zurück in Richtung des Hauses, wo Papa und Grand-mère ihrem Tagwerk nachgingen und sicher waren, dass Josephine sich wie eine anständige junge Dame benahm. Und stattdessen stand sie hier im Wald, allein mit einem jungen Mann, in einem Kleid, das von oben bis unten von Schlamm bedeckt war, und ließ sich auf sündige Gedanken ein.

Das Gewicht von Sitte und Anstand senkte sich zurück auf ihre Schultern. »Nein, danke, ich glaube, ich brauche jetzt keine Hilfe mehr.«

Er tippte an seine Hutkrempe und drehte sich um. Sie war zu schroff gewesen, dabei hatte sie doch gar nicht die Absicht gehabt, unhöflich zu sein.

»Phanor?« Er blieb stehen und warf einen Blick zurück. »Vielen Dank«, sagte sie.

Mit einem Lächeln auf den Lippen verschwand er zwischen den Bäumen.

Josie watete durch den Schlamm zum Haus und fragte sich immer noch, ob es in Ordnung war, sich mit Phanor anzufreunden. Er war ein Cajun, und er war arm und … ob er überhaupt lesen konnte? Sie hatte keine Ahnung. Man stelle sich vor, wie das sein würde, nicht lesen zu können. Aber er war so nett zu ihr gewesen und hatte ihr bei Mamans Grab geholfen. Und er war nicht einfach nur gut aussehend, er war klug und stark. Sie mochte ihn, und sie wollte nicht so ein Snob sein wie ihre Großmutter.

Auf dem Weg zurück zum Haus machte sie im Wagen-schuppen Halt, um die Kelle zurückzulegen. Es war dämmrig hier drinnen, und sie kniff die Augen zusammen, um den Haken zu finden, an den die Kelle gehörte. In einem der Wagen war ein Rascheln zu hören, und sie dachte gerade, dass sie ihrer Großmutter Bescheid sagen musste, die Eichhörnchen seien wieder mal in den Schuppen eingedrungen. In diesem Moment wurde aus dem Rascheln ein Kichern.

Wer war denn da im Wagenschuppen? Vielleicht hatten sich ein paar von Ellbogen-Johns jüngeren Enkelkindern hereingeschlichen, um Verstecken zu spielen. Vermutlich waren es wieder Laurie und ihre Cousinen. Laurie wurde von allen verwöhnt, weil sie so niedlich war.

Josie ging zu dem Wagen, um zu sehen, was Laurie wieder ausgeheckt hatte. Vermutlich machte sie eine Ausfahrt mit ihren Puppen.

Aber es war nicht Laurie. Es war Cleo – mit einem anderen jungen Sklaven. Und Josie war sicher, dass sie nach Mamans Parfüm duftete. Grand-mère hätte Cleo geschlagen, wenn sie sie hier gefunden hätte. Josie hatte Cleo noch nie vor ihrer Großmutter beschützen müssen, und sie war sicher, das war schwieriger als mit Maman.

Cleo lachte ein wenig gezwungen. »Erwischt!«, sagte sie.

Josie sah sich den Jungen genauer an, der so nah bei Cleo saß. Ein hübscher Junge mit hohen Wangenknochen und einem schlanken Hals. Und mutig. Er ließ Cleo nicht los, als Josie ihre verschränkten Hände bemerkte.

»Wer ist das?«, fragte Josie.

»Das da ist Remy; er ist ein Enkel von Ellbogen-John.«

Josie sah Cleo lange Zeit an. Ihre Schwester. Papas Liebling. Was würde Papa denken, wenn er erfuhr, dass Cleo hier mit einem seiner Feldarbeiter saß? Cleo hatte keine Erlaubnis, sich einen Mann zu suchen, und hier hatte sie mit Sicherheit keine Begleitung.

Diese Situation unterschied sich nicht wirklich von der, in der Josie sich noch vor ein paar Minuten befunden hatte. Ob Cleo sich genauso einsam fühlte wie sie?

»Geh«, sagte Josie.

»Was meinst du, Mamsell?«

»Ich muss allein mit dem Sklaven reden …« Josie verstummte.

Cleo sah sie wütend an. Sie kletterte aus dem Wagen, schob sich an Josie vorbei und rannte hinaus.

Remy und Josie starrten sich an.

Jetzt erinnerte sie sich an ihn, er hatte früher mit ihnen bei Grammy Tulia gespielt. Wenn sie Fangen gespielt hatten, war er immer der Schnellste gewesen, und einmal hatte er ihr geholfen, die Kletten aus ihren Strümpfen zu ziehen. Jetzt hatte er breite Schultern und lange Beine; er war ein Mann geworden.

»Ich kenne dich«, sagte sie.

Remy saß wie erstarrt auf dem Wagensitz. Josie hatte ihm ein wenig Sicherheit geben wollen, aber sie sah die Angst in seinen Augen aufflackern. Kein Zweifel, er fürchtete sich vor der Peitsche auf seinem Rücken.

Josie war nie Zeugin einer Auspeitschung gewesen, sie hatte nie zugehört, wenn einer der Sklaven in Todesangst schrie. Aber sie hatte die Narben gesehen, die die Peitsche hinterließ. So etwas würde sie niemals zulassen. Wenn sie einmal Herrin von Toulouse sein würde, würde es keine Auspeitschungen mehr geben.

»Ist schon in Ordnung«, sagte sie. Sie streckte die Hand aus und berührte leicht seine Wange. Dann ließ sie ihn in dem Schuppen zurück.

Das Herz des Südens
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