26

Früher am Abend

Als Josie im Spiegel ihrer Tante zum letzten Mal den Ausschnitt ihres Kleides kontrollierte, stand Marguerite plötzlich hinter ihr.

»Du siehst wirklich wie eine junge Dame aus, Josephine. Kein Wunder, dass dein Mr Johnston dich nicht vergessen kann, obwohl sich mein Freund Achille so sehr bemüht.« Sie strich die Spitze am Hals glatt und sagte: »Warte mal einen Augenblick.« Dann suchte sie einen gläsernen Zerstäuber von ihrer Frisierkommode aus und sprühte ein wenig von ihrem besten Parfum auf Josies Schultern.

Josie atmete tief ein. »Das ist ja ein wunderbarer Duft!«

»Natürlich wird es jetzt noch schwieriger werden, Mr Johnston im Zaum zu halten«, neckte Marguerite sie.

»Ich wünschte, er würde dir und nicht mir den ganzen Abend folgen«, gab Josie zurück.

»Keine so unangenehmen Aussichten, Liebes, auch wenn du seinen Charme offenbar nicht so recht zu würdigen weißt.« Sie rückte ihre Oberweite ein wenig zurecht. »Er hat so wunderbar große Hände«, seufzte sie.

Josie hatte sich Albanys Hände noch nicht genauer angesehen. Wenn man sie partout gezwungen hätte, etwas Nettes über ihn zu sagen, hätte sie vermutlich erwähnt, dass er immer sehr sauber war.

»Wollen wir runtergehen?«, schlug Marguerite vor.

Während sich die Gäste allmählich in Grüppchen zusammentaten, behielt Josie die Tür im Auge. Sie wollte auf keinen Fall Bertrands Ankunft verpassen. Die Kapelle spielte für die wenigen, die so früh am Abend schon tanzen mochten, und von ihrem Platz auf dem Sofa aus klopfte sie den Takt mit. Sie würde diesmal nicht vergessen, dass sie noch in Trauer war, aber in der nächsten Saison in New Orleans, da würde sie jeden einzelnen Tanz nachholen, den sie heute Abend verpasste.

Ihr Begleiter auf dem letzten Fest, Alphonse Bardot, kam gemeinsam mit seinem alten Vater, den er am Arm führte. Er nickte und lächelte Josie zu, bevor er den alten Mann zu seinen Freunden auf ein Sofa setzte, dann kam er zu ihr und verbeugte sich.

»Mademoiselle Josephine, ich freue mich, Sie wieder hier zu sehen.«

Sie hielt ihm die Hand hin und fragte: »Setzen Sie sich zu mir, Monsieur?«

Er hielt seine Frackschöße auseinander und ließ sich auf dem mit gelber Seide bezogenen Stuhl neben ihr nieder. »Sie sehen wunderbar aus heute Abend.«

Sie legte den Fächer in den Schoß und lächelte. »Waren Sie in dieser Saison schon beim Pferderennen?«

So amüsant Alphonse auch war, Josie behielt trotzdem die ganze Zeit die Tür im Auge. Bertrand kam wie immer zu spät. Gelegentlich, wenn der Butler Thomas aus der Küche kam, konnte sie einen Blick auf Phanor erhaschen, der Weinflaschen entkorkte. Sie hätte ihm zu gern gezeigt, dass sie sich heute Abend keinen Schönheitsfleck gemalt hatte. Und sie hätte ihm zu gern gesagt, dass sein Geigenspiel mindestens so gut war wie das Spiel dieser Kapelle aus New Orleans.

Albany Johnston kam in Begleitung seiner Schwester Abigail. Er war Josie nicht aus dem Weg gegangen, seit sie seinen Antrag abgelehnt hatte. Josie fragte sich, wie er mit dieser peinlichen Situation umging, aber er erwähnte seine Pläne mit keinem Wort. Vielleicht hatte er einfach sehr viel Geduld.

Tatsächlich war das Verhältnis zwischen ihnen fast entspannter als zuvor.

Als Albany und Abigail sich zu Josie gesellten, stellte sie sie und Alphonse einander vor. »Alphonse Bardot, haben Sie sich schon kennengelernt?« Alphonse stand auf und verbeugte sich vor Abigail, dann schüttelte er dem amerikanischen Herrn die Hand.

Interessant, dachte Josephine, wie schnell wir Kreolen uns fremde Sitten aneignen. Wir lernen das Händeschütteln eher als sie das Küssen.

Abigail, in einem blauen Abendkleid mit meterweise Rüschen, warf Alphonse schmachtende Blicke aus ihren blauen Augen zu. Als das Orchester wieder zu spielen begann, forderte er sie zum Tanzen auf, sodass Josie plötzlich mit ihrem abgewiesenen Heiratsbewerber allein dasaß.

Verzweifelt suchte sie nach einem passenden Gesprächsthema. »Was denken Sie, wie sich das Zuckerrohr in diesem Jahr verkaufen wird?«, sagte sie schließlich.

Albany verzog sein Gesicht zu einem schmerzlichen Lächeln. »Ich glaube nicht, dass Sie sich wirklich für den Zuckerrohrpreis interessieren, Josephine.«

Sie rang sich ein Lachen ab. »Aber ich sollte mich dafür interessieren.«

»Nun gut, dann will ich Ihnen nicht vorenthalten, was die Händler darüber denken.« Und er stürzte sich in die technische Diskussion von Preisen und Märkten. Josie hörte ihm zehn Minuten lang tatsächlich zu, aber immer wenn die Tür aufging, wurde sie abgelenkt. Warum Bertrand bloß nicht kam?

Alphonses Vater unterbrach Albanys Redefluss. »Mein Sohn genießt den Abend, Mademoiselle«, sagte er, »und ich lasse ihn hier in Ihrer reizenden Gesellschaft zurück. Vielleicht könnten Sie nach Ihrer Tante sehen, ich würde ihr gern Gute Nacht sagen, bevor ich gehe.«

»Aber natürlich, Monsieur, ich hole sie gleich.«

Marguerite war in ihrem grünen Abendkleid eigentlich kaum zu übersehen, dachte Josie, schließlich wirkte sie wie ein kostbares Schmuckstück unter all ihren Gästen, aber sie war nicht unter den Tänzern, auch nicht im Salon oder auf dem Balkon. Vielleicht hatte sie in der Küche etwas mit Thomas zu besprechen.

Als Josie die Tür zur Küche aufschob, sagte sie: »Thomas, haben Sie meine …« Aber was sie sah, war auf keinen Fall Thomas.

Die Glut zwischen Marguerite und Phanor war nicht misszuverstehen, selbst für ein unerfahrenes Mädchen wie Josie, und das Schuldbewusstsein in Phanors Blick hätte ihn auch dann verraten, wenn sie nicht gesehen hätte, wie er ihre Tante küsste.

Josie schloss die Tür zur Küche und blieb zitternd stehen, der ganze Körper flammend vor Empörung und etwas anderem. Sie hätte es nicht zu benennen gewusst und es auch zurückgewiesen, aber es war nichts anderes als Erregung.

Wie konnte er nur?, dachte sie schäumend vor Zorn. Marguerite war verheiratet und hatte drei Kinder. Und sie war alt! Es war also wohl doch wahr, was man sich über die Cajuns und ihr Verhältnis zu Frauen erzählte. Sie drängte die heißen Tränen zurück. Nun gut. Nun gut, es konnte ihr vollkommen gleichgültig sein, was ein gewisser Phanor DeBlieux tat oder nicht tat.

Sie würde nicht mehr daran denken, jedenfalls nicht jetzt. Mit einem Kopfschütteln, als könnte es das Bild vor ihrem inneren Auge vertreiben, wie Phanors Hand auf dem Rücken ihrer Tante lag, atmete sie tief durch und kehrte zu den Gästen zurück. Ihre Gastgeberpflichten an diesem Abend gingen vor.

Sie entschuldigte ihre Tante bei Monsieur Bardot und brachte ihn, begleitet von Albany, zur Tür. Beim Zurückkommen sah sie ihre langweilige Cousine Violette mit der langen Nase und dem unzufriedenen Gesicht allein und verloren auf einem Sofa sitzen.

Mit dem stets besorgten Sinn der Gastgeberin führte sie Albany zu Violette. »Mademoiselle Violette, ich möchte Ihnen Mr Albany Johnston vorstellen. Albany, Violette ist meine Cousine. Sie haben viele Gemeinsamkeiten, wissen Sie. Ihr Vater hat einige Jahre in New York verbracht, und jetzt lebt er als Händler hier in New Orleans.«

»Tatsächlich?« Albany setzte sich ohne lange Vorrede neben Violette. »Ich bin – oder besser gesagt: war – in New York zu Hause. Jetzt fühle ich mich freilich schon wie ein echter Louisianer. Und Ihr Vater – handelt er mit Zuckerrohr?«

Violette fand zu Josies redlichem Erstaunen ihre Sprache wieder, und die beiden stürzten sich in eine angeregte Diskussion über die Geschäftswelt der Stadt. Josie fragte sich, ob ihre hässliche Cousine Albany womöglich besser gefiel als all die Schönheiten, die er im Blue Ribbon gesehen hatte. Jedenfalls schien er ehrlich interessiert an ihren Bemerkungen über die Interna der Finanzwelt.

Die Salontür öffnete sich. Das würde doch wohl jetzt endlich Bertrand sein.

Und tatsächlich betrat er das Fest, als ob der Saal ihm gehörte, wohl wissend, dass die Blicke der gesamten Damenwelt auf ihm ruhten. Sein einer Mundwinkel zog sich amüsiert nach oben, als er bemerkte, wie still es für einen Augenblick geworden war. Onkel Sandrine reichte ihm ein Glas Champagner, und dann gingen die beiden zu einer Gruppe von Männern, die ihre Vorliebe fürs Spiel teilten, Männer, die ohne Bedenken den Gegenwert einer kleineren Plantage als Spieleinsatz auf den Tisch werfen würden.

Josie ging durch den Saal, sprach hier und da ein paar Worte mit einem Gast, behielt aber die ganze Zeit Bertrand im Auge. Er stand an der Tür zur Veranda, wo der leichte Wind seine schwarzen Haare kaum bewegte, die er mit einem schwarzen Satinband im Nacken zusammengebunden hatte. Er hatte abgenommen, und sein Gesicht zeigte die Gesundheit eines Mannes, der viele Tage in der Sonne verbracht hatte. Eines echten Mannes, nicht eines unsicheren Jungen aus den Sümpfen.

Josie stand neben dem älteren Bruder von Onkel Sandrine, aber ihren Blick hatte sie fest auf Chamard gerichtet. Der Festlärm verebbte in einem silbrigen Rauschen, die Stimmen verstummten ebenso wie die Musik der Kapelle. Jede einzelne der hundert Kerzen im Saal nahm einen goldenen Schimmer an.

Sie wollte, dass er sie ansah, konzentrierte all ihr Begehren auf ihn und fixierte seine Augenbraue, seine dunklen Wimpern. Er musste ihren Blick spüren!

Und tatsächlich reagierte er, nahm ihre ganze Existenz auf einmal wahr. Selbst quer durch den Saal sah sie seine Augenfarbe, wie ein feiner Brandy im Kerzenlicht. Sie hatte ein Gefühl, als könnte ihre Seele ihren Körper verlassen, um in diese Augen einzutauchen.

Er ließ seine Gesellschaft stehen und bewegte sich zielstrebig durch die Menge, wobei die Anmut seiner Bewegungen jede Frau verführte, die er streifte. Josie hörte die seidenen Röcke rascheln, wenn sich die Damen nach ihm umdrehten, aber sie ließ ihn nicht aus den Augen.

»Cousine Josephine.«

Josie hielt ihm ihre Hand hin, Chamard nahm sie in die seine, und ihr ganzer Körper erbebte bei dieser Berührung. Als er mit den Lippen über ihren Handrücken fuhr und seinen Daumen in ihre Handfläche drückte, bemerkte sie überrascht, wie die geheimsten Regionen ihres Körpers reagierten. Was machte er mit ihr? War das die Liebe?

Keiner von ihnen nahm noch Notiz von dem sprachlosen, verwirrten älteren Mann. Bertrand führte sie am Ellbogen weg von dem Strom der Gäste, die den Tanzsaal betraten und wieder verließen. Unter den Wedeln einer Palme in einer Ecke des Salons betrachtete er sie offen und unverschämt, und sie wich vor seinem Blick nicht zurück. »Wie geht es dir, meine Liebe?«, fragte er.

Kühn und verwegen, vom Champagner ermutigt, antwortete sie: »Ich bin sehr glücklich, dich zu sehen.«

Bertrand hob eine Augenbraue. »Die zauberhafte Mademoiselle, umringt von jungen Männern mit ehrbaren Absichten? Glücklich, ihren alten Cousin zu sehen?«

Josie legte den Kopf zurück, sie wollte nicht so herablassend behandelt werden. »So alt bist du noch nicht, und ich bin auch nicht mehr so jung.« Sie hielt seinem Blick stand und zwang ihn, die Herausforderung in ihren Augen zu erkennen. Er wollte sie, das konnte sie deutlich spüren.

»Nicht zu jung, um Albany Johnston zu heiraten?«, fragte Bertrand.

»Nicht zu jung, nein.« Entdeckte sie da ein wenig Enttäuschung in seinen Augen?

»Es ist also beschlossene Sache.«

»Allerdings. Es ist beschlossene Sache, dass ich Mr Johnston nicht heiraten werde.«

Sie hielt ihr Kinn hoch und lächelte. Sie hatte ihn am Haken, da war sie absolut sicher.

Das Herz des Südens
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