36

New Orleans, 1839

Der Wind vom Fluss her saugte Josie alle Wärme aus den Knochen. Sie eilte durch das dämmrige Morgenlicht zu der grauen Bretterbude, die sie nicht weit vom Jackson Square gemietet hatte. Die Umgebung für ihre kleine Küche war nicht gerade vornehm, aber sie hatte auf ihrer Suche nach einem Platz für ihr Geschäft viel schlimmere Straßen gesehen. Hier bezahlten die Ladenbesitzer jedenfalls gelegentlich ein paar Arbeiter, die den Müll, den Unrat und die Tierkadaver wegschafften.

Josie musste gegen den Wind ankämpfen, um die Tür zu öffnen und hinter ihr wieder zuschlagen zu lassen. Louella hatte den gemauerten Backofen schon vorgeheizt. »Kalt heute, aber wirklich«, sagte sie. »Stell dich einen Moment hier ans Feuer, bevor du den Mantel ausziehst.«

Die Küche war vier Meter im Quadrat groß und hatte in der Wand zur Straße hin ein großes Fenster und eine eingebaute Theke. Durch die Ritzen pfiff der Wind, und solange Josie das Fenster geschlossen hielt, war es dunkel und rauchig hier drinnen. Aber sie hatte andere Läden gesehen, und inzwischen wusste sie, dass sie dankbar sein musste, einen Bretterboden zu haben – und einen Abzug, der funktionierte. Josie rieb die Hände aneinander und trank eine Tasse heißen Kaffee. Louella stand schon der Schweiß auf der Stirn, und es würde nicht lange dauern, dann würde auch Josie dankbar für jeden frischen Luftzug sein, der unter der Tür hindurch hereinblies.

Die frühmorgendlichen Kunden bevorzugten Fruchtpasteten, also machte Josie sich daran, Äpfel zu schälen. Die Mittagsgäste kauften hauptsächlich Fleischpasteten, deshalb garten sie zwei Schweineschinken an einem Spieß über dem Feuer.

Josie und Louella hatten eine wirkungsvolle Routine entwickelt. Morgens blieb Josie etwas länger in ihrem gemeinsamen gemieteten Zimmer, um die Einnahmen des vorigen Tages zu zählen und bei Kerzenlicht die Buchführung zu machen. In der Zwischenzeit ging Louella allein durch die finsteren Straßen zur Küche und brachte den Backofen und die Feuerstelle in Gang. Sie rollte die dicken Böden aus und legte die kleinen Formen mit Teig aus. Wenn Josie kam, bereitete sie die Fruchtmischung mit Zucker, Salz, Zimt und Butter vor, füllte die Formen, legte eine dünn ausgerollte Teigplatte darauf und verzierte das Ganze mit einem Stückchen Teig in Form eines Apfels. Bis der Duft der heißen Apfelpasteten den kleinen Laden erfüllte, standen schon die ersten Kunden vor dem Fenster.

Die Männer, die am Deich arbeiteten, hatten nicht lange gebraucht, um Josies Laden zu entdecken. Die Ersten erzählten ihren Freunden, dass man dort eine Tasse heißen Kaffee und eine Pastete bekommen konnte, zum Mitnehmen in Papier gewickelt und zu einem vernünftigen Preis. Und sie erzählten auch, dass es die besten Pasteten waren, die man an diesem Flussabschnitt bekommen konnte. Die Kunden bezahlten in verschiedenen Währungen, und Josie lernte schnell, in englischen Shillings und Pence ebenso herauszugeben wie in amerikanischen Half-Dimes und Bungtown Coppers oder spanischen Reales, Fips, Medios und Pistareens.

Und es dauerte nicht lange, dann warf das Geschäft Gewinn ab. Sie und Louella backten bis zur Mitte des Nachmittags so viele Pasteten, wie sie konnten, sowohl mit Fruchtfüllung als auch mit Fleisch. Dann ließen sie das Feuer ausgehen. Louella nahm die Pasteten, die sie noch nicht verkauft hatten, mit auf den Platz und verkaufte sie an die Passanten. Josie blieb in der Küche und schrubbte die Tische, die Roste, den Boden. Sie überprüfte die Vorräte für den nächsten Tag und kaufte Mehl, Speck, Obst, Zwiebeln, Knoblauch und Fleisch ein. In der Rue Boucher hatte sie inzwischen die Läden mit den besten Preisen für Schweine- und Rindfleisch ausfindig gemacht. Aber es war eine ausgesprochen unappetitliche Gegend, und sie versuchte, ihre Einkäufe so zu organisieren, dass sie das rohe und manchmal verwesende Fleisch nur zwei bis drei Mal pro Woche riechen musste.

Josie wollte vor Sonnenuntergang zurück in ihrer Pension sein, und zu dieser Jahreszeit wurde es früh dunkel. Natürlich war die Gegend, in der die Pension lag, sicherer als die Umgebung der Küche, aber nach Einbruch der Dunkelheit war es nicht gut, noch auf der Straße herumzulaufen. Außerdem war es kalt, sie war müde, und die Füße taten ihr weh. Die Kristallvasen, verzierten Lampen und Samtpolster, die sie von Toulouse kannte, fehlten ihr nicht, sie brauchte nur einen Platz zum Schlafen für Louella und sich sowie einen Tisch und Stuhl, um die Buchführung machen zu können. Wenn es Abend wurde, waren sie ohnehin beide vollkommen erschöpft. Sie fielen in die Betten und kümmerten sich nicht um nackte Wände und spärliche Möblierung.

Als Josie in die Rue Boucher einbog, blies ihr der Wind vom Fluss scharf ins Gesicht. Sie zog den Wollschal dichter um ihren Hals, und weil sie wegen des grässlichen Schmutzes auf der Straße auf ihre Füße achtete, stieß sie beinahe mit einer anderen jungen Frau zusammen, die ein dick eingepacktes Baby trug.

»Entschuldigung«, sagte Josie, und im selben Moment blickte sie in Cleos erstauntes Gesicht.

Eine Mischung aus Überraschung, Zuneigung, Misstrauen, Zorn und Schuldgefühl zeigte sich auf beiden Gesichtern.

Keine sprach ein Wort; sie versuchten nur, die Gefühle der anderen einzuschätzen und mit der verrückten Tatsache fertig zu werden, dass sie sich hier getroffen hatten, in einer Hintergasse der großen Stadt New Orleans.

Josie blickte auf das Deckenbündel auf Cleos Schulter. »Das ist ja Gabriel«, sagte sie. Cleo trat einen Schritt zurück und drückte Gabriel fester an ihre Brust. Ein Wagen mit einem Maultier davor ratterte vorbei, und einige Händler drängten sich um sie.

Cleos Misstrauen war fast zu viel für Josie. »Ich will ihn dir nicht wegnehmen«, sagte sie. »Ich will ihn nicht mal auf den Arm nehmen.«

Cleo trat noch einen Schritt zurück und ließ Josies Blick nicht los.

»Es tut mir so leid, Cleo.« Josie konnte fast nicht atmen. »Vergib mir. Bitte vergib mir, Cleo«, brachte sie noch heraus.

Cleos Augen füllten sich mit Tränen, aber Josie konnte die Angst und das Misstrauen hinter dem Tränenschleier sehen. Als Cleo noch weiter zurückwich, begann Josie zu schluchzen. »Es tut mir so leid«, sagte sie noch einmal.

»Leb wohl, Josie«, erwiderte Cleo flüsternd. Dann drehte sie sich um und war auch schon in der Menschenmenge verschwunden.

Josie lehnte sich an eine Mauer und verbarg ihr Gesicht in ihrem Schal, bis sie wieder leichter atmete. Dann wischte sie sich die Augen und bewegte sich durch die Menge, in der Cleo verschwunden war. Sie sehnte sich von ganzem Herzen nach ihrer Schwester.

Es war schon fast dunkel. Josie steckte ihr Taschentuch weg und beeilte sich, zwei Schweineschinken beim Metzger zu kaufen. Sie trug den schweren Korb im letzten Licht zurück zur Küche. Louellas Korb stand auf dem Tisch; sie würde sich wohl schon in ihrem Zimmer ausruhen. Josie legte das Fleisch in eine Blechkiste, um es vor den Ratten zu schützen, dann schloss sie die Küche hinter sich ab.

Der Mond war noch nicht aufgegangen, und die Straßen waren finster, als Josie nach Hause ging, um sich auszuruhen. Sie war zu müde und zu sehr in Gedanken verloren, um Angst zu haben. Irgendwann kam sie über den Platz, auf dem Phanor Geige gespielt hatte, damals, an jenem Sonntag. Sie dachte an die Leute, die sie damals betrachtet hatte. Wahrscheinlich waren es dieselben, die jetzt ihre Pasteten kauften. Cleo hatte gut ausgesehen. Ihr Cape war neu, und die Stiefel auch. Vermutlich hatte sie Phanor gefunden, und er hatte ihr geholfen. Phanor war ein guter Mann, wirklich.

Josie stieg die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf. Wenn sie doch nur einmal Gabriels Gesicht hätte sehen dürfen!

Louella schnarchte schon leise vor sich hin, als Josie hereinkam, sich auszog und in das kalte Bett schlüpfte. Sie stand noch einmal auf, suchte sich ein Paar Socken und legte sich wieder hin. Sie fühlte sich leer und leicht. Sie hätte immer noch gern geweint, aber immerhin hatte sie Cleo sagen können, wie leid es ihr tat. Immerhin.

Während Josie schlief, sang Cleo im Les Trois Frères. Sie trug ihr neues Kleid aus blauem Satin mit schwarzer Spitze an den Ausschnitten. Sie sang mit tiefer, einschmeichelnder Stimme, und die Gäste unterbrachen ihre Gespräche, wenn sie begann. Die Männer und Frauen an den hinteren Tischen spürten denselben warmen, zärtlichen Ton in ihrem kehligen Gesang wie die Bewunderer, die sich darum rissen, gleich vorn an der Bühne zu sitzen, um sie zu sehen.

Bertrand Chamard war allerdings der einzige Bewunderer, den sie auch ermutigte. Er kam allein, trank seinen Brandy und starrte sie unverwandt an, solange sie sang. Hinterher fuhr er mit ihr in das kleine Haus im Vieux Carré, wo Gabriel und seine Kinderfrau schon schliefen. Er blieb nie länger als eine oder zwei Stunden, und nachdem er seinen Sohn im Bettchen betrachtet hatte, küsste er Cleo noch einmal und fuhr dann nach Hause zu seiner Frau.

Chamard hatte Cleo gleich entdeckt, als er im Herbst in die Stadt gekommen war. Gemeinsam mit seiner Frau Abigail, ihrem Bruder Albany und dessen Frau Violette hatte er im Les Trois Frères zu Abend gespeist. Ein ruhiger Abend zu viert hatte es werden sollen.

Cleo hatte ihn sofort bemerkt, und ihr ganzer Körper hatte in Erinnerung an die Wärme seines Bettes gebebt. Er hatte sie einen kurzen, intensiven Augenblick lang angesehen, dann hatte er in die andere Richtung geschaut. Sie hatte nie befürchtet, dass er sie verraten könnte, und als der Club spät an diesem Abend geschlossen hatte, war sie nicht allzu überrascht gewesen, ihn vor dem Eingang vorzufinden, wo er in seinem Wagen auf sie wartete.

Sie dachte darüber nach, ob sie ihm von ihrer Begegnung mit Josie erzählen sollte. Würde er Josie helfen? Sie hatte schlecht ausgesehen. Das alte, dunkelgrüne Kleid hatte lose um ihren Körper gehangen, und auch im Gesicht war sie mager geworden. Ihr Haar spitzte unter der Haube hervor, und es war ein vollkommenes Rätsel, was sie in der Rue Boucher zu suchen hatte. Außer, sie hatte nach Cleo gesucht und vermutet, dass sie Kontakt zu Phanor aufgenommen hatte. Er war ja leicht zu finden.

Als sie sich unter der warmen Steppdecke an Chamard schmiegte, begriff Cleo, dass sie überreagiert hatte. Aber sie hatte solche Angst gehabt, Josie wollte sie zurückholen. Ein lauter Ruf, und sofort wären mehrere Weiße zur Stelle gewesen, um sie zu ergreifen.

Aber Josies Tränen waren echt gewesen. Und ihre Entschuldigung war ebenso echt.

»Ich habe heute Josie getroffen«, sagte sie.

Chamard verlagerte sein Gewicht ein wenig. »Wirklich?«

»Ja, in der Rue Boucher. Ich hatte eine Tüte mit Zitronen zu Phanor gebracht und war auf dem Heimweg, da bin ich fast in sie hineingelaufen.«

»Was macht denn Josie in der Rue Boucher?«

»Erst habe ich gedacht, sie sucht vielleicht nach mir, aber inzwischen vermute ich, sie war genauso überrascht wie ich. Sie ist sehr mager geworden, fast ein bisschen verhärmt.«

Chamard schwieg, und Cleo ließ ihm Zeit zum Nachdenken. Er nahm ihre Hand und drückte sie an seine Brust. »Ich kümmere mich darum.«

Cleo küsste ihn noch einmal, bevor er die schwere Decke zur Seite schlug.

Josies Tante Marguerite hatte Chamard seit seiner Heirat mit Abigail Johnston nicht mehr in ihr Haus eingeladen. Er konnte ihr keinen Vorwurf machen, und als sie ihn bei einer Abendveranstaltung gemeinsamer Freunde traf, war sie so kokett wie eh und je.

»Würden Sie mit mir tanzen, Madame?«

Sie verdeckte die untere Hälfte ihres Gesichts mit ihrem Fächer, wodurch ihre fröhlichen dunklen Augen noch mehr betont wurden.

»Aber mit Vergnügen«, antwortete sie.

Chamard wirbelte sie in die Menge der Tänzer, und so tanzten sie zu den herrlichen Walzerklängen durch den ganzen Saal. Er wusste genau, dass Abigail sie von ihrem Platz neben ihrer Mutter beobachtete, aber er hatte absolut keine Lust, Rücksicht auf ihre kindische Eifersucht zu nehmen. Wenn es ihm Spaß machte, würde er mit jeder einzelnen Frau hier im Saal tanzen. Abigail sollte sich entspannen, sollte selbst für ihre Unterhaltung sorgen. Es waren schließlich genug junge Männer hier, die liebend gern mit ihr tanzen würden, wenn sie ihnen nur einen kleinen Wink gegeben hätte.

Die Kapelle machte eine Pause, und Chamard begleitete Marguerite an den Tisch mit den Erfrischungen. Indem er ihr einen Teller Austern bestellte, sagte er leichthin: »Ich habe gehört, Ihre Nichte ist in der Stadt.«

»Josephine?«, fragte Marguerite. Sie vermied es, ihn anzusehen, was gar nicht ihre Art war. »Nein, soweit ich weiß, hat sie beschlossen, bei ihrer Großmutter auf Toulouse zu bleiben.«

»Ach ja, Emmeline, wie geht es ihr?«

»Nichts Neues, wenn ich die Nachrichten richtig verstehe. Josephine ist jetzt für Toulouse verantwortlich.«

»Die zwei sind sich sehr ähnlich«, bemerkte Chamard. »Starke Frauen, alle beide.«

Etwas hektischer als nötig begrüßte Marguerite ihren Freund Achille. Es war mehr als deutlich, dass sie nicht über ihre Nichte sprechen wollte. Chamard verbeugte sich leicht und kehrte in Begleitung einer eleganten Frau in cremefarbenem Satin auf die Tanzfläche zurück. Wenn Abigail den Rest des Abends mit langem Gesicht dort sitzen blieb, würde er sie irgendwann mit den Johnstons heimschicken und noch einen Abstecher zu Cleo machen, wenn sie im Les Trois Frères fertig war.

Am nächsten Morgen gab Chamard seinem Diener Valentine den Auftrag, Josephine ausfindig zu machen. Cleo würde sich freuen, und auch er wäre erst wieder ruhig, wenn er wüsste, dass es Josephine gut ging. Nach dem Erlebnis mit Marguerite, die ihm für den Rest des vergangenen Abends aus dem Weg gegangen war, hatte er das sichere Gefühl, dass etwas Seltsames im Gang war.

Valentine verfügte über ganz andere Informationsquellen als Chamard. Er begann seine Nachforschungen in der Küche auf der Rückseite von Marguerites Stadthaus. Liza, die Köchin, begrüßte ihn mit einer herzlichen Umarmung und einem verliebten Kuss. »Wo bist du die ganze Zeit gewesen, mein Süßer?«, fragte sie ihn. »Es ist ja eine Ewigkeit her, seit ich dich zuletzt gesehen habe.«

Liza kam selbst nicht sehr oft in die Wohnräume der Familie, aber sie erfuhr eine Menge durch die Haussklaven. »Du bist schon auf der richtigen Spur«, sagte sie. »Da wird ständig über diese Nichte Josephine geflüstert. Irgendwas, dass sie sich mit den einfachen Leuten gemein macht, wie eine Händlerin, und dabei ist sie doch ein Mädchen und gerade erst erwachsen. Es geht wohl um Geld, um die Banken, wenn ich das richtig verstehe«, grübelte sie weiter. »Vermutlich braucht sie einfach Geld.«

»Und weißt du, wo sie ist?«, fragte Valentine weiter.

»Ich meine, gehört zu haben, dass sie einen Laden unten am Fluss hat. Aber mehr weiß ich auch nicht.«

Die nächsten Nachmittage verbrachte Valentine damit, auf der Straße am Fluss entlangzuspazieren und nach einer feinen Dame zu suchen, die hier fehl am Platze war. Er war enttäuscht gewesen, als sein Herr diese Américaine geheiratet hatte. Mademoiselle Josephine hätte ihn niemals so herumgescheucht wie diese Madame Abigail. Valentine hier, Valentine da. Tu dies, tu das. Die Frau war zu faul, sich selbst am Kopf zu kratzen!

Von einer Sklavin am Jackson Square kaufte er eine Pastete und spazierte dann die Rue Chartres hinunter. Aber erst als er diese belebte Straße verließ und die Gassen am Deich durchforschte, wurde er fündig. Gerade verschloss Mademoiselle Josephine die Tür einer verwitterten Bretterbude und ging eilig davon, einen großen Korb am Arm. Valentine folgte ihr in einiger Entfernung, bemerkte aber bald, dass er nicht besonders vorsichtig sein musste. Sie hatte keine Ahnung, dass er sie beobachtete.

Sie kaufte auf dem Bauernmarkt ein und ging dann zu der Küche am Deich zurück, nur um bald wieder aus der Hütte zu kommen, sodass Valentine ihr folgen konnte, diesmal allem Anschein nach zu ihrer Unterkunft. Inzwischen war es beinahe dunkel geworden, und er blieb lange genug auf der Straße stehen, um zu sehen, wie sie eine Kerze im Fenster über dem Eingang entzündete.

Am folgenden Abend kam Josie gegen Sonnenuntergang zu ihrem kleinen Zimmer zurück. Louella war noch nicht da, und es war kalt und dunkel in ihrer Behausung. Sie nahm ein Streichholz, um die Kerze anzuzünden, und schüttelte ihre Schuhe ab. Die Sohlen waren sehr abgelaufen, aber sie wollte ihr schwer verdientes Geld nicht für Schuhe ausgeben. Noch nicht. Wenn der Regen ihr die Strümpfe durchnässte, würde sie sich Holzpantinen kaufen, wie sie die anderen Frauen bei der Arbeit trugen. Was solche trivialen Dinge anging, hatte sie ihren Stolz vollkommen abgelegt. Die Mädchen, die sie im Jahr zuvor kennengelernt hatte, waren ihr nie wieder begegnet, und natürlich würden sie sich nie in ihrem Laden blicken lassen. Im Übrigen, wen ging es etwas an, dass sie ihren Lebensunterhalt in Holzpantinen und einer groben Haube verdiente? Sie brauchte etwas, um sich die Haare aus dem Gesicht zu halten, wenn sie kochte, und die zarten Schühchen, die die Mode in diesem Winter vorschrieb, waren gänzlich ungeeignet für eine Frau, die den ganzen Tag auf den Beinen war. Es klopfte an der Tür. Louella hatte noch nie geklopft.

»Wer ist da?« Die Tür ging auf.

Josie saß da, einen Schuh in der Hand, und der Mund blieb ihr offen stehen. »Bertrand? Was machst du denn hier?«

»Darf ich reinkommen?«

Josie stand auf. »Was willst du von mir?«

»Ich hörte, dass du in der Stadt bist, aber auf den Partys deiner Freunde habe ich dich nicht gesehen. Da wollte ich mich vergewissern, dass es dir gut geht.«

»Ja, es geht mir gut, kein Grund zur Sorge.«

»Josephine, bitte! Du hast allen Grund, wütend auf mich zu sein, aber … ich wüsste gern, ob du Hilfe brauchst.«

»Nein.«

Chamard sah sich in dem Zimmer um. Zwei Betten, zwei Stühle, ein Tisch. Kein Teppich auf dem Boden, nur ein schäbiger Vorhang vor dem Fenster. Im Herd ein paar Kohlen, sonst nichts.

»Mit wem wohnst du hier?«

»Was geht dich das an?«

»Bitte, Josephine. Was tust du hier?«

Sie hob ihr Kinn. »Ich verdiene Geld. Ist das nicht genau das, was in dieser Welt zählt? Geld?«

Er überhörte den Angriff. »Auf welche Weise verdienst du dein Geld?«

»Mit meiner Hände Arbeit. Ich habe eine Garküche. Wir machen Pasteten und verkaufen sie.«

Chamard ließ sich auf einem der beiden harten Stühle nieder. Den Hut hielt er zwischen den Knien fest.

»Und du machst wirklich Gewinn? So richtig?«

»Mehr, als ich selbst gehofft hatte. Du siehst also, es gibt wirklich keinen Grund zur Sorge. Du kannst jetzt guten Gewissens gehen.«

Chamard betrachtete sie im Kerzenlicht. Auf ihrem Kleid war quer über die eine Brust ein Streifen Mehl zu sehen, und ihr Haar war zerzaust, weil sie gerade erst die weiße Haube abgenommen hatte. »Du bist eine schöne Frau, Josie. Nicht nur ein hübsches Mädchen. Und du bist zäh, genau wie deine Großmutter.«

Josie hielt ihm die Tür auf. »Ich möchte, dass du gehst, Bertrand. Ich will dich hier nicht haben, und ich brauche dich nicht.« Würde er sich entschuldigen? Würde er sagen, dass es ihm leidtat? Dass es ihm leidtat, ihr Herz gebrochen zu haben? Dass es ihm leidtat, sie wegen des Geldes verlassen zu haben?

Bertrand erhob sich und setzte seinen Hut auf. »Ich habe einen schlechten Tausch gemacht, Josephine. Ich wäre besser dran, wenn ich dich nicht verloren hätte.«

Josie schloss die Tür hinter ihm. Es ist wahr, dachte sie. Ich brauche ihn nicht. Ich brauche überhaupt niemanden.

Das Herz des Südens
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