30

Josie betete innig für die Genesung ihrer Großmutter, und obwohl sich an ihrem Zustand während der nächsten drei Wochen nur wenig änderte, hielt die alte Dame immerhin durch. Dr. Benet kam, so oft er konnte, und eines Nachmittags erschien er mit einem Rollstuhl, der hinten an seiner Kutsche festgebunden war.

Gemeinsam mit Ellbogen-John schleppte er den Stuhl ins Schlafzimmer. Josie, Cleo und Laurie versammelten sich, um das neue Möbelstück zu bewundern.

»Also, jetzt geht es los, Emmeline«, sagte der Arzt. »Es tut dir nämlich nicht gut, Tag und Nacht im Bett zu liegen, wir müssen dafür sorgen, dass dein Kreislauf wieder in Schwung kommt.«

Grand-mère betrachtete das Gerät mit so grimmigem Blick, dass auch ihr gesunder Mundwinkel tief heruntergezogen war. Dann ließ sie einige gurgelnde Worte hören und fuchtelte eindringlich mit den Händen. Nicht einmal Cleo, die Grand-mère besser verstand als jeder andere, konnte alles erkennen, aber der Ton machte unmissverständlich klar, was Grand-mère meinte.

»Nein, keine Diskussion«, sagte Dr. Benet. »Cleo, du hältst die Bremse fest, John, du übernimmst die gesunde Seite, ich stütze sie auf der linken. Fertig?«

Und noch bevor Grand-mère einen weiteren Laut des Protests von sich geben konnte, hatten sie sie in den Rollstuhl gehievt. Sofort rutschte sie nach links weg.

»Wir werden sie ein wenig festbinden müssen, denke ich.«

»Natürlich.« Josie brachte schnell eine breite blaue Schärpe aus ihrem Schrank. »Wie wäre es hiermit?«

Sobald sie ihre Großmutter mit der Schärpe gesichert hatten, sagte Dr. Benet: »Emmeline, du hast wirklich viel zu lange in diesem Zimmer gelegen. Dabei wird ja der fröhlichste Mensch schwermütig. Wir werden jetzt auf der Veranda ein wenig frische Luft schnappen. Bitte, John.«

John schob den Rollstuhl, und Dr. Benet zeigte ihm und Cleo, wie man die Bremse betätigte. Josie zupfte nervös an Grand-mères Halsausschnitt herum und rückte den Baumwollschal um ihren Hals zurecht. »Hol den Fächer, Laurie«, sagte sie.

Über all diesem Tun war nun auch noch das Signal des Postschiffs zu hören, das von New Orleans kam. Ellbogen-John eilte hinunter zum Anleger, um die Posttasche zu übernehmen.

Jeden Tag wartete Josie auf das Postschiff. Seit drei Wochen hatte sie nichts von Bertrand gehört, kein einziges Wort. Er war noch nicht nach Cherleu zurückgekehrt, hatte sie von Ellbogen-John erfahren. Sie beobachtete den Fluss voller Sorge, hörte auf das Signal des Postschiffs und hatte schon beschlossen, ihm zu schreiben, wenn er nicht bald kam, auch wenn das vielleicht nicht schicklich war.

Cleo ging Ellbogen-John die Posttasche abnehmen, und Josie brachte den kleinen Klapptisch aus dem Salon, um ihn neben dem Rollstuhl aufzustellen. Als Cleo zurückkam, öffnete Josie die Posttasche und blätterte durch die Briefe von Tante Marguerite, Abigail Johnston und dem Familienanwalt in New Orleans. Selbst ein Brief von ihrer Cousine Violette war dabei.

»Oh, Grand-mère!«, sagte sie plötzlich. »Da ist er ja endlich. Ein Brief von Bertrand.« Verwirrt blickte sie noch einmal auf die Adresse. »Aber er ist nur an dich adressiert.«

Grand-mère sagte etwas und nickte. Cleo übersetzte: »Sie sagt, du sollst ihn aufmachen.«

Josie öffnete das Wachssiegel mit dem Daumennagel und öffnete den Brief. »Vierzehnter Juli 1837«, las sie laut. »Meine liebe Emmeline, ich weiß, Sie kennen die Lage in New Orleans ebenso gut wie jeder andere in Louisiana. Ich hoffe auf Ihr Verständnis, wenn auch nicht auf Ihre Zustimmung, wenn ich Ihnen mitteile, dass ich einige Opfer bringen musste, um meine Zahlungsfähigkeit zu erhalten. Es schmerzt mich, unsere Freundschaft derart zu belasten und mich Ihrer Enkelin als Gefährtin zu berauben, aber ich weiß keinen anderen Weg, um Cherleu zu retten. Ich werde …« Josie ließ den Brief sinken.

Cleo nahm ihn ihr ab und las weiter: »Ich werde Ende des Monats Abigail Johnston heiraten. Bitte versuchen Sie, es Josephine beizubringen. Ich bin zu feige, sie zu treffen. Stets der Ihre mit tiefstem Bedauern, Bertrand Chamard.«

Wie betäubt saß Josie auf ihrem Stuhl und starrte ins Leere. Dr. Benet klopfte auf seine Tasche, in der er stets ein Fläschchen Riechsalz bereithielt, denn er erwartete irgendeine Reaktion: einen Ausbruch, einen Schrei, einen Zusammenbruch, irgendetwas, nur nicht diese tödliche Stille.

Ein wenig schwankend stand Josie auf, aber sie gab immer noch keinen Laut von sich. Kaum bemerkte sie die Träne, die die Wange ihrer Großmutter herunterrollte; sie selbst weinte nicht. Mit stiller Würde verließ sie die Menschen auf der Veranda und zog sich in ihr Zimmer zurück.

In den folgenden Tagen sprach sie fast überhaupt nicht. Cleo nötigte sie, etwas zu essen, und hielt immer eine Tasse Tee für sie bereit. Dr. Benet empfahl ihr mehrere Gläser Wein vor dem Zubettgehen, aber selbst das hielt Josie nicht davon ab, nachts durch das dunkle Haus zu geistern.

Sie erfüllte ihre Pflichten, saß bei ihrer Großmutter und holte sich – mit Cleos Hilfe – Rat bei ihr, was die Anordnungen für Monsieur LeBrec anging. Ansonsten hätte sie ebenso gut ein Gespenst sein können.

Ihr Tagebuch lag unberührt. Sie vermied es, mit Cleo irgendetwas zu besprechen, was persönlicher gewesen wäre als die Frage, ob man zum Abendessen ein Huhn schlachten sollte. Ihre Kleider wurden immer weiter, ihr Gesicht war bleich, und ihre Augen lagen tief und geheimnisvoll in ihren Höhlen.

Josies gesamte Weltsicht hatte sich auf einen Schlag verändert. Ihre Tanten tratschten seit jeher mit großem Genuss über untreue Männer und Frauen, und Josie hatte die Sünden ihres Vaters mit Bibi nicht vergessen. Er hatte ein Verhältnis mit ihr gehabt, obwohl er noch mit ihrer Mutter schlief. Aber selbst die Betrogene zu sein, damit hatte sie nie gerechnet. Niemals hatte sie etwas anderes erwartet als Freude, Glück und Erfüllung mit einem Mann, der sie liebte und begehrte. Hatte er sie überhaupt geliebt? Oder hatte er nur vorgehabt, Toulouse in seine eigene Plantage einzugliedern, um seinen Grundbesitz zu verdoppeln?

Sie durchlebte jeden Augenblick noch einmal, den sie miteinander verbracht hatten, seit der Blitz damals in den Baum vor ihrem Fenster eingeschlagen hatte. Jetzt erinnerte sie sich auch, wie er im Licht des brennenden Baums sie und Cleo angesehen hatte, zwei Mädchen in ihren Nachthemden. Sie hätte damals schon begreifen müssen, dass sich ein echter Gentleman einen solchen Blick niemals erlaubt hätte.

Und doch war sie immer sicher gewesen, dass sie seine Gefühle kannte, immer wenn er sie berührt hatte, wenn er sie geküsst hatte. Überall sah sie die Farbe seiner Augen: in dem Brandy, den Dr. Benet am Abend trank, im Tee in ihrer Tasse, im glänzend polierten Mahagoni des Esstischs. Sein Lachen schien mit der Brise vom Fluss her zu ihr zu dringen. Das Kleid, das sie getragen hatte, als sie ihn zuletzt getroffen hatte, duftete noch ganz schwach nach seiner Zigarre.

Wie viele Atemzüge würde sie tun müssen, wie viele Herzschläge ertragen, bis der Schmerz endlich nachließ? Lange, einsame Jahre dehnten sich vor ihr aus. Sie sah ihre Zukunft vor sich, als verschrumpelte, vertrocknete, unfruchtbare alte Frau. Ein Leben, zu lang, um es zu ertragen.

Das Herz des Südens
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