33

Oktober. Die kürzeren Tage und kühleren Nächte zeigten an, dass das Zuckerrohr bald reif sein würde. Da die Plantage nun ohne Aufseher war, verließ sich Josie auf den alten Sam, der die Mannschaften für die Erntearbeiten zusammenstellte. Bis spät in die Nacht hinein hörte sie, wie die Männer den Schleifstein drehten, um die Macheten zu schärfen. Vor Tau und Tag stand sie auf, um die Glocke zum Arbeitsbeginn selbst zu läuten, und in der Morgendämmerung stand sie neben dem alten Sam, wenn er den Sklaven die Tagesarbeit zuteilte.

Josie hielt mehrere große Töpfe mit Salbe bereit, die sie nach dem Heilmittelbuch ihrer Großmutter zusammengerührt hatte, und sie wies Louella an, den ganzen Tag heißes Wasser auf dem Herd stehen zu lassen. Irgendwann würde der unvermeidliche Unfall mit der Machete geschehen. Sie hatte auch Mittel gegen Schlangenbisse parat: Aloe vera in Alkohol, um den Schmerz zu betäuben und die Wunde zu desinfizieren, Echinacea aus den Kräutervorräten ihrer Großmutter und eine Salbe aus Castoröl und Papayasaft, mit der man das Gift neutralisierte.

Das Zuckerrohr war hoch gewachsen. Auf den besten Feldern ragte es neun Fuß hoch über die Köpfe der Sklaven, und die Pflanzen standen so dicht, dass man kaum einen Arm hindurchstecken konnte. Als es am Vormittag wärmer wurde, raschelten und ächzten die hohen Stämme im Takt zum Schlagen der Macheten. Die abgehackten Laute, die die hustenden Männer von sich gaben, vervollständigten die Symphonie, und der Wind trug schwarzen Rauch von den Feldern herüber, die bereits leer geerntet waren und abgebrannt wurden.

Josie sah den Sklaven aufmerksam und ein wenig ängstlich zu, die einen Wagen nach dem anderen mit Zuckerrohr beluden, das zur Raffinerie einer anderen Plantage ein Stück flussabwärts gebracht werden sollte. In ihrem Notizbuch führte sie jeden Wagen auf, der an ihr vorbei zum Anleger fuhr. Wenn das Zuckerrohr fertig verarbeitet war, musste zumindest genug Gewinn abfallen, um die Zinsen auf die Darlehen zu bezahlen.

Im Haus kümmerte sich Cleo um Madame. Sie fragte sich, ob Emmeline einen zweiten Schlaganfall erlitten hatte, denn inzwischen sprach sie kaum noch, und mit jeder Woche, die verging, wurde ihr Blick trüber. Cleo nahm ihre langen Spaziergänge wieder auf, wenn ihre Patientin den Nachmittag verschlief. Sie ließ Laurie mit irgendeiner Flickarbeit bei ihr als Wache zurück.

Der Rauch, der von Cherleu herüberzog, zeigte, dass Monsieur Chamard ebenfalls bei der Ernte war. Seit Juni war er nicht mehr auf Toulouse gewesen, seit jenem Tag, an dem die Banken und Josies Hoffnungen gleichermaßen zusammengebrochen waren. Während Cleo auf einem gewundenen Pfad die Plantage durchquerte, dachte sie an seine warmen braunen Augen, mit denen er sie angesehen hatte, gleich nachdem LeBrec sie zum ersten Mal überfallen hatte.

Als sie an eine Weggabelung kam und eine der beiden Abzweigungen Richtung Süden nach Cherleu wies, ging sie auf diesem Pfad weiter, ohne lange nachzudenken.

Der Geruch von verbranntem Zucker verbreitete sich in dem Wäldchen zwischen den beiden Plantagen. Cleo konnte die kleinen, orangefarbenen Flammen auf dem nächsten Feld erkennen, und das Feuer zog sie magisch an. Am Waldrand blieb sie stehen, um zuzusehen.

Auf der anderen Seite des Feuers, vielleicht fünfzig Meter von ihr entfernt, saß Monsieur Chamard auf seinem Fuchshengst.

Er schien nachdenklich in die Flammen zu blicken, und sie starrte ihn an wie gebannt. Ob er Cleo wohl schon vergessen hatte? Und sie? Hatte er auch das Interesse an ihr verloren?

Bertrand erwachte aus seinem Tagtraum, hob den Kopf und blickte Cleo über das brennende Feld hinweg an. Für einen Moment hielt sie seinem Blick stand, dann zog sie sich in den Wald zurück.

Die Ernte schritt voran. Josie konnte ihre Zinsen bezahlen, aber jetzt schrieb ihr Monsieur Moncrieff, sie müsse auch mit der Tilgung beginnen, sonst könne er das Darlehen nicht länger aufrechterhalten. »Niemals!«, schnaubte Josie. »Ich werde eine Möglichkeit finden.« In den Nachtstunden fasste sie immer neue Pläne, nur um sie am nächsten Morgen als sinnlos zu verwerfen.

Cleo fühlte sich von den Vorgängen auf der Plantage ausgeschlossen. Sie hätte Josie durchaus eine Hilfe sein können, aber Josie zog sie nicht ins Vertrauen, wollte die Last der Sorge nicht mit ihr teilen. So hatte Cleo reichlich Zeit, um Remy zu trauern, sich um Grand-mère zu kümmern und das Haus in Ordnung zu halten. Toulouse gehörte Josie, nicht ihr. Sie war nur ein Sklaven-Bastard.

Cleo trug ihre Trauer anders als Josie. Sie kannte den Frieden, der darin lag, ganz und gar und sicher geliebt zu werden. Sie hegte keine Zweifel, musste sich nicht mit der bangen Frage herumschlagen, ob irgendetwas an ihr zutiefst unwürdig war. Ihr Traum von einem Leben mit Remy als freie Menschen schien ihr jetzt weit entfernt, und sie brachte noch nicht den Mut auf, neue Träume zuzulassen. Aber wie in einem Baum im Winter stiegen neue Säfte in ihr auf, und sie spürte, dass sie bereit war und nur darauf wartete, wieder richtig zu leben.

Eine Stunde vor Sonnenuntergang ging sie am Deich entlang, einen Schal um die Schultern gelegt, und betrachtete das langsam dahinströmende dunkle Wasser. All diese langen Monate, während ihre Furcht vor LeBrec sie ans Haus fesselte, hatte sie sich nach der Einsamkeit und dem Trost gesehnt, den es für sie bedeutete, im Freien zu sein.

Ein Schiff tuckerte an ihr vorbei, und sie winkte einem der Schwarzen zu, einem alten Mann mit weißem Haar, der ihr einen vergnügten Gruß zugerufen hatte. Das Geräusch des Schaufelrades übertönte den Hufschlag, der sich auf der Straße näherte, bis plötzlich ein dunkles Pferd und ein Reiter aus den Schatten auftauchten. Cleo erkannte Monsieur Chamards Fuchs, bevor sie den Mann richtig sah.

Er kam näher, zügelte sein Pferd und blieb schließlich stehen. Cleo stand oben auf dem Deich, etwa einen Meter höher als Chamard, und er musste den Hut abnehmen, um zu ihr hinaufsehen zu können.

Keiner von ihnen sprach etwas, bis Chamard endlich leise »Bonsoir, Cleo« sagte.

Solange er Josies Verehrer gewesen war, hatte Cleo jeden Blickkontakt mit ihm vermieden, aber das war jetzt nicht mehr erforderlich. »Bonsoir, Monsieur.«

Chamard stieg ab und ging den Deich hinauf zu ihr. Sie ließen nur ihre Augen sprechen und verstanden sich ohne Worte, bis er ihr eine Hand auf den Rücken legte und sie an sich zog.

Ein kalter Winterwind blies an dem Tag ums Haus, als Cleo zum ersten Mal morgendliche Übelkeit verspürte. Josie hätte vermutlich gar nichts davon mitbekommen, wenn es sie nicht ganz plötzlich überrascht hätte, als sie von ihrer Pritsche in Josies Zimmer aufstand. Sie schaffte es gerade noch bis zur Waschschüssel, und Josie eilte herbei, um Cleos Haar zusammenzuhalten, während sie würgte.

Vielleicht hatte sie sich den Magen verdorben, vermutete Josie. Aber am nächsten Morgen passierte es wieder, und am übernächsten auch. Kein Zweifel, Cleo war schwanger.

»Der Wurmfarn hat also nicht gewirkt.« Josie schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte. »Und nun bist du tatsächlich schwanger von diesem Schuft!« Sie griff nach dem Buch mit den Heilmitteln. »Aber es gibt noch andere Mittel, Cleo, du musst dieses Kind nicht bekommen.«

Cleo wollte jedoch keines von Josies Heilmitteln. Sie hatte nichts auf dieser Welt, das ihr allein gehörte, und selbst wenn es LeBrecs Kind gewesen wäre, hätte sie es nicht hergegeben. Im Übrigen hatte sie die Tage gezählt, es war nicht von Le-Brec.

»Das wäre eine schwere Sünde, und das weißt du genau«, sagte sie zu Josie.

»Nicht nach einer Vergewaltigung. Pater Philippe wird Gott um Vergebung für uns bitten.«

Cleo schüttelte den Kopf. Wenn es ein Junge wird, dachte sie, nenne ich ihn Gabriel, wie ich es mit Remy schon geplant hatte.

»Cleo, du kannst doch nicht ernsthaft ein Kind von diesem Kerl bekommen wollen.«

»Es ist mein Kind, Josie. Mein Baby, meins ganz allein.«

Und so gingen die Monate dahin, und Cleo nahm den leicht abwesenden Ausdruck aller Schwangeren an, als ob sie eine leise Stimme hörte, die niemand sonst hören konnte. Sie traf Chamard weiterhin in einer kleinen Hütte am hintersten Ende von Cherleu, und er genoss es, sein Ohr an ihren Bauch zu halten, um den schwachen Herzschlag zu hören. Aber wie sehr er dieses Kind auch als das seine annahm, Cleo bestand darauf, dass es einzig und allein ihr gehörte.

Der Winter verging, und der Frühling kam. Der Duft der Magnolienblüten hing schwer in der Luft, die ersten Bienen summten um die Rosen, und auf den Feldern wuchs das Zuckerrohr.

Josie zahlte Monsieur Moncrieff gerade so viel, dass er zufriedengestellt war. Dafür musste sie einen Großteil des Bauholzes aus den hinteren Wäldern der Plantage opfern, aber auch das hatte seine Grenzen, und so marschierte sie immer noch nächtelang im Arbeitszimmer auf und ab und machte laufend neue Pläne.

Regen und Sonnenschein waren dem Unterlauf des Mississippi in diesem Frühling wohlgesinnt. Frei von Furcht und Schrecken, die LeBrec um sich verbreitet hatte, folgten die Sklaven dem alten Sam willig und arbeiteten kräftig im großen gemeinsamen Gemüsegarten. So gab es genug Mais fürs nächste Jahr und sogar einen kleinen Überschuss, den sie verkaufen konnten. Es gab Bohnen, die man trocknen konnte, Pfirsiche und Guaven, Beeren und Gurken zum Einmachen.

Irgendwann Mitte Juni stellte Josie fest, dass es auf den Tag genau ein Jahr her war, dass sie Bertrand zum letzten Mal gesehen hatte. An diesem Morgen war sie sehr still. Um die Mittagszeit ging sie hinaus zur Straße am Fluss, ohne auch nur einen Hut gegen die grelle Sonne aufzusetzen, und starrte Richtung Süden nach Cherleu. Und wenn die Straße ein Pfad voller Heidekraut und Dornengestrüpp gewesen wäre, sie wäre gern darauf weitergegangen, wenn nicht … Nach einem kurzen Augenblick schüttelte sie den Kopf, um den Gedanken zu vertreiben, und ging zum Haus zurück.

Jetzt musste Cleos Baby bald kommen. Es war zehn Monate her, dass LeBrec weggegangen war, aber es gab noch keine Anzeichen für eine bevorstehende Geburt. Josie las immer wieder in ihrem Buch, um ein Mittel zu finden, das die Geburt einleiten würde, aber als sie mit Louella darüber sprach, lachte die alte Köchin nur. »Kinder kommen, wenn sie so weit sind«, sagte sie. »Manche kommen mit langen Fingernägeln auf die Welt und mit Haaren, so lang, dass man Schleifchen reinbinden kann. Lass die Finger davon, da muss man noch lange nichts tun.«

Und die werdende Mutter schien ebenfalls vollkommen sorglos. Sie bewegte sich jetzt schwerfälliger, kam nicht mehr so leicht vom Stuhl hoch, und die Hitze setzte ihr schwer zu, aber meistens sang sie leise vor sich hin. Sie genoss es, Lauries oder Louellas Hand zu nehmen und sich auf den Bauch zu legen, wenn das Baby um sich trat. Einmal hatte sie es auch Grand-mère gezeigt.

Sie hatte ihr Staubtuch hingelegt und gelächelt. »Hier, Madame, fühlen Sie mal.« Und dann hatte sie das verzogene Gesicht der alten Frau beobachtet, als sie die Hand auf ihren Bauch gelegt hatte. Das Kind hatte einmal, zweimal kräftig getreten.

»Louella sagt, es wird bestimmt ein Junge, weil er so kräftig tritt«, hatte Cleo gesagt, und Grand-mère hatte ihr zugestimmt. »Ein Junge«, hatte sie gemurmelt. Dann hatte sie sich in ihrem Rollstuhl zurückgelehnt, und ihr Blick war hart und scharf geworden.

»Von wem?«, hatte sie gefragt.

Cleo war ganz still stehen geblieben.

Grand-mère hatte auf Cleos Bauch gezeigt und noch einmal gefragt: »Von wem?«

»Erinnern Sie sich nicht mehr, Madame?«, hatte Cleo zurückgefragt. Als ob Madame jemals irgendetwas vergessen hätte. »Im Herbst, der Aufseher? Deshalb hat Josie ihn doch weggeschickt.«

Und Grand-mère hatte genickt und gemurmelt, dass sie sich sehr gut erinnere.

Sie weiß Bescheid, hatte Cleo gedacht, ihr Staubtuch wieder in die Hand genommen und sehr beschäftigt getan.

Ende August war es dann so weit. Nach dem Mittagessen kam Cleo schwankend auf die vordere Veranda und brachte Gläser mit Limonade für Josie und Madame. Plötzlich blieb sie stehen, machte große Augen, und dann lief auch schon das Fruchtwasser. Josie sprang auf und nahm ihr das Tablett ab.

Bei der ersten Wehe wurde Cleo aschfahl. »Himmel, tut das weh«, schnaufte sie, als der Schmerz endlich nachließ.

»Laurie, geh zu Louella und sag ihr, es geht los«, befahl Josie. »Und dann lauf gleich weiter zu Ursuline.« Sie setzte Cleo in einen Sessel und eilte in ihr Schlafzimmer, um ihr Bett frei zu machen. Auf die Matratze legte sie das Stück Ölzeug, dass sie für diesen Moment bereithielt, und ein paar alte Laken darüber, um die Oberfläche angenehmer zu machen. Sie band ein geflochtenes Seil ans Fußende des Bettes, damit Cleo sich daran hochziehen konnte, und eilte dann zurück auf die Veranda, um sie zu holen.

»Hattest du noch mehr Wehen?«

»Nein, noch nicht.«

»Das Kind kommt so spät, ich dachte, es würde dann schneller gehen.«

Grand-mère deutete mit der Hand auf Cleos Bauch und sagte etwas, was Josie nicht verstand, und Cleo übersetzte es ihr nicht.

Sie half Cleo ins Bett, und kaum hatte sie sich zurückgelehnt, als auch schon die zweite Wehe kam. Cleo stöhnte.

Josie blickte aus dem Fenster in der Hoffnung, Ursuline zu sehen. Natürlich hatte sie alles über Geburtshilfe gelesen, was sie finden konnte, aber sie hatte das Gefühl, das reichte bei Weitem nicht aus. Sie wünschte sich Ursuline an ihrer Seite, und zwar so schnell wie möglich.

Aber zuerst kam Louella ins Zimmer gerauscht, ein breites Lächeln im Gesicht. »Endlich kommt wieder ein Baby ins Haus! Es gibt doch nichts, was ein Haus so lebendig macht wie ein Baby.«

Ein paar Minuten später kam auch Ursuline, einen Beutel mit Kräutern in der Hand. Sie ließ Louella einen Tee brauen, um die Schmerzen zu lindern, rückte die Laken so zurecht, dass sie leichter an das Kind herankam, und fühlte immer wieder nach, wie weit die Geburt vorangeschritten war. Josie, sagte sie, durfte gern dableiben, aber sie sollte sich gefälligst in eine Ecke setzen und nicht im Weg stehen. Und Josie setzte sich still in eine Ecke.

Den ganzen Nachmittag kamen und gingen die Wehen. Bei Sonnenuntergang wurden sie schneller und schmerzhafter. Cleos Haar hing in schweißnassen Strähnen um ihr Gesicht, und bei jeder Wehe keuchte sie.

»Jetzt haben wir’s gleich«, sagte Ursuline. »Louella, halt die Decke bereit.«

Josie kam ans Kopfende des Bettes geschossen, zu aufgeregt, um in ihrer Ecke sitzen zu bleiben. Sie wischte Cleo den Schweiß vom Gesicht und murmelte beruhigende Worte, als Cleo noch einmal kräftig presste.

»Ein Junge!« Ursuline hielt ihn hoch, damit sie ihn alle sehen konnten.

Das Baby gab ein beleidigtes Geheul von sich, und Cleo lachte und weinte gleichzeitig. Ursuline gab den Kleinen an Louella weiter, die ihn sauber machte und einwickelte, während die Hebamme Cleo versorgte.

Josie schüttelte Cleos Kopfkissen auf, damit sie besser sehen konnte, und bald sagte Cleo: »Gib ihn mir, Louella.«

Sie wickelte ihn aus, um eine seiner kleinen Hände in ihrer halten zu können. Eine wunderschöne, perfekte kleine Hand, fünf perfekte Finger, die sich fest um ihren Zeigefinger legten. »Gabriel«, sagte sie leise.

Das Baby hatte einen feinen Schopf aus glattem schwarzem Haar, und Josie beugte sich vor, um besser sehen zu können. »Er ist so rot im Gesicht!«, sagte sie. »Aber sieh dir bloß seine Augen an. Er schaut mich an.« Sie lachte und streichelte ihm mit dem Finger über die samtweiche Wange.

Ursuline mischte noch ein Mittel an, um die Blutung zu stoppen, und fütterte Cleo während der nächsten Stunde löffelchenweise damit, bis die junge Mutter einschlief. Louella badete Gabriel, und Josie streckte die Arme nach ihm aus. Es war so lange her, dass dieses Haus einen glücklichen Tag erlebt hatte. Sie wiegte ihn und sang ihm etwas vor, und diesmal hielt er ihren Finger mit seiner kleinen Hand fest.

In den nächsten Wochen verliebte sich Josie ein zweites Mal. Gabriel lächelte, wann immer sie ihn wiegte, da war sie ganz sicher. Louella sagte ihr immer wieder, dass er noch nicht lächeln konnte, aber Josie wusste, er lächelte sie an.

Cleo kam schnell wieder zu Kräften. Sie ließ andere großzügig an ihrem Glück teilhaben und legte Gabriel oft ihrer Großmutter in den Schoß, wobei sie seinen Kopf vorsichtshalber selbst festhielt. Grand-mère tätschelte ihm den kleinen Bauch und gurrte leise vor sich hin. Sobald Cleo wieder auf den Beinen war, nahm sie ihre Arbeit auf und sorgte gleichzeitig für den Kleinen. Wenn er nicht an ihrer Brust saugte, trug sie ihn in einem Tuch auf dem Rücken oder vor der Brust, je nachdem, womit sie beschäftigt war. Wenn Josie ihn ein Weilchen halten wollte, ließ sie ihn ungern gehen, aber nicht, weil sie Josie seine Gegenwart nicht gegönnt hätte. Sie wollte nur einfach keinen Augenblick ohne ihn sein.

Allerdings fiel es ihr leichter, ihn mit Josie zu teilen, weil sie wusste, Josie liebte ihn ebenfalls. Wer sonst hätte immer wieder zugehört, wenn Cleo den Augenblick beschrieb, als Gabriel seinen Daumen entdeckt hatte, als er zum ersten Mal seine Rassel schüttelte, als er zum ersten Mal den Kopf drehte, um der Spottdrossel draußen vor dem Fenster zuzuhören? Und Josie berichtete genauso begeistert, wenn sie ihn für ein Stündchen bei sich gehabt hatte, welche Wundertaten Gabriel wieder vollbracht hatte.

Cleo hatte das Gefühl, sie hatte endlich wieder eine Freundin, eine Schwester. Sie und Josie sprachen jetzt öfter über Grand-mère als früher, von der Plantage, dem Garten und davon, was für ein großer, schöner Mann Gabriel werden würde.

Josie verbrachte den Großteil ihrer Tage damit, sich mit dem alten Sam zu beraten, was die Arbeitsverteilung anging. Sie führte die Bücher und beobachtete eindringlich das Wetter. Cleo begann, sich für die Krankenversorgung unter den Sklaven zu interessieren. Sie studierte eifrig das Medizinbuch und entlastete Josie, wenn es notwendig war, nach Kranken in den Unterkünften zu sehen. Alle Kälte, alle Distanz zwischen ihnen schien verschwunden, als hätte es sie nie gegeben.

Als die Hitze im September am drückendsten war, versuchte jeder, sich möglichst wenig zu bewegen. Auf den Feldern wurde immer noch daran gearbeitet, das Unkraut niederzuhalten, aber im Haus ließ man alle Fenster offen, um dem Wind vom Fluss ein wenig Durchzug zu ermöglichen.

Josie hatte den Tag zu Pferde verbracht, hatte sich die Felder angesehen und die Fortschritte aller Arbeitsmannschaften überprüft, die in der heißen Sonne draußen arbeiten mussten. In zehn Tagen war wieder eine Rechnung fällig, und sie hatte die Summe noch nicht ganz beisammen. Am Nachmittag taten ihr die Augen weh, weil sie die ganze Zeit in das grelle Licht geblickt hatte. Und sie bekam solche Kopfschmerzen, dass sie sich ins Haus zurückzog.

»Komm auf die vordere Veranda, da geht ein leichter Wind«, schlug Cleo ihr vor. »Ich habe einen Krug Wasser hier, das hast du jetzt nötig.«

Nein, dachte Josie, was ich nötig habe ist Geld. Geld, damit ich Monsieur Moncrieff bezahlen kann. Aber sie behielt ihre Sorgen für sich. Die ganze Last der Plantage lag jetzt auf ihren Schultern, und sie wurde sie keinen Augenblick lang los, ob sie nun mit Gabriel spielte oder in der kühlen Abendluft auf ihrem Pferd ausritt – was auch immer sie tat, die Sorgen blieben. Sie fand wenig Gelegenheit, zu lächeln oder sich zu entspannen. Und wenn es doch einmal so war, dann war meistens Gabriel im Spiel.

Auf der schattigen Veranda lag Gabriel auf dem Rücken und beobachtete, wie sich seine Beine und Arme bewegten. Josie hob ihn hoch und zog ihm das Musselinkleidchen über den Kopf, bevor sie ihn sich auf den Schoß legte. Dann tauchte sie ihr Taschentuch in das Wasser und rieb ihm die Brust ab, um ihm etwas Kühlung zu verschaffen. Cleo saß neben ihr und nähte an einem neuen Kleidchen für ihn. Sie hatte den Rock bis über die Knie hochgezogen, um es etwas kühler zu haben.

Josie küsste Gabriel und drehte ihn um. Dann rieb sie ihm vorsichtig den Rücken und die Schultern ab, bevor sie die dicke Windel öffnete, um ihm auch sein kleines Hinterteil abzureiben.

»Er wird schon wieder wund von der Hitze«, sagte sie zu Cleo. Tatsächlich konnte man am unteren Ende seiner Wirbelsäule eine Stelle mit roter Haut erkennen. Josie setzte ihre Lesebrille auf, um besser sehen zu können.

Jetzt sah sie es deutlicher. Er war gar nicht wund, es war dasselbe Muttermal, das sie selbst trug. Das Muttermal, das auch ihre Mutter gehabt hatte, und Mamans Schwestern, ihre Cousinen, Neffen und Nichten. Eigentlich alle Nachkommen der Urgroßmutter Helga.

Josie warf Cleo einen Blick zu. Wie war das möglich?

»Was ist?«, fragte Cleo.

Josie zog Gabriel enger an sich. »Du …«, begann sie. Dann stand sie auf und ging rückwärts davon. Gabriel musste Bertrands Kind sein. Bertrand hatte ebenfalls dieses Muttermal, er hatte einmal davon gesprochen … »Cleo, du …«

Cleo ließ ihre Näharbeit sinken und sah Josie in die Augen. Barmherzige Mutter, jetzt wusste sie es. Cleo war nie auf die Idee gekommen, dass Josie davon erfahren könnte. Woher wusste sie es?

»Ach, Josie«, seufzte sie.

»Er ist von Bertrand, nicht wahr?« Josie zog sich bis zur Tür zurück.

»Josie, warte doch«, rief Cleo.

Aber Josie rannte fort, weg von der Veranda, Gabriel fest an sich gedrückt. Sie schlug die Tür zu ihrem Zimmer hinter sich zu und schloss von innen ab. Dort saß sie auf ihrer Bett-kante, schaukelte vor und zurück, den Kleinen immer noch fest in ihren Armen. So viele Monate, fast ein Jahr lang, hatte sie sich darauf konzentriert, nicht mehr darüber nachzudenken, wie es hätte sein können. Und in dieser Zeit hatte Cleo mit ihm geschlafen, hatte die Kraft seines Körpers gespürt, der sich mit ihrem Körper vereinigte. Josie hatte all diese einsamen Nächte ertragen, den Schmerz, die Sehnsucht nach seiner Berührung – und Cleo hatte in seinen Armen gelegen.

Der gallige Geschmack der Eifersucht lag ihr auf der Zunge, und sie hatte das Gefühl, sie müsste daran ersticken. Erst Papa und nun auch noch Bertrand – sie liebten Cleo.

Wie hatte sie das tun können? Bertrand hatte Josie verlassen, und Cleo hatte sie verraten. Ihr eigenes Fleisch und Blut. Das Selbstmitleid überschwemmte sie ganz und gar. Eine Einsamkeit, tiefer als alles, was sie bisher gekannt hatte, schien ihr das Herz zu durchbohren.

»Josie, Josie, lass mich rein«, flehte Cleo und rüttelte an der Tür.

Und dann Gabriel, Bertrands wunderbares Kind. Er hätte an meiner Brust saugen, in meinen Armen liegen sollen.

»Josie!«

Gabriel wurde unruhig. Er spürte, wie angespannt sie war, und sie küsste sein Gesicht, beruhigte ihn unter Tränen. Er hätte mein Kind sein sollen!

Jetzt begann er zu schreien. Auf der anderen Seite der Tür stand Cleo, mit schmerzenden Brüsten, und die Milch begann zu fließen. »Josie, mach die Tür auf, du jagst ihm doch Angst ein!« Gabriel schrie jetzt wütend; er hatte Hunger und hörte die Stimme seiner Mutter durch die geschlossene Tür.

Cleo schlug mit der Faust an die Tür, einmal, zweimal. »Lass mich rein, Josie!«

Als Josie endlich die Tür öffnete, rannte Cleo ins Zimmer, die Arme ausgestreckt, um ihr Kind zu holen. Aber Josie hielt den Kleinen an der Schulter, die Hand an seinem Kopf, um ihn zu beruhigen.

»Gib ihn her«, sagte Cleo.

Josie antwortete nicht und ließ das Baby nicht los. Sie ging aus dem Zimmer, hinüber zur hinteren Veranda und dann die Treppe hinunter.

»Wohin gehst du? Josie, gib ihn mir!« Cleo folgte ihr über den Hof, während die Panik in ihr immer größer wurde, und flehte Josie an, ihr das Kind zu geben. »Josie!« Endlich packte sie sie an der Schulter. »Gib mir mein Kind!«, schrie sie.

Da schlug Josie zu. In ihrem ganzen Leben hatte sie sie noch nie geschlagen. Cleo trat einen Schritt zurück, die Hand auf dem roten Abdruck, den Josies Schlag auf ihrer Wange hinterlassen hatte. Sie starrten sich an, beide wie gelähmt.

Was habe ich getan? »O Gott, Cleo, es tut mir leid.« Was habe ich getan? Josie begann zu schluchzen. Sie spürte, wie ihre Beine nachgaben, und sie sank auf die Knie, den kleinen Gabriel immer noch an ihrer Schulter.

Cleo trat vor und nahm ihr das Kind weg. Sie ließ Josie, wo sie war, das Gesicht in den Händen vergraben, weinend, als hätte man ihr alle Kinder der Welt weggenommen.

Ellbogen-John fand sie dort. Sie hatte kaum gespürt, wie die Sonne auf sie herunterbrannte. »Jetzt musst du aufstehen, Mamsell, sonst wirst du krank hier draußen.« Er zog sie hoch und trug sie halb ins Haus. Nur Laurie war zur Stelle, um ihm zu helfen, sie ins Bett zu bringen. Er hielt ihr ein Glas Wasser an die Lippen und sorgte dafür, dass sie sich hinlegte. »Wenn sie ein Weilchen im Kühlen liegt, geht es ihr gleich besser.«

Josie begann wieder zu weinen. »Also, Laurie«, sagte John, »kümmer du dich um Madame, ich bleibe hier.«

Sie war zu ausgetrocknet von der heißen Sonne, um noch richtige Tränen zu weinen, sondern schluchzte nur schwer vor sich hin. Ellbogen-John setzte sich auf den Boden neben ihr Bett und hielt ihre Hand. Josie klammerte sich an ihm fest, als wäre er ihre einzige Verbindung zur Welt der Lebenden.

Als sie endlich aufhörte, ließ er sie ein weiteres Glas Wasser trinken, dann noch eines. Dann legte er ihren Kopf zurück aufs Kissen.

»Das darfst du doch nicht machen, Cleo ihr Baby wegnehmen, Schätzchen. Wohin wolltest du denn mit dem Kleinen?«

»Ich weiß es nicht, John. Ich wusste überhaupt nicht, was ich tat.« Sie griff wieder nach seiner Hand und begann erneut zu weinen, dass die Tränen nur so flossen. »Cleo wird mir das nie verzeihen, John. Was ich getan habe, ist unverzeihlich.«

Darauf wusste er keine Antwort. Er tätschelte ihr nur die Hand und ließ sie weinen.

Als die Sonne unterging, saß er immer noch bei ihr. Louella kam mit einem Krug Wasser hereingeschlichen, kühl und frisch von der Zisterne. Sie stellte auch einen Teller mit Weintrauben auf den Tisch, vielleicht würde Josie ja doch etwas zu sich nehmen. John ging, um zu Abend zu essen, und Louella blieb an Josies Bett sitzen.

Als Josie eingeschlummert war, entspannte sich Louella ein wenig in dem Sessel, den sie sich herangezogen hatte, aber dann begann Mademoiselle im Schlaf zu stöhnen und zu weinen. Louella weckte sie, und Josie schluchzte wieder, als würde ihr Unglück nie ein Ende finden.

»Na, na«, sagte Louella. »Jetzt muss aber mal Schluss sein. Wenn du so viel weinst, wirst du noch krank.«

»Ich habe etwas Schreckliches getan, Louella. Etwas ganz Entsetzliches. Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe. Louella, sag das Cleo, ja? Sag ihr, ich war vollkommen außer mir und wusste nicht, was ich tat.«

In der Nacht bekam Josie Fieber. Louella rieb ihr immer wieder das Gesicht ab und versuchte, sie zum Trinken zu bewegen, aber Josie wusste kaum, wo sie war. Sie verdrehte ihr Bettzeug und schrie im Schlaf. »Vergib mir«, sagte sie immer wieder.

Gegen Mittag am nächsten Tag begann sie zu schwitzen, und dann fiel sie in tiefen Schlaf. Louella sorgte dafür, dass im Haus Ruhe herrschte, und blieb den ganzen Nachmittag an ihrem Bett sitzen. Als Josie bei Sonnenuntergang wach wurde, wusch Louella ihr Gesicht und Hals und half ihr, ein frisches Nachthemd anzuziehen. Sie öffnete die Fensterläden, damit der Abendwind hereinkam, und gab Josie ein Glas Wein.

»Trink das, Mamsell, vielleicht bekommst du dann ein bisschen Appetit.«

»Danke, Louella.« Josie fühlte sich schwach und niedergeschlagen. Sie hatte all ihren Schmerz herausgeweint; was jetzt noch blieb, war Reue. Und der Wunsch, alles wieder in Ordnung zu bringen.

»Wo ist Cleo. Kannst du sie holen?«

Louella beschäftigte sich mit den feuchten Laken. »Vielleicht wenn du etwas gegessen hast, Kind.«

»Ich esse ja, Louella, aber bitte, bitte, bring Cleo zu mir. Bitte!« Schon wieder stiegen Josie die Tränen in die Augen. Louella nahm ihre Hand.

»Es ist noch nicht zu Ende, Kind«, sagte sie. »Du musst jetzt wirklich stark sein.«

Josie starrte in Louellas freundliche alte Augen. »Was ist denn?«, fragte sie flüsternd. Ihr wurde ganz kalt und eng um die Brust. Sie kannte die Antwort, bevor Louella sie aussprach.

»Cleo ist weggegangen. Sie hat ihr Baby genommen und ist gegangen.«

Noch ein Fetzen Hoffnung. »Nach Cherleu?«

»Nein, da ist John schon gewesen. Sie ist wirklich fort.«

Das Herz des Südens
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