37

Der Winter ging dahin, und Josie fand eine grimmige Befriedigung darin, zu beobachten, dass viele Menschen, arme und reiche gleichermaßen, in schlechtesten Verhältnissen lebten, während sie, das verwöhnte, zarte Fräulein, in ihrer bescheidenen Garküche mit ihren Pasteten jede Menge Geld verdiente. An manchen Tagen standen die Arbeiter vor ihrer Theke Schlange bis zur nächsten Ecke hinauf, und Louella und sie hatten alle Hände voll zu tun, um allen Bestellungen gerecht zu werden. Sie stellte ein irisches Mädchen als Hilfe ein, nicht viel jünger als sie selbst, aber der Ofen fasste nur eine bestimmte Anzahl Pasteten, egal wie schnell sie sie vorbereiteten.

Josie besuchte Monsieur Moncrieff in seiner Bank. Sie zahlte ihm die Zinsen für ein weiteres Vierteljahr, aber statt wie geplant auch einen Teil des Darlehens zu tilgen, überredete sie ihn, noch ein bisschen Geduld zu haben. Sie würde das verdiente Geld gut anlegen, einen weiteren Laden eröffnen, diesmal näher am Hafen, und bis zum nächsten Jahr würde sie in der Lage sein, regelmäßig Teile des Darlehens zu tilgen.

Monsieur blickte sie über den Rand seiner Brille eindringlich an. Josie wusste, was er dachte: Sie war zu jung, um in finanziellen Dingen vertrauenswürdig zu sein. Aber sie hatte ihm ihr Rechnungsbuch mitgebracht, und sie legte ihm die Zahlen dar und beantwortete jede seiner Fragen.

»Nun gut«, sagte er schließlich. »Natürlich müssen Sie in der Zwischenzeit weiterhin Ihre Zinszahlungen leisten, aber ich werde die Tilgungen noch für eine Weile aussetzen. Ich gestehe, Mademoiselle Tassin, dass ich von Ihrem bisherigen Erfolg beeindruckt bin. Ich werde den Fortgang Ihres Unternehmens mit großem Interesse verfolgen, und wenn Sie irgendeinen Rat brauchen, bitte zögern Sie nicht, mich aufzusuchen.«

»Vielen, vielen Dank, Monsieur«, sagte sie und setzte ihr nettestes Lächeln auf, ganz die kleine Frau, die dem großen, klugen Mann dankbar ist. Innerlich dachte sie währenddessen: So weit kommt es noch, dass ich mir bei dir Rat hole. Ich glaube nicht, dass du irgendetwas davon verstehst, wie viel der Speck kostet oder wie viel meine Kunden für ein anständiges Frühstück bezahlen können, du aufgeblasener alter Esel.

Es dauerte nicht lange, dann hatte sie die zweite Garküche eröffnet und ein weiteres irisches Mädchen angestellt, eine zur Unterstützung für Louella und eine für sie in dem neuen Laden. Sobald die neue Niederlassung zufriedenstellend lief und Gewinn abwarf, dachte sie über die Eröffnung einer dritten nach, die Gebäck von besserer Qualität an die Restaurants im Vieux Carré liefern würde. Louella konnte einen wunderbaren Cremekuchen backen, und ihre Sahneballen waren die besten von ganz New Orleans. Aber dafür müsste sie mehr Angestellte haben, die von Louella angelernt wurden. Immer mit der Ruhe, rief sie sich zur Ordnung.

Erst einmal kaufte sie ein neues Kleid und feste Schuhe für Louella, ähnliche, wie sie sie selbst trug. Was Louella jedoch am meisten brauchte, war Ruhe. Sie war nicht mehr die Jüngste, und Josie sorgte dafür, dass Molly, das irische Mädchen, den nachmittäglichen Straßenverkauf übernahm. Louella hatte mit dem schweren Korb voller Pasteten zu kämpfen gehabt, während Molly ihn sich schwungvoll auf die Hüfte wuchtete und auf dem ganzen Weg zum Jackson Square sang, um die Pasteten unters Volk zu bringen. Mit ihren roten Locken, die unter der Haube hervorquollen, und ihrem fröhlichen Lächeln, war Molly eine wahre Verkaufskanone. An manchen Nachmittagen kam sie schon bald zurück in die Küche, um Nachschub zu holen.

An einem regnerischen Sonntag im Frühling schleppten sich Josie und Louella durch die verschlammten Straßen zu ihrer Küche. Der Sonntag war ihr einziger Ruhetag, aber heute sollte Louella ein Tablett voller Kuchen und Gebäck vorbereiten, damit Josie Muster zum Probieren vorzuweisen hatte. Sie hatte sich eine Liste der besten Abendrestaurants im Vieux Carré geschrieben, und sie hatte sich den Plan zurechtgelegt, das beste Kleid anzuziehen, das sie mit nach New Orleans genommen hatte, und sich bei den Managern vorzustellen. Wenn auch nur einer sich bereit erklärte, bei ihr einzukaufen, würden andere bald folgen, da war sie sicher.

Josie warf einen Blick auf die Regenwolken, die sich allmählich verzogen, deckte den Korb mit den Mustern ab und zog los, um ihr Glück zu versuchen. Im ersten Restaurant verschlang der Manager, ein dicker Mann mit fleckiger Weste, das Gebäck, das sie ihm anbot, sagte dann aber nein, es täte ihm leid, er habe keinen Bedarf. Im La Pêche d’Or verspeiste der Verantwortliche einen Sahneballen und küsste sich dann anerkennend die Finger. »Großartig, Mademoiselle. Aber wissen Sie, meine Kunden werden New Orleans bald verlassen. Bevor die Hitze kommt und die schlechte Luft uns vergiftet, verlassen alle, die es sich leisten können, die Stadt. Sie wissen ja, wovon ich spreche.«

»Ja, natürlich«, gab Josie zu. »Aber es kommen doch auch während der Sommermonate viele Leute in die Stadt, und sei es nur kurz, aus geschäftlichen Gründen.«

»Nicht genug, nicht annähernd genug! Ich vermute, wir werden diesen Sommer ganz schließen und erst im Herbst wiedereröffnen. Wenn Sie dann wiederkommen wollen, sagen wir Ende September, dann sollten wir uns ernsthaft unterhalten.«

Eine dritte Schicht Gebäck hatte Josie noch in ihrem Korb. Ein Restaurant würde sie noch aufsuchen, bevor sie für heute aufgab. Die Seitentür des Les Trois Frères stand offen, und sie trat ein.

Sie folgte den Stimmen den kurzen Korridor hinunter bis in den hinteren Teil des Restaurants. Ein großer, schlanker Mann mit gewellten schwarzen Haaren stand mit dem Rücken zu ihr. Ein wesentlich kleinerer Mann in Weste und Hemdsärmeln stand neben ihm und hielt eine Weinflasche ans Licht.

»Wirklich, mein Freund, eine wunderbare Farbe«, sagte er gerade. »Wie das blonde Haar eines schwedischen Mädchens.«

Josie fing seinen Blick auf, als sie den Saal betrat. »Mademoiselle?«, sprach er sie an.

»Monsieur, sind Sie der Geschäftsführer?«

Der große Mann drehte sich zu ihr um. Phanor DeBlieux war mindestens ebenso überrascht wie sie. »Josephine?«, sagte er.

Josie hörte das Blut in ihren Ohren rauschen. Als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, war sie arrogant und streng und gefühllos gewesen, weil er Remy zur Flucht verholfen hatte. Und weil er ihre Tante geküsst hatte. Dabei hatte sie viel schlimmere Dinge auf dem Gewissen. Ob er wohl wusste, was sie Cleo angetan hatte?

Sie versuchte, unbeeindruckt zu wirken, aber sie konnte ihre Stimme kaum im Zaum halten. »Bonjour, Phanor.« Sie räusperte sich. »Ich hoffe, es geht dir gut.«

»Cleo hat mir schon erzählt, dass du in New Orleans bist«, gab er zur Antwort.

Er wusste also Bescheid. Er wusste alles, von all den vielen Gelegenheiten, bei denen sie kalt und unfreundlich gewesen war, von all ihren schlimmen Sünden. Wie sehr musste er sie verabscheuen! Sie blickte auf ihre nassen Schuhe. Hatte sie schlammige Spuren auf dem Boden hinterlassen?

»Das ist mein Freund Jean Paul Rouquier«, stellte Phanor den anderen Mann vor. »Er ist derjenige, den du suchst, wenn du den Geschäftsführer sprechen willst.« Er sah seinen Freund an. »Mademoiselle Josephine Tassin.«

Am liebsten wäre sie auf der Stelle weggelaufen vor all der Verachtung, die Phanor für sie empfinden musste, aber es war, als wären ihre Füße am Boden festgewachsen.

»Wie kann ich Ihnen zu Diensten sein, Mademoiselle?«, fragte Jean Paul höflich.

Josie schluckte und zog das Tuch weg, mit dem sie das Gebäck in ihrem Korb bedeckt hatte. »Möchten Sie vielleicht einen Kokoskuchen probieren?«

»Aber gern«, rief er aus und nahm ein kleines Stück. »Hmmm, wunderbar!«, sagte er. »Haben Sie die selbst gebacken, Mademoiselle?«

»Nein, aber die Kuchen stammen aus meiner Küche.« Josie vermied es immer noch, Phanor anzusehen. »Wenn wir ins Geschäft kommen könnten, würde ich für alle Desserts sorgen, die Sie hier servieren.«

Jean Paul war nicht dumm, und er hatte die Verstörung bei seinem Freund und dieser reizenden jungen Frau sofort bemerkt. Während er sich die Finger ableckte, dachte er darüber nach, auf welche Weise die beiden wohl in diese peinliche Situation gekommen sein mochten. Dann deutete er leichthin auf Phanor und sagte: »Sie sind also eine Freundin meines Freundes, richtig?«

»Monsieur DeBlieux und ich …« Josie konnte nicht weitersprechen, konnte Phanor nicht ansehen, konnte den Abscheu nicht ertragen, den sie in seinem Blick zu finden fürchtete. »Wir kommen aus derselben Gegend«, beendete sie schließlich ihren Satz.

»Also diesmal keines von Phanors reizenden irischen Mädchen. Phanor, von Mademoiselle Josephine hast du mir nie etwas erzählt!«

Phanor murmelte etwas. »Nein, habe ich nicht«, konnte es wohl heißen.

Jean Paul betrachtete ihn mit scharfem Blick. »Ich soll also Geschäfte mit der Dame machen? Würdest du mir das empfehlen?«

Das Schweigen hing so schwer im Raum, dass Josie dachte, er würde niemals antworten. Sie fasste den Griff ihres Korbes fester und blickte ihm endlich in die Augen.

»Doch, ich glaube, sie ist ein guter Mensch«, sagte er schließlich.

Josie spürte den Kloß in ihrem Hals und kämpfte mit den Tränen. »Merci, Phanor«, flüsterte sie.

Er nahm seinen Hut. »Ich muss gehen«, entschuldigte er sich. »Ich habe noch eine Verabredung.« Er starrte Josie an. »Willst du …«, begann er, aber er brachte den Satz nicht zu Ende, sondern nickte Jean Paul nur kurz zu und verließ das Lokal, ohne Josie noch einmal anzusehen. Sie nahm ihm den schnellen Abschied nicht übel. Tatsächlich freute sie sich, war glücklich und froh. Er wusste, was sie getan hatte, und er hatte ihr verziehen. Sie sah seinen Freund Jean Paul an und lächelte unter Tränen.

Jean Paul zog einen Stuhl für sie heran. »Setzen Sie sich doch, meine Liebe«, sagte er. »Mögen Sie ein Glas Wein?« Er beschäftigte sich mit der Flasche und den Gläsern, während sie sich ein wenig sammelte. »Ein ausgezeichneter Sauvignon, wenn der goldene Schimmer ein gutes Zeichen ist.«

Josie trank ein Glas Wein mit Jean Paul. Er machte es ihr leicht, zu erzählen, hörte ihr zu und wusste bald alles über ihre zwei Küchen und die Pläne für die dritte.

»Sie sind eine ziemlich geschäftstüchtige Frau, meine Liebe«, bemerkte Jean Paul. »Offensichtlich wachsen an Ihrem Flussabschnitt kluge Köpfe. Phanor wird es noch weit bringen, dessen bin ich mir ganz sicher, und jetzt habe ich Sie kennengelernt, und Sie sind ebenfalls auf dem besten Wege, eine erfolgreiche Unternehmerin zu werden.« Er hob sein Glas. »Auf Ihren Erfolg.«

»Heißt das, Sie steigen ins Geschäft ein und kaufen Gebäck bei mir?«, fragte Josie.

»Nun, passen Sie auf. Die dritte Küche steht ja noch nicht, wenn ich Sie richtig verstanden habe. Und es ist spät in der Saison. Ich schlage Ihnen Folgendes vor: Sie bereiten alles vor, sodass Sie Ihre Bäckerei bis September startbereit haben, und ich verspreche Ihnen, ich bin Ihr erster Kunde. Ich kann Ihnen jetzt schon prophezeien, der Kokoskuchen wird ein Renner.«

Leichter Regen fiel, als Josie das Les Trois Frères verließ. Sie hob ihr Gesicht zum Himmel, wie um sich segnen zu lassen, und ließ die Regentropfen auf ihre Augen und ihre Haare fallen. So viele Monate, in denen sie sich selbst verabscheut hatte – und nun die Vergebung. Sie badete förmlich in Phanors Worten: ein guter Mensch, das hatte er tatsächlich gesagt.

Mit einem Herzen, das allmählich heilte, ging Josie jeden neuen Tag mit noch größerem Elan an. Sie führte beide Küchen und trieb ihre Pläne für die dritte voran. Sie schrieb ihrer Großmutter lange Briefe, in denen sie alle Einzelheiten ihres Geschäfts darlegte und außerdem amüsant von Moncrieffs ungebetenem Rat erzählte. Außerdem beschrieb sie Szenen aus einem New Orleans, das Damen wie ihre Großmutter nie zu sehen bekamen. Was Phanor anging, so erwähnte sie lediglich, dass sie ihn zufällig getroffen hatte und dass es ihm gut ging.

»Ich werde im Sommer nicht heimkommen«, schrieb sie. »Mach Dir keine Sorgen, Grand-mère, wir Kreolen haben, wie Du weißt, gute Widerstandskräfte gegen die schlechten nächtlichen Ausdünstungen, die sie hier Miasma nennen. Vor allem die Américains sind gefährdet. Und ich muss hier weitermachen. Meine Kunden bleiben den Sommer über in der Stadt, die Arbeit ruht hier nicht, und die Menschen geben weiterhin ihr Geld in meinen Läden aus.«

Wie schade, dass sie keine Antwort von ihrer Großmutter bekommen würde. Der einzige Mensch auf Toulouse, der schreiben konnte, war Mr Gale, und sie konnte sich nicht vorstellen, dass Grand-mère in der Lage sein würde, sich ihm verständlich zu machen. Sie unterdrückte eine Welle von Heimweh und begann einen neuen Brief, diesmal an Mr Gale. Regelmäßig gingen Briefe zwischen ihnen hin und her, hauptsächlich in geschäftlichen Angelegenheiten, und Mr Gale konnte berichten, dass alles gut lief. Noch so ein Segen, dachte Josie. Wie gut, dass sie in Mr Gale einen so vertrauenswürdigen Verwalter hatte.

In den Wochen nach Josies Zusammentreffen mit Phanor im Les Trois Frères rechnete sie ständig damit, ihm an der nächsten Straßenecke zu begegnen. Sie suchte sein Gesicht unter den Männern, die an ihrer Theke standen, sie beobachtete die Männer in den Kirchenbänken während der Frühmesse, sie führte sogar im Geist Gespräche mit ihm. Aber der leibliche Phanor tauchte nicht auf. Josie versuchte sich selbst zur Ordnung zu rufen, sagte sich, dass die Absolution, die sie gespürt hatte, als er so freundlich über sie sprach, vollkommen ausreiche. Aber sie sehnte sich nach seinem vertrauten Gesicht.

Ostern ging vorüber, es wurde heißer, und die Stadt leerte sich. Wer es sich leisten konnte, suchte Zuflucht an kühleren, gesünderen Orten, beispielsweise an den Seen. Was ihre eigene Kundschaft anging, hatte Josie jedoch recht gehabt. Die Männer und Frauen, die in den unteren Teilen der Stadt lebten und arbeiteten, hatten keine Möglichkeit, die Stadt zu verlassen, und das Laden und Löschen der Schiffe ging unvermindert weiter. Josie und Louella und die beiden irischen Mädchen, Molly und Kathleen, betrieben beide Küchen weiter, selbst als die Fliegen und Mücken sich rasend vermehrten und der Gestank vom Fluss schlimmer wurde.

Josie ließ zusätzliche Fenster in die Bretterbuden sägen, um die Hitze erträglicher zu machen. Louella verkleidete die Öffnungen mit Käseleinen, aber das führte nur dazu, dass die mutigsten Fliegen hauptsächlich um ihre verschwitzten Unterarme schwirrten. Die langen Sommertage machten es aber immerhin möglich, die Arbeit vor Sonnenuntergang zu beenden und zu Hause zu sein, bevor die gefährliche Nachtluft hereinbrach. Viele Menschen, die in New Orleans geblieben waren, hielten es wie Josie und Louella und kehrten abends nach Hause zurück, um dem gefährlichen Miasma der Nacht zu entgehen.

Nach mehreren schlimmen Nächten in der schwülen Hitze ihres kleinen Zimmers entschlossen sich Josie und Louella dann aber doch dazu, das Risiko einzugehen. Sie befestigten eine doppelte Lage Käseleinen über dem einzigen Fenster und konnten so endlich einmal wieder eine Nacht durchschlafen, wenn auch in schweißnassen Betten. Nach wie vor wurden sie morgens wach, ohne sich wirklich erholt zu haben. Die Reizbarkeit nahm zu.

»Ich glaube, ich schlafe nächste Nacht am Fluss, Mamsell«, sagte Louella. »Das machen viele Leute so, um ein bisschen Luft zu kriegen. Ich wickle mich in ein Moskitonetz, vielleicht kann ich dann endlich mal wieder richtig schlafen.«

»Und was ist mit der Nachtluft? Wenn du die ganze Nacht da draußen bist, holst du dir mit Sicherheit das Gelbfieber.«

»Das glaube ich nicht. Es ist doch dieselbe Luft, die ich einatme, ob ich hier im Haus bin oder unter freiem Himmel. Nein, das glaube ich einfach nicht.«

»Bitte, Louella, ich will nicht, dass du das machst.«

Resigniert gab Louella klein bei und warf sich weiterhin nächtelang zwischen klammen Laken hin und her.

Jedes Jahr kroch das Gelbfieber durch New Orleans. Jedes Jahr riefen die Stadtväter zu mehr Sauberkeit und genauerer Beobachtung der Schiffe von den westindischen Inseln auf. Jedes Jahr gab es die gleichen Forderungen nach strengerer Quarantäne, und doch suchte sich das rätselhafte Fieber immer wieder seine Opfer. Es war bekannt, dass vor allem diejenigen gefährdet waren, die neu an den Fluss kamen: Die Amerikaner, die Iren, die neuen Einwanderer aus Frankreich fielen der Krankheit als Erste zum Opfer. Diese Tatsache ließ Josie hoffen, dass sie und Louella einigermaßen sicher waren. Schließlich klagten die Leute flussaufwärts auch jedes Jahr, dass die Schiffe die Krankheit bis zu ihnen brachten, also waren selbst die Plantagen nicht vollkommen in Sicherheit.

Eines Morgens war es dann so weit: Auf dem Weg zur Küche sah Josie einen Toten in der Gosse liegen. Das gelblich verfärbte Gesicht des Mannes war blutverschmiert, und schwarzes Erbrochenes bedeckte sein Hemd. Josie bekreuzigte sich und rannte den restlichen Weg bis zur Küche. Das Gelbfieber war da, und sie machte sich Sorgen um Molly und Kathleen. Sie hatte die beiden gewarnt, nachts nicht auf die Straße zu gehen, aber sie wusste, die Mädchen gingen abends in die Kneipen, um sich als Bedienungen ein bisschen zusätzliches Geld zu verdienen. Sie würde ihnen von dem Toten erzählen und sie daran erinnern, dass sie nach Einbruch der Dunkelheit zu Hause bleiben sollten.

Die Leichenwagen begannen, in den frühen Morgenstunden durch die Straßen zu rattern. »Bringt die Toten raus!«, riefen die Männer, und die Familien öffneten die Türen und reichten ihre Lieben hinaus, eingewickelt in schmutzige Laken. Die Fahrer, meistens zahnlose, schmutzige, halb betrunkene Gesellen, warfen die Leichen auf den Wagen wie ein Stück Holz und fuhren einfach weiter.

Nachdem sie in ihrer Straße eine weitere arme Seele in der Gosse hatte liegen sehen, bevor die Leichenfahrer die Straße geräumt hatten, ging Josie eines Morgens in die Kirche statt zur Arbeit. Sie zog ein paar Münzen aus ihrer Tasche, um die Kerzen zu bezahlen, die sie unter dem Standbild der Jungfrau Maria anzündete. Dort kniete sie nieder und betete für Cleo und Gabriel. »Wo auch immer die beiden sein mögen, Mutter Maria, bitte beschütze sie vor dem Fieber.« Sie betete für Phanor, für Louella und Molly und Kathleen. Sie selbst hatte als Kind eine Infektion überstanden, sie würde das Fieber nicht wieder bekommen.

Zurück in der Küche, krempelte sie die Ärmel hoch, um das erste Pfund Äpfel zu schälen. Eine Mücke schwirrte mit dem leichten Wind durch das offene Fenster an der Theke, setzte sich auf Josies Hand und wurde verscheucht. Sie flog weiter, ein winziges und doch todbringendes Wesen, und setzte sich auf die helle, sommersprossige Haut von Kathleen, die gerade eine schwere, heiße Pfanne mit Schweinefleisch in den Händen hielt und deshalb diesen Mückenstich, nur noch einen mehr nach so vielen, geduldig ertrug.

Drei Tage später kam Kathleen nicht zur Arbeit. Zwei weitere Tage später war sie tot.

Das Herz des Südens
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