31

»Die zwei Jungen sind sowieso nicht viel nütze«, sagte Le-Brec, »aber ich dachte mir, Sie wollen vielleicht wissen, dass wir eine Krankheit in den Unterkünften haben.«

»Wessen Kinder sind krank?«, fragte Josie.

LeBrec grinste. »Da draußen laufen wirklich zu viele von diesen kleinen Bastarden rum, als dass ich mir merken könnte, wer zu wem gehört. Entschuldigung, Mademoiselle.«

Josie wurde allmählich wütend. »Mr Gale, Ihr Vorgänger, kannte jeden einzelnen Menschen auf dieser Plantage, und er konnte auseinanderhalten, welches Kind zu wem gehörte, Monsieur. Wenn Sie diese Plantage so erfolgreich führen wollen wie er, dann sollten Sie versuchen, es ihm gleichzutun.«

Das Lächeln auf LeBrecs Lippen war immer noch zu sehen, aber seine Augen wurden schmaler. Josie vermutete, dass er damit gerechnet hatte, ein leichteres Spiel zu haben, nun, da Grand-mère krank war, aber er musste erkennen, dass er sich geirrt hatte.

Seit der Brief von Bertrand gekommen war, waren die Treffen mit LeBrec für Josie die einzigen Augenblicke, in denen sie etwas lebhafter wurde. Nachdem ihre Träume von Liebe und Ehe so jäh zerbrochen waren, schloss sie ihr Innenleben in einer bitteren, harten Schale ein. Sie verbrachte die Tage allein, auch wenn immer viele Menschen um sie herum waren. Sie saß bei ihrer Großmutter, sprach mit Cleo über die Pflege der alten Dame, mit Louella über die Speisenfolge, aber sie bemerkte kaum, dass das Zuckerrohr auf den Feldern weiterwuchs, dass das Leben um sie herum weiterging.

LeBrec jedoch zwang sie, sich um die Plantage zu kümmern. Er war ihr von Herzen zuwider, auch wenn er sich wacker hielt, das musste sie ihm zugutehalten. Offenbar kam er auch mit seiner Frau gut zurecht, denn sie sorgte dafür, dass sein Jackett stets sauber gebürstet war und jeden Morgen ein frisches Hemd bereitlag. Aber so sehr er Madame LeBrec auch zufriedenstellen mochte, Josie fand seine Arroganz ebenso unbegründet wie störend. Schon oft hatte sie bemerkt, dass der Stolz eines Mannes umgekehrt proportional zu seinem Selbstbewusstsein war, und so empfand sie sein Auftreten als schlicht und einfach lächerlich.

Außerdem schien der Friede auf Toulouse unter seiner Leitung zerbrochen zu sein. Solange Mr Gale Aufseher gewesen war, hatte es äußerst selten Auspeitschungen gegeben. Nun hörte sie immer wieder von Cleo, das irgendjemand die Peitsche zu spüren bekommen hatte. Und jeden Tag wurde irgendjemand in den Block gelegt – Kopf, Hände und Füße.

Es wurde Zeit, dass sie aufwachte. Sie musste die Kontrolle über Toulouse übernehmen.

Als Erstes sorgte sie dafür, dass der Block zerstört wurde. LeBrec hatte sie verhöhnt, sie würde die Faulpelze noch ermutigen, aber Josie wusste, bevor er gekommen war, hatte es auf dieser Plantage keine Faulpelze gegeben. Sie verbot ihm jegliche Auspeitschungen auf eigene Faust. Er musste Bestrafungen zuerst mit ihr besprechen, und stets fand sie weniger drastische, vor allem weniger schmerzhafte Strafen für die Sklaven, die sich ihm widersetzt hatten. Vor allem kümmerte sie sich um die jungen Mädchen und Frauen, die vermutlich nur vor seinen Annäherungsversuchen davongelaufen waren.

Und so wurde sie allmählich tatsächlich zur jungen Herrin auf Toulouse – um ihrer Leute willen.

Nun verabschiedete sie ihn aus dem Salon und ging ins Zimmer ihrer Großmutter, um nach dem Buch mit den Heilmitteln zu suchen. Vor langer Zeit hatte Grand-mère jeden Tee und jede Salbe auswendig gelernt, die in diesem Buch aufgezeichnet waren, und sie hatte sogar eigene Heilmittel zusammengebraut und -gerührt. In diesem Buch würde Josie ein Heilmittel gegen das Fieber in den Unterkünften finden, und sie würde es den Kindern selbst verabreichen, wie es ihre Großmutter immer getan hatte.

Josie nahm das Medizinbuch mit auf die Veranda, wo Laurie saß und Grand-mère Luft zufächelte. Sie putzte ihre Brille mit ihrem Rock und sagte Grand-mère, wonach sie suchte. Die Kinder hatten Fieber und Ohrenschmerzen, sagte sie. Kein Hautausschlag, kein Schnupfen.

Grand-mère bedeutete Josie, sie solle das Buch auf den Tisch neben ihr legen. Ihre gesunde Hand war zwar nicht gelähmt, zitterte aber so sehr, dass sie keine Feder und keine Teetasse halten konnte. Doch sie konnte immerhin in dem Buch blättern, bis sie die richtige Seite gefunden hatte. Sie war fleckig von den Spuren der Medikamente, die sie in den vergangenen Jahren gebraut hatte, und am Rand waren einige Notizen in ihrer Handschrift zu sehen.

»Weidenrindentee gegen das Fieber«, las Josie laut. »Süßes Öl, ein wenig angewärmt, gegen die Ohrenschmerzen.« Neben dem Rezept hatte Grand-mère notiert, wo sie die Kräuter und die Weidenrinde gesammelt hatte. »Nimmst du Olivenöl?«, fragte Josie. Grand-mère nickte.

Josie blätterte die verschlissenen Seiten durch. »Kennst du alle diese Medikamente, Grand-mère?«

Das gesunde Auge der alten Dame funkelte. Sie ließ einen langen Wortschwall hören und zeigte mit einem Finger auf Josie.

»Sie sagt, das ist die Verantwortung der Herrin auf einer Plantage«, übersetzte Cleo. Sie war leise zu den beiden getreten, einen Krug mit kaltem Wasser in der Hand. »Und sie sagt, du bist jetzt die Herrin.«

Ja, ich weiß. Josie blickte auf das tränende linke Auge ihrer Großmutter, auf den verzogenen Mund, die Schärpe, die sie im Rollstuhl aufrecht hielt. Josie musste sich um die Plantage kümmern. Sie würde die kommende Saison nicht in New Orleans verbringen und auf irgendwelchen Festen tanzen. Sie würde nicht heiraten. Sie würde Toulouse leiten, denn es gab niemanden außer ihr, der diese Arbeit tun konnte.

Josie legte ein Lesezeichen in das Buch und stand nachdrücklich auf. »Dann werde ich jetzt nach diesen Kindern sehen.«

In den Nächten, lange nachdem alle anderen im Haus schlafen gegangen waren, lag Josie wach und erlaubte sich Gefühle, versuchte herauszufinden, was mit ihr geschehen war. Hätte Bertrand keine andere Möglichkeit finden können, Cherleu zu retten, wenn er sie wirklich liebte? Warum hatte er sie so leichten Herzens verlassen?

Sie überblickte jeden einzelnen Betrug, den sie erlebt hatte, auch die fortgesetzte Doppelbeziehung ihres Vaters zu Bibi und zu seiner Frau. Unerträglich. Unverzeihlich. Und diese geteilte Liebe erstreckte sich ja auch auf sie selbst. Sie wusste, dass ihr Vater sie geliebt hatte, aber sie wusste auch, er hatte Cleo mehr geliebt.

Gab es treue Männer? Tante Marguerite hatte ihr gestanden, dass Onkel Sandrine ein Verhältnis mit einer Frau aus dem Blue Ribbon unterhielt. Wie konnte es nur möglich sein, dass Marguerite ihr das lächelnd erzählte? Aber Marguerite war ja selbst untreu gewesen. Sie hatte Phanor geküsst, im Haus ihres Mannes.

Phanor … sein Wankelmut schmerzte sie immer noch. Sie hatte gedacht, es gäbe eine heimliche Verbindung zwischen ihnen beiden. Ja, er war arm und nur ein Cajun, aber … irgendwie hatte sie immer das Gefühl gehabt, er gehöre zu ihr, nein, er gehöre tatsächlich ihr. Natürlich war das Unsinn, sie hatte keinerlei Anspruch auf ihn. Aber diese Sache mit ihrer Tante – ja, selbst Phanor hatte sie verletzt.

Am nächsten Morgen saß Josie hohläugig und übernächtigt am Frühstückstisch, aber sie tat, was von ihr verlangt wurde. Sie hatte so viele dringende Aufgaben, dass sie ihre Gefühle beiseiteschob und einen schwül-heißen Tag nach dem anderen abspulte. Sie las die Briefe der Bankiers aus New Orleans, brütete über den Rechnungsbüchern, und mit Cleo als Übersetzerin, die ihr half, die Ratschläge ihrer Großmutter zu verstehen, schrieb sie Briefe an die Gläubiger, in denen sie um eine Verlängerung der Kredite bat. Sie musste aufpassen, dass der Schweiß an ihren Händen die Tinte nicht verschmierte.

Sie wartete auf jedes Postschiff, hoffte auf Post und fürchtete sie gleichzeitig. Und die gesichtslosen Männer, die das Schicksal von Toulouse in ihren Händen hielten, enttäuschten sie einer nach dem anderen.

Schließlich kam der Brief von Monsieur Moncrieff, bei dem sie am meisten Geld aufgenommen hatten. Sie zerriss den Brief und warf ihn in eine Ecke. »Da sehen Sie, was ich von Ihrem Angebot halte, Monsieur.«

Der Bankier hatte sich geweigert, das Darlehen ein weiteres Vierteljahr aufrechtzuerhalten. Stattdessen hatte er ihr angeboten, einen Teil des Grundbesitzes zu einem Bruchteil seines tatsächlichen Wertes zu kaufen. Die Kaufsumme würde die Schulden um einen noch kleineren Bruchteil verringern. Nein, sie würde irgendwo anders Geld borgen müssen.

Sie hatte bereits Tante Marguerite und Onkel Sandrine angeschrieben, aber sie waren ebenso knapp bei Kasse wie alle anderen. Die einzigen, die sich anscheinend auf den Zusammenbruch vorbereitet hatten, waren einige der Américains. Die Johnstons zum Beispiel hatten überhaupt keine Schulden, sondern hatten vielmehr einem halben Dutzend Plantagenbesitzern in der Gegend Geld geliehen. Aber Josie wäre lieber gestorben, als sich vor Albany Johnston zu demütigen.

Während Josie angestrengt versuchte, herauszufinden, wie viel Zuckerrohr Toulouse wohl in diesem Herbst abwerfen würde, beobachtete Cleo ein Schiff, das den Fluss heraufkam und zum Anleger drehte, um einen Passagier von Bord gehen zu lassen. Cleo war sicher, es musste Phanor sein. Sie rief nach Laurie, damit sie bei Madame blieb, und rannte die Treppen hinunter, um ihm entgegenzugehen.

Unter dem dichten Blätterdach der Eichenallee lief sie ihm entgegen, das Gesicht leuchtend vor Hoffnung. Phanor würde endlich wieder einen Brief von Remy mitbringen.

Als sie jedoch näher kam, verlangsamte sie ihren Schritt. Da stimmte etwas nicht. Phanor erwiderte ihr Lächeln nicht, antwortete nicht auf ihren Gruß. Und als sie direkt vor ihm stand, war die böse Vorahnung so stark, dass sie kaum noch atmen konnte.

»Was ist geschehen?«, fragte sie.

Phanor nahm sie am Ellbogen und führte sie zu einer schmiedeeisernen Bank unter einer der alten Eichen.

»Sag es mir!«, forderte sie.

Er bestand darauf, dass sie sich setzte. »Ich habe schlechte Nachrichten«, sagte er.

»Remy …«

»Im Hafen. Es gab eine Schlägerei«, sagte er und nahm ihre Hand. »Zwischen den irischen Arbeitern und den freien Schwarzen, wegen der Jobs. Irgendjemand hat ein Messer gezogen, und dann taten es ihm andere gleich. Remy hat einen Messerstich abbekommen, Cleo.«

»Ist es schlimm? Braucht er einen Arzt?«

Phanor schüttelte den Kopf. »Er ist noch im Hafen gestorben.«

Cleo schaukelte vor und zurück, und ein tiefer Ton kam aus ihrer Brust. Sie zitterte am ganzen Leib, begann zu heulen und sich die Haare zu raufen.

Phanors eigene Trauer war noch frisch, und doch konnte er nichts tun, als neben Cleo sitzen, den Arm um ihre Schultern gelegt. Als der Schock ein wenig nachließ, drückte sie das Gesicht an seine Brust und weinte wie ein Kind.

Phanor hielt sie fest an sich gedrückt und fragte sich, wie sie ihre Trauer vor Madame und Mademoiselle würde verbergen können. Sie hatten keine Ahnung, dass sie wusste, wo Remy war, und noch weniger ahnten sie, dass er seine Hände mit im Spiel hatte. Sie würden wissen wollen, was ihr fehlte, was Phanor ihr mitgeteilt hatte.

Er reichte ihr sein Taschentuch. »Cleo«, sagte er, »sie dürfen dich so nicht sehen.«

Cleo wischte sich das Gesicht mit dem Taschentuch ab und schüttelte den Kopf. »Das macht nichts«, sagte sie. »Madame Emmeline hat einen Schlaganfall gehabt; im Haus bemerkt sowieso keiner, wie es mir geht.«

Phanor blickte zum Haus hinüber, stellte sich vor, wie Madame Emmeline dort im Bett lag. Sie war immer gut zu ihm gewesen. Sein Blick fiel auf Josie, die auf der Veranda stand und sie beobachtete. Auf der Reise flussaufwärts hatte er sich gefragt, ob er sie überhaupt zu Gesicht bekommen würde. Sie war so kalt, so abweisend gewesen, als er sie das letzte Mal gesehen hatte. Er hatte keine Gelegenheit gehabt, eine Entschuldigung zu versuchen, ihr zu erklären, was dort in der Küche mit Marguerite geschehen war. Und was hätte er auch sagen sollen? Er hatte ihre Tante geküsst, leidenschaftlich geküsst. Selbst jetzt konnte er sich noch an ihr Parfum erinnern.

Aber auch wenn Josie ihn nicht sehen wollte, er würde zum Haus gehen, um sich nach Madame Tassins Befinden zu erkundigen. Er verdankte ihr viel, und vielleicht konnte er irgendetwas für sie tun. Doch zunächst brachte er Cleo zum Küchenhaus, wo all ihre Trauer noch einmal aus ihr herausbrach, als er Louella erzählte, dass Remy ermordet worden war. Louella gab ihr ein Glas Tafia, den harten Schnaps, den sie selbst herstellte.

»Gehen Sie ruhig, Monsieur, ich gebe ihr hiervon, bis sie einschläft.«

Phanor stieg die hintere Verandatreppe hinauf und klopfte an die Tür zum Speisezimmer. Josie ließ ihn selbst herein.

»Was ist mit Cleo?«, fragte sie, bevor sie ihn auch nur begrüßt hatte.

»Remy ist tot.«

Josie schien für einen Augenblick überhaupt nicht zu verstehen, wovon er sprach. Dann begriff sie plötzlich. »Aber Remy ist schon vor Monaten weggelaufen. Woher weiß sie, dass er tot ist?«

Phanor wartete einen Augenblick, bis sie es von selbst verstand. Er hatte ein Verbrechen begangen, als er Remy bei der Flucht geholfen hatte, und er hatte dieses Verbrechen weitergeführt, indem er monatelang dafür gesorgt hatte, dass sein Aufenthaltsort geheim blieb.

»Du hast die ganze Zeit gewusst, wo er war?«, fragte Josie.

»Ja.«

Josie richtete sich auf. »Aber du hast doch gewusst, dass er weggelaufen war!«

»Josie …«

»Du hast gewusst, dass er meiner Großmutter gehörte. Und das, wo sie dir immer geholfen hat. Wie konntest du das nur tun?«

»Josie, du verstehst das nicht, du warst in New Orleans, du hast nicht gesehen, wie er gelitten hat.«

»Gelitten? Doch nicht mehr als jeder andere Feldarbeiter und …« Sie konnte nicht mehr weitersprechen. Sie war in New Orleans gewesen und hatte nicht gewusst, was auf Toulouse vor sich ging, und Grand-mère war nicht ganz bei sich gewesen.

Phanor fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. »Ich zeig’s dir«, sagte er mit flehendem Ton.

Dann ging er hinüber zu dem kleinen Schreibtisch aus Rosenholz und nahm sich ein Stück Papier. Mit schnellen Strichen zeichnete er den Käfig, den der Aufseher gebaut und Remy aufgezwungen hatte.

»Diese Glöckchen haben geläutet, Tag und Nacht, bei jeder Bewegung. Erinnerst du dich, dass ich dir in New Orleans davon erzählt habe? Wenn er sich im Bett umdrehte, wenn er tief durchatmete, haben sie geläutet. Und das Ding war schwer, Josie. Es war aus Eisen. Und er musste damit arbeiten wie alle anderen, musste versuchen, das Gleichgewicht zu halten, dieses Gewicht zu tragen, und trotzdem seine Feldarbeit verrichten.«

»So etwas haben wir hier niemals einem Sklaven angetan«, sagte Josie. Sie starrte auf die Zeichnung, und ihre Schultern sackten nach vorn.

Phanor senkte die Stimme. Er war sicher, die Grausamkeit berührte auch sie. »Euer Monsieur LeBrec hat sich das ausgedacht. Aber vorher hat er Remy noch ein halbes Ohr abgeschnitten.«

»Mein Gott«, flüsterte sie, senkte den Kopf und ließ den Tränen freien Lauf. Phanor hätte sie am liebsten in die Arme genommen, um sie zu trösten, ihr die Tränen von den Wangen zu küssen.

Aber plötzlich richtete sie sich wieder auf, ohne auf die Tränen zu achten. »So etwas wird auf Toulouse nie wieder geschehen.« Ihre Augen funkelten vor Zorn, und zum ersten Mal konnte Phanor eine Ähnlichkeit mit ihrer Großmutter erkennen.

»Aber es bleibt eine Tatsache«, sagte sie zu ihm. »Remy war unser Eigentum.« Sie hob das Kinn. Phanor hatte kein Recht, die Vorgänge auf ihrer Plantage zu kritisieren.

Er sah ihr in die Augen und fand keine Hoffnung auf Vergebung. Sie war wütend, und sie hatte nie stolzer, nie weiter entfernt ausgesehen. Phanor schmerzte das Herz, als er sie ansah.

Er nahm seinen Hut. »Mademoiselle«, sagte er und verließ sie.

Als er fort war, ging Josie mit großen Schritten durch den Salon. Bei jeder Runde wischten ihre Röcke an dem rosshaargepolsterten Sofa vorbei. Wie konnte er sich nur anmaßen, einem entflohenen Sklaven zu helfen? Aber so wütend sie auch gern auf Phanor gewesen wäre, sie musste immer wieder an die Zeichnung des Käfigs denken, und die Vorstellung, wie LeBrec Remy das Ohr abgeschnitten hatte, drängte sich immer wieder nach vorn.

Plötzlich begann sie zu schluchzen und konnte nicht mehr weitergehen. Sie ließ sich auf das Sofa fallen und weinte all ihren Schmerz heraus, den sie mit sich herumtrug, seit Bertrand sie betrogen hatte.

Und in ihrem eigenen Schmerz spürte sie all das Leid, das die Welt zu durchdringen schien. Gab es irgendwo eine Seele, die nicht mit Schmerz beladen war? Heilige Mutter Gottes, wie sollten die Menschen all das ertragen? Eine Mutter verlor ihr Kind, ein Kind seinen Vater, seine Mutter. Ungerechtigkeit und Verlust überall. Mutter Maria, hab doch Mitleid mit deinen armen Kindern. Heilige Mutter Maria, nimm dich Remys Seele an, um Cleos willen.

In den folgenden Tagen teilten sich Josie und Louella Cleos Pflichten. Sie badeten und fütterten Grand-mère, während Cleo schlief oder dasaß und ihre Hände anstarrte, die sie in den Schoß gelegt hatte. Irgendwann erwachte sie aus ihrer Starre und begann, lange Spaziergänge zu unternehmen, auf dem Gebiet der Plantage und rundherum. Josie vermutete, dass sie alle Orte besuchte, an denen sie jemals gemeinsam mit Remy gewesen war, und dass sie jeden Augenblick noch einmal durchlebte, den sie zusammen verbracht hatten. Wie gut sie selbst diese Art der Erinnerung kannte!

Endlich, eines Morgens, als Josie ihrer Großmutter im Speisezimmer beim Frühstücken half, erschien Cleo. Sie hatte endlich wieder ein wenig Farbe im Gesicht, dachte Josie, vielleicht hatte sie in der letzten Nacht etwas geschlafen.

»Lass mich das machen«, sagte Cleo. »Ich kümmere mich um sie.«

Josie machte den Platz gleich neben dem Rollstuhl frei.

Cleo nahm die Teetasse und hielt sie fest, aber Grand-mère schob sie weg.

»Was ist?«, fragte Josie. Von ihr hatte Grand-mère den Tee bereitwillig angenommen.

Grand-mère murmelte etwas, und Josie wollte sie gerade schon bitten, es noch einmal zu sagen, was regelmäßig zu Wutausbrüchen bei der alten Dame führte. Aber Cleo hatte schon verstanden.

»Zu süß?«

Grand-mère nickte. Cleo lächelte, und Josie bemerkte, dass sie schon lange kein Lächeln mehr in ihrem Gesicht gesehen hatte, lange vor der Nachricht von Remys Tod. Josie war zuerst zu glücklich gewesen, um es zu bemerken, und dann zu unglücklich.

»Josie mag gern Zucker«, sagte Cleo und lächelte auch sie an.

»Gar nicht wahr«, gab Josie zurück.

»Ich mache Ihnen eine Tasse Tee, wie Sie sie mögen«, sagte Cleo. »Und nach dem Frühstück werde ich mich erst einmal an diesen Fußboden machen. Er hat es bitter nötig, mal wieder kräftig geschrubbt zu werden. Sie können hier sitzen bleiben, Madame, und mir sagen, ich soll die gemalten Rosen nicht wegschrubben.« Zum ersten Mal seit ihrem Schlaganfall versuchte Grand-mère zu kichern, und Josie spürte, wie ihr leichter ums Herz wurde.

Mit großer Selbstverständlichkeit übernahm Cleo die Pflege ihrer Großmutter und schob den Rollstuhl von einem Zimmer zum anderen, während sie ihre Hausarbeit erledigte. In den wenigen Stunden, in denen die alte Dame wach war, freute sie sich darüber, von einem Zimmer ins andere zu kommen und an Cleos Aktivitäten im Haus teilzunehmen. Cleo verstand sie nun einmal besser als irgendjemand sonst.

Josie machte es sich zur Gewohnheit, am Vormittag auszureiten. Es war jetzt wieder etwas kühler, und in der herbstlichen Luft konnten Reiterin und Pferd leichter atmen. Nur einmal lenkte Josie Beau auf der Straße am Fluss Richtung Süden. Sie dachte daran, bis zur Grenze zwischen Cherleu und Toulouse zu reiten, um einmal etwas anderes zu sehen. Als sie an dem Pfirsichgarten vorbeikam, der jetzt nicht mehr so blühend und fruchtbar aussah wie an dem Tag, als Bertrand sie unter der Eiche geküsst hatte, hielt sie das Pferd mitten auf dem Weg an, starrte in den Garten und konzentrierte sich dann auf die Eiche, die am anderen Ende zu sehen war. Es war so viel mehr als ein Kuss gewesen.

Damals hatte er sie geliebt, das wusste sie.

Sie wendete Beau und ritt nach Hause.

Dort angekommen, öffnete sie das Band an ihrer Haube. »Laurie?«, rief sie.

Das kleine Mädchen, das so sehr gewachsen war, dass ihr das sackleinene Kleid nur noch bis an die Knie reichte, kam barfuß in den Salon getappt. »Hier bin ich.«

»Wie geht es Madame? Hat sie zu Mittag gegessen?«

»Es geht ihr genauso wie heute Morgen, als Sie weggeritten sind. Sie schläft die ganze Zeit, selbst ihr gesundes Auge macht sie kaum noch auf.«

»Sag Cleo, sie soll mir einen Teller bringen. Du kannst bei Madame bleiben.«

»Das glaube ich nicht, dass Cleo das macht, Mademoiselle.«

Josie hob eine Augenbraue.

»Ich sag’s Ihnen ja nur. Sie liegt flach.«

»Cleo ist krank? Sie ist doch sonst nie krank.«

»Das ist ja auch keine normale Krankheit, es kommt ja nur davon, was der hässliche LeBrec mit ihr gemacht hat.«

Josie sprang auf, eilte zum Schlafzimmer und riss die Tür auf. Cleo lag auf ihrer Pritsche an der Wand, die Knie an den Körper gezogen und ein Laken über dem Kopf.

Josie kniete sich neben sie und zog vorsichtig das Laken weg. Cleos Lippe war aufgeplatzt und blutete. Ihr linkes Auge war beinahe zugeschwollen, und sie starrte vor sich hin. An ihrer Schläfe war ein Büschel Haare ausgerissen, sodass feine Blutstropfen austraten. Josie spürte, wie ihr Hals vor Wut zuschwoll. Dafür würde er bezahlen!

Cleo zuckte zusammen, als sie ihr eine Hand auf die Schulter legte. »Ich bin’s nur, Cleo.«

»Josie?« Für einen Moment wurde Cleos Blick klar. »Josie, er hat mir so wehgetan.« Dann begann sie zu weinen. Mühsam kämpfte Josie ihre eigenen Tränen zurück. »Du wirst diesen Mann nie wieder sehen müssen, Cleo, das verspreche ich dir. Nie wieder.«

Über die Schulter befahl sie Laurie, zu Louella zu laufen. »Sag ihr, wir brauchen heißes Wasser, sofort. Nein, warte, bring mir erst die Karaffe mit dem Brandy.«

Dann zog sie das Laken wieder bis zu Cleos Kinn hoch, legte sich neben sie auf die Pritsche, schlang ihre Arme um Cleo und hielt sie fest, solange sie weinte. »Wir waschen den ganzen Dreck von dir ab, Cleo«, sagte sie zu ihr. »Wir bringen dich wieder in Ordnung, das verspreche ich dir.«

Das ist alles meine Schuld, dachte sie. Ich hätte diesen Kerl schon vor Wochen feuern sollen. Sie nahm das Glas Brandy, das Laurie ihr brachte. »Setz dich und trink einen Schluck«, sagte sie zu Cleo.

Louella kam mit Wasserkessel und Schüssel hereingestürmt. »Warum sagst du mir denn nichts, Kind?«, rief sie Cleo zu.

Cleo hustete und schluckte mühsam. »Ich habe ihn mit dem Messer verletzt, Josie.«

»Hast du den Teufel erwischt? Braves Mädchen«, sagte Louella und erklärte Josie: »Sie hat nämlich immer das Rasiermesser von deinem Papa in der Tasche.«

Papa wäre rasend geworden, wenn er Cleo so gesehen hätte. Es tut mir so leid, dachte Josie und schluckte ihre Tränen hinunter. Später würde sie weinen, aber jetzt brauchte Cleo all ihre Kraft.

Es tut mir so leid, Papa.

Mit Louellas Hilfe wusch sie Cleo und zog ihr ein sauberes, weiches Hemd an. Dann bürstete sie ihr den Schmutz aus den langen schwarzen Locken. Und als Cleo endlich schwindlig und schläfrig von dem Brandy wurde, begann sie, ihre Wunden zu versorgen. Sie suchte im Medizinbuch ihrer Großmutter und trug dann mit zitternden Händen eine kühlende Salbe auf die Prellungen auf, und eine andere Salbe auf die Schnitt- und Schürfwunden.

Als Cleo endlich schlief, blätterte Josie weiter in dem Buch ihrer Großmutter und fand endlich ganz hinten, was sie suchte: Mittel zum Beenden einer Schwangerschaft. Terpentin, Chininwasser, in dem ein rostiger Nagel eingeweicht worden war, Ingwer und auch Meerrettich waren geeignet, eine frühe Schwangerschaft abzubrechen. Aber das Buch wies auch darauf hin, dass eine Schwangerschaft nicht sofort eintrat. Es dauerte Tage, bis das Wunder geschah, und Cleo war ja erst vor einigen Stunden vergewaltigt worden.

Verhütung. Sie fand die Mittel am Ende des Kapitels. Spülungen. Man konnte eine Essigmischung verwenden oder einen Sirup aus aufgekochten Ameisen. Grand-mère hatte neben die Mischung aus Essig und Wasser ein Kreuz gemalt. Am Rand hatte sie auch noch einen Tee notiert, der aus Wurmfarn gemacht wurde und vor der Spülung getrunken werden sollte. Josie fragte sich unwillkürlich, bei wem sie dieses Mittel wohl angewandt hatte. Womöglich bei sich selbst?

Ursuline würde den Wurmfarn kennen. Wenn Cleo ausgeschlafen hätte, würden sie das Nötige veranlassen, um sie vor zusätzlichem Leid zu schützen.

Als Cleo im Bett lag und alles vorbereitet war, um ihr später den Tee und die Spülung zu verabreichen, gestattete sich Josie, richtig wütend zu werden. Dann ließ sie Louella bei Cleo und marschierte über den Hinterhof zum Haus des Aufsehers.

Madame LeBrec öffnete ihr die Tür. Die Kinder, ein Junge von sechs Jahren und ein Mädchen von ungefähr zwei Jahren, hielten sich an den Röcken ihrer Mutter fest und schielten zu Mademoiselle herüber. »Guten Tag, Mademoiselle Tassin«, flötete Madame LeBrec. »Wie nett, dass Sie uns besuchen kommen.«

Josie sah die Angst in ihren Augen. Sie wusste also Bescheid.

»Ich suche Ihren Mann, Madame.«

»Dann haben Sie sicher schon gehört, dass dieses Mädchen heute früh mit dem Messer auf ihn losgegangen ist. Sie hat ihn schwer verletzt, wirklich.« Hastig sprach Madame LeBrec weiter. »Er hat schon ein paar Mal Schwierigkeiten mit ihr gehabt, hat er mir erzählt. Sie ist aufsässig, macht die anderen rebellisch und meint, sie könnte ihn mit einem Augenaufschlag rumkriegen, damit ihr nichts passiert.«

Josie warf der Frau einen kalten Blick zu. Wie oft hatte sie die Taten ihres Mannes wohl schon gedeckt?

»Ich habe es selbst gesehen«, fuhr die Frau fort. »Wie sie die Hüften schwingt, sobald mein Mann in der Nähe ist. Das ist eine ganz Durchtriebene.«

»Wo arbeitet er heute?«

»Er ist ein guter Mann. Einen besseren Aufseher finden Sie nirgendwo. Es ist bloß so, dass die Mädchen immer hinter ihm her sind. Na ja, Sie haben ja selbst gesehen, was für ein stattlicher Mann er ist.«

Josie sah die beiden Kinder an. Yves und Sylvie, erinnerte sie sich jetzt. Und die Mutter hieß Bettina. Die Kinder sahen ihrem Vater ähnlich, hübsche Kinder, die sie jetzt mit Augen ansahen, als wäre sie eine Rachegöttin. Es tat ihr leid, den beiden Angst einzujagen, aber sie musste diesen Mann so schnell wie möglich finden.

Freundlich fragte sie den Jungen: »Weißt du, wo dein Vater heute arbeitet?«

»Beim Frühstück hat er gesagt, er ist auf den südlichen Feldern, bei Coon Corner. Und er hat gesagt, ich darf demnächst mal mitkommen.«

Madame LeBrec wechselte den Ton. »Das ist ein weiter Weg da raus, Mademoiselle«, sagte sie warnend, fast ein bisschen drohend. »So weit können Sie nicht gehen. Wollen Sie nicht bis heute Abend warten? Ich schicke meinen Mann gleich nach dem Abendessen zu Ihnen ins Haus.«

Josie machte sich nicht die Mühe, zu antworten. Als sie zum Stall ging, rief Madame LeBrec noch hinter ihr her: »Sie werden doch wohl nicht glauben, was diese Schlampe erzählt?«

Josie befahl dem Stalljungen, Beau zu satteln, und schickte ein zweites Kind nach Ellbogen-John. Dann ritt sie hinaus nach Coon Corner, John auf seinem Maultier gleich hinter ihr.

Als sie LeBrec entdeckte, der auf seinem Pferd saß und die Sklaven überwachte, die mit dem Zuckerrohr arbeiteten, brannte ihr Zorn noch heller als zuvor. Er würde nie wieder eines der Mädchen auf Toulouse anfassen. Am liebsten hätte sie ihm den entsprechenden Körperteil abgeschnitten, damit er nie wieder irgendeine Frau belästigen konnte.

Aber trotz allen Zorns hielt sie sich unter Kontrolle. Sie spornte Beau zum Galopp an und ritt direkt auf LeBrec zu. In letzter Sekunde zügelte sie ihr Pferd und erschreckte sowohl LeBrec als auch sein Tier. Während LeBrec noch damit beschäftigt war, sein Pferd zu beruhigen, saß sie in königlicher Ruhe vor ihm.

Die Messerwunde im Gesicht des Aufsehers zog sich von der Nase bis zum Ohr quer über seine Wange. Er fluchte, gab seinem Pferd die Peitsche, und mit grimmiger Befriedigung sah sie, dass der ungeschickt angelegte Verband durchgeblutet war.

»Was tun Sie denn da, zum Teufel?«, blaffte LeBrec sie wütend an.

»Ich möchte, dass Sie mir zuhören, Monsieur.«

Er starrte sie an. »Was für ein Spiel soll das denn jetzt werden?«

Seine unhöfliche Art würde am Ende dieses Tages keine Rolle mehr spielen, beschloss Josie. »Sie werden noch heute Ihre Sachen packen und die Plantage vor Einbruch der Dunkelheit verlassen, Monsieur.«

»Zum Teufel nochmal, ich lasse mir doch von einem kleinen Mädchen nichts befehlen! Das bespreche ich mit Madame Tassin.«

Dann wendete er sein Pferd und gab ihm die Peitsche. Josies erster Impuls war, mit ihm um die Wette zum Haus zu reiten und ihm bei ihrer Großmutter zuvorzukommen. Aber dann besann sie sich eines Besseren. Sie nickte den Sklaven zu, die dastanden und mit offenen Mündern der Szene zusahen, und dann ließ sie Beau zurück zum Haus traben. Ellbogen-John ritt hinter ihr her.

Als sie in den hinteren Hof kam, stand LeBrecs Pferd schweißnass in der prallen Sonne gleich neben der Treppe. »So kann man ein Tier doch nicht behandeln«, sagte sie zu John. »Bind es im Schatten an und gib ihm etwas zu trinken. Und dann komm zu mir ins Haus.«

Drinnen hatte Grand-mère LeBrec nur mit ihrem Blick auf einem Stuhl festgehalten. Sie sprach aufgeregt auf ihn ein und zeigte mit dem Finger auf ihn. Weder Laurie noch LeBrec verstanden sie, aber Josie wusste auch so, worum es ging. Sie legte ihrer Großmutter eine Hand auf die Schulter, um sie zu beruhigen.

»Keine Sorge, Grand-mère«, sagte sie. »Monsieur LeBrec glaubt, ich hätte keine Autorität auf dieser Plantage. Er wird gleich begreifen, dass er sich irrt. Monsieur, ich sage es Ihnen noch einmal, packen Sie Ihre Sachen und Ihre Familie zusammen. Ich schreibe Ihnen einen Scheck für den Lohn aus, den wir Ihnen schulden. Sie werden Toulouse noch vor Einbruch der Dunkelheit verlassen.«

»Aber so hören Sie doch …«, begann LeBrec und sah Madame an. Sie sagte nichts, aber ihr frostiger Blick sprach eine deutliche Sprache.

»John«, sagte Josie, als Ellbogen-John neben ihr auftauchte. »Wenn Monsieur nicht freiwillig geht, wirst du gemeinsam mit dem alten Sam und seinen Söhnen dafür sorgen, dass er sich auf den Weg macht.«

Sie hielt LeBrecs wütendem Blick stand, bis er aufgab, seinen schmutzigen Hut gegen sein Bein schlug und durch den Salon davonstapfte.

Erst jetzt ließ sie ihren Gefühlen freien Lauf. Ihre Knie zitterten, und sie ging am Rollstuhl vorbei zum Sofa. Grandmère würde schimpfen. Sie würde sie fragen, was sie sich eigentlich dabei dachte. Wie sollten sie ohne Aufseher zurechtkommen, jetzt, wo das Zuckerrohr fast reif für die Ernte war?

Josie wappnete sich und blickte ihre Großmutter an, entschlossen, sie anzuhören, bevor sie eine Antwort gab. Aber ihre Großmutter saß da, mit hochgezogenem Mundwinkel und einem beifälligen Funkeln in den Augen. Sie deutete mit der Hand auf Josie, und so mühsam ihr die Worte über die Lippen kamen, diesmal war sie sehr gut zu verstehen. »Herrin … Toulouse«, sagte sie.

Als die Sonne hinter den Baumwipfeln unterging, band Le-Brec mit einem Seil die Stühle, Betten und Kisten auf dem Wagen fest. Er bewegte sich ohne Eile und sehr geübt, das einzige Anzeichen für seinen Zorn lag in seinen dunklen Augen. Die Gruppe dunkelhäutiger Männer, die neben Ellbogen-John standen und ihm schweigend zusahen, schien er nicht zu beachten.

Auf der Veranda stand Madame LeBrec sehr aufrecht, während ihr die Tränen über die Wangen liefen. Yves stand wie ein kleiner Soldat neben ihr, während Sylvie sich an ihre Röcke klammerte, den Daumen im Mund.

Seine Frau und die Kinder würden heute Nacht irgendwo unter freiem Himmel in der Kälte schlafen müssen, als wären sie Landstreicher, wütete LeBrec. Die schlechte Nachtluft würde Sylvie schaden, wo sie doch gerade erst einen bösen Husten überstanden hatte. Ein Aas, diese Josephine, ihnen nicht einmal Zeit bis zum nächsten Morgen zu lassen. Wenn Sylvie wieder krank wurde …

Er legte die Hand an den frischen Verband, den Bettina ihm angelegt hatte. Er war schon wieder durchgeblutet, und die Wunde würde schlimmer schmerzen als ein böser Zahn. Er würde sie nähen lassen müssen, aber daran war jetzt nicht zu denken.

LeBrec zog seinem Pferd den Hafersack weg und warf ihn auf den Wagen. Er gehörte Toulouse, aber das war ihm jetzt egal. Das Aas hatte ihm den Lohn ausbezahlt, aber damit konnte sie nicht annähernd das ausgleichen, was sie seiner Familie antat. Zumindest für einige Tage würden sie heimatlos umherziehen müssen. Natürlich würde er in Baton Rouge Arbeit finden, sie würden nicht hungern müssen, dafür würde er schon sorgen.

Aber seine Frau und seine Kinder hatten Angst, und das war allein Josephines Schuld.

Und es war natürlich die Schuld dieses eingebildeten farbigen Mädchens. Cleo. Cleo mit ihrer hochmütigen Art. Cleo, die immer so tat, als wäre sie was Besseres. Dabei war sie doch nicht mehr als eine kleine, dreckige Sklavin! Und sie hatte es doch gewollt, so wie all die anderen auch. Sie hatte es doch nötig gehabt!

Er zog den Sattelgurt seines Pferdes zu fest an, sodass die Stute mit den Hufen scharrte und stöhnte. LeBrec hatte den ganzen Tag noch nichts getrunken, nicht einmal, um den Schmerz in seiner Wunde zu betäuben, und sein Kopf fühlte sich an, als wollte er zerspringen. Er riss sich zusammen, löste den Sattelgurt und begann noch einmal von vorn. Irgendwo eine oder zwei Stunden flussaufwärts würden sie ein Lager aufschlagen und ein Feuer machen. Und wenn die Kinder erst einmal zur Ruhe gekommen waren, würde er endlich etwas trinken.

LeBrec ließ seine Familie auf den Wagen steigen. »Du zuerst, mein Sohn«, sagte er und legte dem Jungen eine Hand auf die Schulter. »Du hilfst deiner Mutter mit den Maultieren. Steig da rauf.«

Dann streckte er eine Hand nach seiner Frau aus. »Bettina.«

Sie wischte sich über die Augen und nahm Sylvie an der Hand. »Ich komme«, sagte sie.

LeBrec hob seine Tochter hoch und setzte sie neben ihren Bruder. Dann half er seiner Frau, auf den Wagen zu klettern, und gab ihr die Zügel in die Hand. »Das Maultier ist so alt, das macht dir keine Schwierigkeiten, Bett. Lass es einfach hinter meinem Pferd hergehen.«

Die ganze Zeit standen Ellbogen-John, der alte Sam und seine Söhne Etienne und Laurent mit verschränkten Armen in der Nähe. Sie hatten ihm keine Hilfe angeboten, und LeBrec war umso mehr gekränkt, weil sie seiner Schande zugesehen hatten.

Er stieg auf sein Pferd, schnalzte dem Maultier zu und ritt an. Unter den Blicken der Sklaven kochte er vor Scham und Wut.

»Dafür wird sie bezahlen«, murmelte er.

Drei Nächte darauf, bei Neumond, ritt er zurück nach Toulouse. Er band sein Pferd an einem kahlen Hickorybaum fest und sprach beruhigend auf das Tier ein. Dann ging er zu Fuß durch das größte Feld auf der nördlichen Seite von Toulouse, Sugar Hollow. Die Grillen zirpten, das Zuckerrohr wiegte sich im Wind, mehr als mannshoch und reif zur Ernte, aber er hatte ein anderes Ziel im Sinn.

Am Rand der Unterkünfte blieb er stehen und lauschte in die Nacht. Kein Kind, das schrie, kein leises Lachen von einer Veranda. Sie schliefen alle.

Die fast fertig gebaute Raffinerie ragte dunkel vor dem Nachthimmel auf. Neben ihm lag ein Stapel Bretter, zugesägt und vorbereitet, damit der alte Sam und seine Leute morgen das Dach decken könnten.

LeBrec schob einen Haufen Sägemehl zusammen, riss Moos von einem der Eichenstämme ab und schichtete alles an der Wand der Raffinerie auf. Dann zog er seinen Feuerstein aus der Tasche und schlug Funken in das Moos. Er blies vorsichtig in die kleine Flamme und schob noch mehr Sägemehl zusammen.

Das Feuer wuchs und glühte, und das orangefarbene Licht beleuchtete den Dreitagebart, den schmutzigen Verband und das irre Funkeln in LeBrecs schwarzen Augen.

Dann schlich er durch das nördliche Feld wieder davon und verschwand im Zuckerrohr, während die Raffinerie knackte, rauchte und schließlich niederbrannte.

Das Herz des Südens
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