VIERUNDDREISSIG

Drei Wochen später sitzen wir im Flieger nach Newark. Mona hat darauf bestanden, dieselbe Maschine zu buchen wie ich. Sie war von der Idee, New York im Indian Summer zu besuchen, nicht abzubringen. Nicht einmal durch die Information, daß der Indian Summer erst im Oktober beginnt. Sie ist glänzender Laune, als wir uns vor der Immigration trennen, sie sich zur europäischen Schlange gesellt, ich mich in die für residents einreihe. Draußen herrscht strahlendes Wetter und laue, noch sommerlich warme Luft. Ich fühle mich unwohl. Vermutlich ist es wieder mein verdammtes Stoffwechselproblem, das sich in einigen Tagen geben wird. Ein flüchtiger Schatten, eine Art zeitverzögertes Bild streift durch meinen Kopf. Ich frage mich einmal mehr, an welcher Stelle ich eine Weiche falsch gestellt habe. Aber ich sehe nicht, wie ich einen Augenblick des vergangenen Jahres so hätte beeinflussen können, daß … Als Bob unerwartet am Ankunftsterminal steht, erwähne ich nicht, daß ich eigentlich vorhatte, bei Gabriel auf der Upper West Side zu wohnen. Er begrüßt Mona herzlich, die sich vor Freude über die Gelegenheit, jemanden aus meiner Familie kennenzulernen, gar nicht zu fassen weiß.

»Deine Freundin wohnt natürlich auch bei uns. Es ist Platz genug.«

»Aber das Hotel?«

»Wir werden es stornieren. Sofort. Wie ist die Nummer?« Der gute Bob hat bereits sein Mobile am Ohr.

Mona ist entzückt von Brooklyn Heights. Sie kann es kaum glauben, als sie zum ersten Mal von Rosies Nordbalkon aus die Skyline von Manhattan sieht.

»Das ist wie im Film.«

Rosie findet es nicht wie im Film. Sie sieht Mona an. Dann mich. Sagt aber nichts. Nachdem wir unser Gepäck auf die Zimmer gebracht haben, reicht Bob den Kaffee im Garten. Ich stelle die Lederkassette wortlos auf den Tisch. Rosie starrt auf das Kästchen, als hätte ich ihre Gedärme auf einem Silbertablett serviert. Unvorstellbar, daß die Frau vor mir irgend etwas mit dem pummeligen Mädchen zu tun hat, an das die Briefe in der Kassette gerichtet sind, mit der Frau, die in jener Nacht in Langenfeld an mein Bett kam … Rosies Haut ist glatt, ihre Figur makellos, ihre Haare von einer milchigen Farbe, die ich nie zuvor an ihr gesehen habe. Nirgendwo kann sich meine Erinnerung einhaken. Rosie scheint ohne Alter. Unantastbar. Nach einer höflichen halben Stunde, in der sie hauptsächlich mit Mona spricht, tut sie kund, sie würde sich kurz zurückziehen, um sich umzukleiden. Gleich käme der Wagen. Für später sei ein Tisch bei Le Cirque bestellt. Es sei doch eine nette Idee, erst ein bißchen herumzufahren, damit Mona die Stadt kennenlernt, danach zu essen und später in der Bar des Peninsula eine Flasche Champagner auf meinen Geburtstag zu trinken.

Ich dusche, ziehe mich um und gehe in den Garten zurück. Das Lederkästchen ist weg. Um mir die Zeit zu vertreiben, bis die anderen fertig sind, gehe ich über den Rasen und schaue mir Bobs neue Pflanzungen an. Als ich mich umdrehe, steht Rosie auf der Gartentreppe. Es sind ihre Worte, kühl und selbstüberzeugt, die mich plötzlich erkennen lassen, wer auf Davids Mutter geschossen hat.

»Was meinst du, hätte ich tun sollen, Mr. Selbstgerecht? Erst meine Eltern erschießen und dann mich, weil ich in einem Land geboren bin, das Dreck am Stecken hat? Du bist Amerikaner. Mehr konnte ich nicht für dich tun.«

Sie dreht sich um und ruft nach Bob. Erst meine Eltern erschießen und dann mich … Es war David, der auf Miriam Perlensamt geschossen hat, nicht sein Vater. Er hatte »seine Eltern« hinrichten wollen. Das war es, was Edwige kein Unglück nannte. Mona steht in der Gartentür.

»Was ist mit dir, kommst du? Deine Eltern warten auf uns. Was hast du, Martini?«

»David … Mir ist gerade klar geworden …«

»Komm jetzt. Vergiß ihn endlich. Er ist ein Psychopath. Ich freue mich so auf den Abend in der Stadt.«

Der Wagen gleitet im zähen Verkehr eines New Yorker Nachmittags über die Brooklyn Bridge, die Park Row und den unteren Broadway. Wall Street. City Hall. Trinity Church. Während Rosie Mona das Viertel erklärt, kneife ich die Lider zusammen und versuche, alles mit fremden Augen zu sehen. Rosie nennt Namen, Daten, Zahlen, wie bei einer Stadtrundfahrt. Sie beantwortet jede Frage. Sie tut es auf Deutsch. Ich habe Rosie Jahrzehnte nicht mehr Deutsch sprechen hören. Es klingt etwas holprig. Sie ist freundlich zu Mona. Entgegenkommend. Nicht zu mir.

»Ich habe seit Jahren meine Praxis Upper East. Dort ist es weiß und elegant. Aber diese Gegend hier ist wirklich besonders. Obwohl sie sich so verändert hat durch die Skyscraper, die immer höher werden, ist sie im Kern geblieben, was sie war. Sie ist der Puls von Gotham City.«

»Gotham City?«

»Manhattan. Nichts wird daran etwas ändern.«

Mona sieht mich an. Vielleicht wundert sie sich über Rosies Tonfall, aus dem so etwas wie Trotz herauszuhören ist.

»Nichts wird dieser Stadt je etwas anhaben können.«

Bilde ich mir das ein, daß ihre Stimme vibriert?

Rosie sagt dem Fahrer, daß er einen anderen Weg einschlagen soll. Wir verlassen die engen Straßen mit den kleinen holländischen Häusern und fahren in Richtung Fluß.

»Die ersten Emigranten fingen in dieser Gegend an. Handel. Mit allem. Bodensatz. Es ist das Viertel der Wirtschaftsleute. Auch ich habe hier angefangen. Ich überlege seit längerem, ob ich wieder hierher zurückkehren soll. Eine neue Klientel ist herangewachsen, die hier unten angesiedelt ist. Ich sollte mich bald umschauen. Am besten morgen schon.«

Sie spricht nicht mehr zu Mona. Sie spricht zu sich. Als sei sie allein auf der Welt.

»Wenn man sich entschieden hat, sollte man Dinge nicht aufschieben. Es ist wichtig, sich eine klare Richtung zu geben, sonst erreicht man nichts.«

»Wer ist Ihre Klientel?«

»Als ich anfing, betreute ich einen eher privaten Kundenstamm. Heute sind es in erster Linie Geschäftsleute. Und immer mehr Damen und Herren aus der Politik.«

»Sie sind Ärztin?«

Mona, wenn du wüßtest! Ich warte gespannt auf Rosies Antwort. Noch nie habe ich sie sagen hören, was sie tut.

»Ich coache. Eine moderne Art von Lebens- und Berufsberatung, verstehen Sie? Ich stelle eine Diagnose und entwickle im Anschluß daran einen Optimierungsplan. Schlicht gesagt: Ich zeige den Leuten, was in ihnen steckt und wie sie das Beste aus sich herausholen können – zum richtigen Zeitpunkt und mit dem angemessenen Einsatz von Energie. Ein Rechenexempel.«

Mona strahlt. »Aha, dann haben Sie wohl Ökonomie studiert. Leute aus der Politik? Wie interessant. Sie dürfen natürlich keine Namen nennen.«

»Natürlich nicht.«

Mona reckt ihren Hals aus dem Auto. Als sie den Kopf wieder einzieht, ist ihr anzumerken, wie beeindruckt sie ist.

»Ich meine, das alles schon einmal gesehen zu haben, obwohl ich noch nie hier gewesen bin.«

»Wahrscheinlich kennen Sie es aus Filmen. In Deutschland kennt man New York immer aus Filmen.«

Erstaunlich. Woher weiß sie das nun wieder? Wenn ich nicht irre, liegt ihr letzter Aufenthalt in Deutschland mehr als vierzig Jahre zurück.

»Faszinierend. Diese Betriebsamkeit. Die engen vollen Strassen. Dagegen ist Berlin ein verschlafenes Nest.«

»Es ist eine halbe Stunde nach Börsenschluß. Tagsüber ist es hier so still, daß man einen Cent fallen hört.«

»Es ist bestimmt eine gute Entscheidung, hier eine neue Praxis zu eröffnen, Mrs. Saunders. Dann brauchen Ihre Klienten in Zukunft nur über die Straße zu gehen, um Sie zu konsultieren.«

Mona hat keinen blassen Schimmer, worum es Rosie geht. Sie weiß nicht, wie ernst es meiner Mutter ist. Als ich Rosie ansehe, zieht ein Lächeln über ihr Gesicht. Zu sanft für ihre Gedanken.

»In Zukunft … ja, ja die Zukunft. Eine gute Idee. Das steht in den Sternen.«