40

Mitte Oktober kam endlich das ersehnte Regenwetter. Die Menschen atmeten auf, als der kühlende Wind die Pfützen trocknete, den Schlamm hart werden ließ und die nervtötenden Mücken aufs Meer hinaustrieb. Die stinkenden Feuer von Hufen, die gegen das giftige Miasma helfen sollten, verpesteten die Luft nicht mehr. Die Damen blühten wieder auf, und die Besitzer der Plantagen flussaufwärts ließen sich wieder in New Orleans sehen.

Das Gelbfieber hatte sich ausgetobt – bis zum nächsten Sommer. Die Schiffe, die im Unterlauf des Flusses in Quarantäne lagen, bekamen die Erlaubnis, in den Hafen einzufahren, und endlich beugten die Männer wieder ihre verschwitzten Rücken unter den Schiffsladungen: Seide und Satin aus China, Wein und Klaviere aus Frankreich. Der Duft der Kaffeeröstereien auf dem französischen Markt wehte flussabwärts bis zu Josies Küchen, wo endlich wieder die Männer am frühen Morgen Schlange standen, um sich ein Frühstück zu kaufen.

Louella betrieb den ersten Laden, Josie den zweiten. Sie lernten vier Mädchen für den Verkauf an und eine weitere, die Louella bei der Arbeit in der neuen Bäckerei helfen sollte. Josie hoffte, innerhalb einer Woche die ersten Sahneballen ans Les Trois Frères liefern zu können, und da Phanor versprochen hatte, sie den Geschäftsführern weiterer Restaurants in der Stadt vorzustellen, erwartete sie einen arbeitsreichen und einträglichen Winter.

Als die zweite Welle hungriger Kunden in der Mittagszeit abgefertigt war, hängte Josie ihre Schürze an einen Haken und packte einen Korb mit Lebensmitteln.

»Maria«, sagte sie zu dem Mädchen, das jetzt für sie arbeitete, »wenn du auf den Markt gehst, denk bitte an die Zwiebeln.«

»Si, Señorita«, lächelte Maria und tippte sich an die Stirn. »Ich weiß schon.«

So ließ Josie den Laden beruhigt in Marias gut geschulten Händen zurück und machte sich auf den Weg zu Cleos Häuschen.

Am anderen Ende der Stadt saß Cleo im Bett, einen Kissenstapel im Rücken und einen Spiegel in der Hand. »Hässlich bist du«, sagte sie laut zu ihrem Spiegelbild und zog ein Unterlid ein wenig herunter: immer noch kein gesundes Rot. Sie streckte ihrem gelblichen Abbild die Zunge heraus. Ich verstehe nicht, wie Bertrand es ertragen kann, mich anzusehen, dachte sie, warf den Spiegel auf die Bettdecke und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Tatsächlich schien er sie immer noch gern anzusehen, selbst in diesem alten Nachthemd. Oder eher ohne dieses Nachthemd. Sie musste schmunzeln. Inzwischen musste der Weg von Cherleu hierher ganz ausgetreten sein.

Sie hörte ein Geräusch an der Hintertür, und dann sagte Thérèze, die Hilfe, die Bertrand unbedingt für sie hatte einstellen wollen: »Das ist aber ein großer Korb, Mamsell, kommen Sie, ich nehme ihn Ihnen ab.« Lauschend ließ sich Cleo in die Kissen zurücksinken.

»Na, lass mich doch mal deinen neuen Zahn sehen, Gabriel. Was bist du für ein großer Junge! Hat er ihn sehr geplagt, Thérèze?«

Endlich war Josie wieder ganz sie selbst, dachte Cleo. Irgendwie war sie über alles hinweggekommen, Bertrand, alles. Und so wie Phanor ihr den Hof machte, konnte sie sogar schon wieder lachen.

»Doch, doch«, antwortete Thérèze. »Der olle Backenzahn hat ihm ordentlich wehgetan. Ich habe versucht, Terpentin draufzumachen, aber er wehrt sich, weil es so eklig schmeckt.«

»Und seine Maman?«, fragte Josie.

»Heute früh war sie eine ganze Weile auf, aber jetzt hat sie sich doch wieder hingelegt, ich glaube, sie schläft.«

»Nein, nein, ich bin wach!«, rief Cleo, stützte sich auf einen Ellbogen und blickte Josie entgegen, die mit Gabriel auf der Hüfte in die Türöffnung trat.

»Wie geht es dir?«

»Ganz gut, wenn man mal davon absieht, dass ich wie eine magere gelbe Vogelscheuche aussehe«, gab Cleo zurück.

»Thérèze wird dich schon wieder aufpäppeln.«

»Wie lange bleibt denn dieses Gelb? Ich habe das Gefühl, als wäre ich schon eine Ewigkeit so.«

»Wie viele Tage sind es denn wirklich?«

Cleo rechnete kurz nach.

»Achtzehn, glaube ich.«

Josie sah sie kritisch an. »Dann dauert es offenbar länger als achtzehn Tage. Aber du siehst schon viel besser aus, ehrlich. Es ist nur noch ein ganz blasses Gelb.«

»Na, vielen Dank.«

Josie setzte Gabriel zu ihren Füßen ab, und er stapfte davon, um seinen Ball zu holen. Cleo rutschte ein Stück zur Seite und bot Josie ein Kissen an, damit sie sich neben sie ans Kopfende lehnen konnte.

»Setz dich und erzähl mir was von deinem neuen Laden«, schlug sie vor.

Josie erzählte ihr alle Neuigkeiten. Die Geschäfte in den ersten beiden Läden hatten wieder Fahrt aufgenommen, und es kam ordentlich Geld ins Haus. Die neuen Hilfen arbeiteten gut unter Louellas Aufsicht, und die Dessertküche würde Ende der Woche startbereit sein.

»Du und Phanor, ihr seid wirklich Unternehmerpersönlichkeiten«, staunte Cleo nicht zum ersten Mal. »Jetzt habt ihr beide ein eigenes Geschäft.«

»Kannst du dich noch erinnern, wie wir Phanor das erste Mal gesehen haben?«, erinnerte Josie sie. »Da kam er auf nackten Füßen und hatte einen Strohhut auf dem Kopf.«

»Ich erinnere mich nicht, dass eine von uns auf seine Füße geachtet hätte, Josephine.«

Josie musste lachen. »Nein, da hast du wohl recht.«

»Hast du ihn heute schon gesehen?«

»Nein, warum?«

Cleo unterdrückte den Drang, das Geheimnis mit Josie zu teilen. »Nur so«, sagte sie leichthin.

Für einen Moment herrschte Stille, dann sagte Josie: »Cleo?«

»Hm?«

»Kannst du dich mal aufrecht hinsetzen?« Sie ging aus dem Weg, damit Cleo die Beine aus dem Bett schwingen und sich auf die Kante setzen konnte.

Josie zog ein gefaltetes Blatt Papier aus der Tasche und reichte es ihr.

»Was ist das denn?«, fragte Cleo.

»Lies.«

Cleo faltete das schwere gestrichene Papier auseinander. Oben auf der Seite prangte das offizielle Wappen des Staates Louisiana. Unten war die Unterschrift von Josephine Marie Louise Celine Tassin zu lesen. Der Text in der Mitte des Dokuments bestätigte, dass Cleo Tassin, bisher wohnhaft auf der Plantage Toulouse in der Gemeinde St. James, und ihr Sohn Gabriel freie Farbige waren.

»Oh, Josie«, sagte Cleo und drückte das Blatt an ihr Herz. »Josie«, sagte sie noch einmal, mehr brachte sie nicht heraus. Ihre Hand suchte die ihrer Schwester und drückte sie fest.

Josie reichte ihr ein Taschentuch. »Mach das Papier nicht nass.«

Gabriel kam wieder ins Zimmer gekrabbelt und kletterte auf den Schoß seiner Mutter. Cleo flüsterte ihm ins Ohr: »Du bist frei, kleiner Mann.«

Josie stand auf und wischte sich das Gesicht trocken. »Ich muss zurück zu Louella. Willst du was essen? Ich habe Pasteten mit Schweinefleisch mitgebracht, und außerdem ein paar frische Äpfel.«

»Ich muss ja wohl was essen«, antwortete Cleo, putzte sich die Nase und wischte sich die Augen. »Kein Mensch will eine abgemagerte gelbhäutige Sängerin in einem viel zu großen roten Kleid sehen.«

Sie reichte Gabriel an Josie weiter und beobachtete, wie Josie ihn auf ihre Hüfte nahm. Ihr Herz war zum Bersten voll. Sie sammelte sich einen Moment und ging dann ihrer Familie nach in die Küche.

Nach dem Mittagessen machte sich Josie auf den Weg durch die Stadt zu ihrem Geschäft: La Boulangerie Toulouse. Die beiden Backöfen waren frisch ausschamottiert, die Fußböden und Wände geschrubbt, die Fenster neu verglast. Die neue Hilfe, ein Mädchen, das gerade erst mit dem Schiff aus Irland gekommen war, stand an dem schweren Arbeitstisch und raspelte Kokos, und Louella saß im Licht und säumte Küchentücher, die sie aus Mehlsäcken zugeschnitten hatte.

Josie band sich eine Schürze um und nahm ihr Messer in die Hand. Als sie den ersten Apfel aus der Schüssel nahm, die auf dem Tisch stand, zeigte sie auf einen Korb mit einer blau karierten Decke, aus dem eine Weinflasche herausragte. »Was ist das denn?«, fragte sie.

»Ach du lieber Himmel«, rief Louella und warf sich förmlich über den Korb. »Das darfst du noch gar nicht sehen, Josie. Das soll doch eine Überraschung werden.« Sie hob ihn vom Tisch und stellte ihn in eine Ecke. »So«, sagte sie. »Und jetzt vergisst du sofort wieder, dass du ihn gesehen hast, sonst kriege ich Ärger.«

Josie senkte lächelnd den Kopf und machte sich an die Arbeit mit den Äpfeln. Den ganzen Nachmittag lang fungierte sie als Hilfe für Louella, die an der Perfektionierung ihrer Rezepte herumtüftelte. Als Louella zwischendurch einmal ihr Tempo etwas verlangsamte, um einen Kokoskuchen aufzuschneiden, stellte sich Josie hinter sie und legte ihr die Arme um die Taille.

»Ich hab dich lieb, Louella«, sagte sie.

»Schsch, Kind, das weiß ich doch.«

Josie rückte den Spitzenkragen an Louellas neuem Kleid zurecht. »Sind die Schuhe angenehm zu tragen?«

»Das sind die besten Schuhe, die eine Köchin jemals besessen hat, und das weißt du ganz genau. Du willst bloß gelobt werden, und ich muss jetzt arbeiten«, sagte Louella lachend. »Jetzt mach weiter und lass mich den Kuchen schneiden.«

Josie umarmte sie und ließ sie dann los. Zum zwanzigsten Mal schielte sie zu der offenen Tür. Der Tag wurde allmählich kühler, und die Schatten wurden länger. Bald würde er kommen.

Gerade als sie einen Kuchen einwickelte, um ihn in die mit Blech ausgeschlagene Sicherheitskiste zu legen, stand Phanor dunkel im Türrahmen.

Endlich.

Sie fuhr sich mit der Hand übers Haar und hoffte, dass sie nicht wieder Mehl im Gesicht hatte. »Monsieur DeBlieux«, sagte sie mit zuckersüßer Stimme, ungefähr so, wie sie es bei den Schönheiten auf den Winterbällen gehört hatte. »Was für eine angenehme Überraschung!«

»Mademoiselle«, antwortete Phanor und verbeugte sich fast bis zum Boden. Dann zog er einen großen Strauß aus Goldruten hinter seinem Rücken hervor. »Für Sie, Mademoiselle.«

»Oh, ich liebe Goldruten«, säuselte sie und klimperte mit den Wimpern.

»Könnt ihr nicht rausgehen, wenn ihr Blödsinn machen wollt?«, grummelte Louella. »Komm, ich nehme die Blumen und stelle sie ins Wasser.«

Phanor zog den Korb hinter dem Stuhl hervor, reichte Josie seinen Arm und begleitete sie auf die Straße hinaus.

»Machen wir ein Picknick?«, fragte sie.

»So was Ähnliches.«

Phanor ging mit ihr durch das Vieux Carré in eine ruhige Straße mit bemoosten Eichenbäumen. Dort öffnete er die Gartentür zu einem blau gestrichenen Haus mit Veranden auf drei Seiten. Ein schmaler, mit Austernschalen bestreuter Pfad führte zur Treppe an der Seite des Hauses, und ohne Josies Hand loszulassen, führte er sie bis in den zweiten Stock des Hauses.

Die Sonne durchflutete die kleine Wohnung mit goldenem Herbstlicht. Im Kamin war Holz aufgeschichtet, das nur noch auf ein Zündholz wartete, und auf dem Boden lag ein blau-beige gemusterter türkischer Teppich. Ansonsten gab es keine Stühle, keine Decken, keinen Schnickschnack – das einzige Ausstattungsstück in den drei Zimmern war Phanors Geige, die auf dem Kaminsims lag.

Phanor kniete sich vor den Kamin und machte Feuer. Josie stand in der Mitte des Zimmers und atmete die Atmosphäre des Raums ein. Dann drehte sie sich langsam um, betrachtete ein Fenster nach dem anderen und ging langsam in die anderen Zimmer. Phanor wartete auf sie, als sie zurückkam.

Sie stand sehr nahe bei Phanor, als sie sagte: »Und diese schöne Wohnung ist für dich ganz allein?«

Er neigte seinen Kopf, um sie sanft auf die Lippen zu küssen. »Nicht unbedingt.«

Josie trat noch einen Schritt näher und legte ihm die Arme um die Taille. »Was meinst du damit?«

»Ich könnte mich eventuell dazu durchringen, sie mit jemandem zu teilen«, sagte er.

Sie streckte ihm ihr Gesicht entgegen, um sich küssen zu lassen, und er zog sie an sich. »Und was für Argumente wären nötig, damit du dich durchringst?«, fragte sie.

Phanor trat einen Schritt zurück und zog eine kleine Samtschachtel aus seiner Tasche. »Du musst mir nur versprechen, diesen Ring zu tragen«, sagte er. »Aber für immer.«

Josie bewunderte den kleinen, perfekten Smaragd einen Augenblick, bevor sie ihn an ihren Finger steckte.

»Das verspreche ich dir«, sagte sie.

Phanor legte ihr die Hände an beide Wangen und küsste sie innig, bis ihre Knie nachgaben und er sie auf den türkischen Teppich gleiten ließ.

»Ich kenne eine Straße weiter einen Pfarrer«, sagte er über sie gebeugt. »Es würde höchstens eine Stunde dauern.«

Josie legte ihm die Hände um den Nacken und zog ihn zu sich herunter. »So lange kann ich unmöglich warten.«

Das Herz des Südens
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