VIERUNDZWANZIG

Ich brauche Bewegung. Ich gehe zu Fuß hinunter in die Stadt. Seit ich in Brüssel bin, verlasse ich Haus und Garten kaum. Ein fast menschenloses Dasein von Tag zu Tag, herausgerissen aus jedem Zusammenhang. Ich habe Rosie seit Wochen nicht mehr angerufen. Ich weiß nicht, ob sie mich vermißt. Ich weiß ohnehin wenig über Rosie. Sie hat ihre Vergangenheit ausgelöscht. Sie hat noch ein paar Versuche unternommen, ihre Eltern in Langenfeld zu besuchen. Aber jedes Mal wurde die schmale, zähe Person krank. Allergische Reaktionen gegen Birkenpollen und gekochten Heilbutt traten auf, beim Trinken heißer Milch entging sie nur mit Mühe dem Erstickungstod. Sie konnte keine weißen T-Shirts vertragen und fing plötzlich an zu husten, wenn Schneewittchen, der dreizehn Jahre alte Perserkater, vom Garten hereinkam, wie er das seit dreizehn Jahren täglich tat. Als der erste Schnee kurz vor Weihnachten einen asthmatischen Anfall bei ihr hervorrief, sprach die behandelnde Ärztin ein Machtwort. Sie entzog Rosie die Medikamente und befahl ihr, in den nächsten sechs Monaten keine Reisen zu unternehmen, die weiter reichen würden als Midtown Manhattan. Der dubiose Überlebenskampf hatte ein Ende. In all der Zeit war von meinem Vater nie die Rede gewesen.

Wir wohnten nun in Park Slope. Aber Rosie schielte schon nach Brooklyn Heights. Zwischendurch sah es so aus, als hätte Bob beruflich Erfolg. Aber so war es nicht. Es war Rosie, die großen Erfolg gehabt hatte. Niemand wußte, womit. Wir waren von der ärmlichen Humboldt Street in Williamsburg nach Park Slope gezogen, lange bevor die Gegend wegen des berühmten Schriftstellers Paul Auster durch die Gazetten ging.

Ende der Sechzigerjahre war das kein angesagtes Viertel, aber besser als die Humboldt Street. Es war Rosies erstes eigenes Haus. Typisch amerikanisch in der Besessenheit umzuziehen, war dieses Haus nur die erste Adresse in einer langen Reihe von Häusern, die immer größer wurden, in immer besseren Gegenden lagen. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob die Promenade Rosies letzte Adresse ist. Ich bin gespannt, ob meine Mutter sich den Triumph noch gönnt, es bis nach Manhattan geschafft zu haben. Vielleicht ein eigenes Townhouse auf der Upper East Side. Ich weiß nicht genau, wann sie mit ihrem »Geschäft« begann, das diese Umzüge möglich machte. Ich kam überhaupt nur durch einen Zufall darauf, was Rosie tat.

Es gibt nicht viele Frauen der ersten Einwanderergeneration, die es weit gebracht haben. Viele schuften bis zu ihrem Lebensende, in mehr als einem Job, der oft kein Beruf gewesen ist. Nicht wenige gehen wieder in ihr Herkunftsland zurück, verschämt, gescheitert. Manche kommen immerhin gut zurecht, erarbeiten sich ein eigenes Haus in irgendeiner Vorstadt. Rosie war anders. Möglicherweise hatte meine Mutter nur auf einen Absprung gewartet, und die Schwangerschaft lieferte ihr den Vorwand dafür.

In der Zeit, als ich hinter ihr Geheimnis kam, traf ich mich ab und zu mit einem anderen Stipendiaten aus meinem Jahrgang, der auch aus bescheidenen New Yorker Verhältnissen stammte. An einem Samstagabend waren wir in irgendeiner Spelunke in SoHo verabredet gewesen. Ende der siebziger Jahre war es schick, sich in solchen Bars zu treffen. Das war noch, bevor die Lagerhäuser der Gegend von Künstlern und Galeristen vereinnahmt wurden. Ich war zu früh und trieb mich zwischen Prince und Canal Street herum. Da sah ich eine Frau um eine Ecke biegen. Sie ging die Wooster Street entlang. Die Haltung, der Gang – ich fühlte mich an jemanden erinnert. Ich folgte der unbekannten Frau mit dem blonden ondulierten Haar und der Jackie Kennedy-Sonnenbrille. Vor dem Haus Nummer 67 blieb sie stehen. Im Eingang saß eine Bettlerin. Die Frau sprach sie an.

»Wie geht es, Estelle?«

Das war Rosies Stimme. Aber mit der blonden Perücke hätte ich sie nicht einmal von der Seite wiedererkannt.

»Danke, danke, Mrs. Bride, das Wetter ist trocken. Ich kann nicht klagen. Haben Sie viele Termine?«

»Wie es scheint, den ganzen Abend.«

»Ich werde mir die Leute ansehen, verlassen Sie sich drauf.«

Rosie öffnete die Eingangstür und verschwand mit dem Aufzug in irgendeines der Geschosse. An der Innenseite des Eingangs waren die Firmenschilder angebracht. Auch das von Adelaide Bride. Kartna – Astrologie. Sprechstunden nur nach Vereinbarung. Ich verlor über die Geschichte kein Wort. Ungefähr zwei Jahre später, kurz vor meinem Examen – Rosie und Bob wohnten immer noch in Park Slope, aber in einem anderen Haus – saß ich mit einem Kommilitonen im University Club auf der Fifth Avenue. John-John erzählte mir von seiner durchgeknallten europäischen Tante Ruth, die regelmäßig aus Paris angereist käme. Dieses Mal nicht, wie in den Fünfzigerjahren, um sich einer Psychoanalyse zu unterziehen. Es gäbe jetzt etwas Neues auf dem Markt. In Europa sei das noch nicht angekommen. Es nenne sich Karma-Astrologie.

»Tantchen versucht nach den letzten Verwandten zu fischen, die in den Pranken der Nazis umgekommen sind. Es ist schon eine Sauerei: In den Fünfzigern verdienten sich die shrinks eine goldene Nase an uns, heute ernähren wir eine neue Spezies von Spekulanten, für die es vor einem halben Jahr noch nicht einmal einen Namen gab. Diese Quacksalberinnen sollten Abgaben in einen Wiedergutmachungsfond zahlen.«

»Ist sie reich?«

»Ich weiß es nicht, aber sie hat ihre Praxis auf der Upper East, irgendwo auf der 63. oder 64. Straße zwischen Madison und Fifth. Sie soll einen Sohn haben, der bei uns studiert. Sie heißt Adelaide Bride.«

»Ich meine nicht die Astrologin. Ich meine deine Tante.«

»Oh, wenn Adelaide es gut macht, hat sie ausgesorgt mit Tantchen, da kannst du sicher sein. Ich sagte ihr, wir hätten keinen Typen namens Bride in unserem Jahrgang.«

»Und was macht sie mit den Leuten?«

»Ich habe keine Ahnung. Aber Tante Ruth kommt nun schon das dritte Mal. Ich glaube, Mrs. Bride errechnet irgendwelche Daten, die Sterne am Himmel, das nächste Donnerwetter, was weiß denn ich. Dann findet sie heraus, wie oft du bereits geboren worden bist, erklärt dir das Alter deiner Seele und welche Aufgabe du in dem dritten oder vierten und weiß der Geier wievielten Leben hast. Schließlich sagt sie solche Sachen wie Meine Liebe, Sie dürfen nie mehr von einem Menschen erwarten, als er geben kann, und dafür kassiert sie dann ab. In Indien würde man damit vielleicht als Halbgöttin verehrt, in Europa wohl eher als Hexe verbrannt.« John-John lachte sich halb tot. »Ich wünschte, uns Kerlen stünde diese Halbwelt offen. Damit machst du einfacher Kohle als an der Wallstreet, vor allem ist es ein sicheres Geschäft. Ohne Volatilität. Angst haben die Leute immer.«

An einem späten Nachmittag im November begann ich auf der Upper East Side nach einem Haus zu suchen, an dem ein ähnliches Schild angebracht war wie in S0H0. Auf der Südseite der 65. Straße, zwischen Madison und Fifth Avenue, fand ich ein schmales weißgestrichenes Stadthaus. A.B. Karma-Astrologie. Sprechstunden nur nach Vereinbarung stand auf dem Messingschild. Gegenüber gab es eine Trattoria. Ich setzte mich ans Fenster, bestellte und beobachtete den Eingang gegenüber. Bis zum frühen Abend geschah nichts. Ich zahlte und verließ enttäuscht das Restaurant. Auf der Straße stehend, überlegte ich kurz, ob ich einfach klingeln sollte. Ich verwarf die Idee sofort wieder. Ich wollte Rosies Geheimnis nicht zerstören. In dem Augenblick, als ich mich in Richtung Central Park wandte, fuhr eine Limousine vor. Eine Frau mit grau-violettem Haar stieg aus. Sie trug, wie die Adelaide Bride einige Jahre zuvor, eine große schwarze Sonnenbrille. Mit einigen Tüten von Saks, Bergdorf und Bendell’s an der Hand ging sie auf das Haus zu und schloß auf.

Wenige Monate später zogen Bob und Rosie von Park Slope nach Brooklyn Heights in ein wunderschönes Haus an der Promenade mit Blick auf Süd-Manhattan. Jeder Wolkenkratzer war von hier aus besser zu sehen als in der Stadt, das Chrysler, das Empire, in der Ferne die AT&T Gebäude und der Trump Tower, alle bei weitem vom World Trade Center überragt. Um all das habe ich mich lange Zeit nicht mehr gekümmert. Ich verhalte mich Rosie gegenüber, wie sie sich ihren Eltern gegenüber verhalten hat. Dabei liebe ich New York. Es ist mein Zuhause. Nie wird eine andere Stadt an sie heranreichen. Gern hätte ich sie David gezeigt.

Ich entscheide mich für ein Restaurant an der Place du Grand Sablón. In dem Augenblick, als ich es betreten will, sehe ich David die Straße hinunterschlendern. Eine Halluzination. So weit also bin ich schon, daß sich meine Wahrnehmung verwirrt. Der Mann überquert den Platz in Richtung Rue Allard. Er dreht sich nicht um. Ich folge ihm, als hinge ich an einer Schnur. Mein Herz beginnt heftig zu pochen. Mir war nicht klar, wie sehr ich David vermißt habe. Der Mann klingelt bei einer Galerie. Eine junge Dame im Fond steht von ihrem Schreibtisch auf und öffnet ihm. Sie begrüßen sich herzlich, lachen. Er dreht sich um. Es ist David. Ich habe keine Halluzination. Er wirft nicht einmal einen Blick auf die Kunst, sondern folgt der jungen Frau in die Tiefe des Raums. Sie nimmt den Hörer, beginnt zu telephonieren, nickt ihm zu. Er lächelt, nickt zurück, blättert in einer Zeitschrift, dann fährt er sich mit dieser typischen Geste durchs Haar. Ich meine, sein Eau de Toilette riechen zu können. Ich könnte hier einfach warten, sehen, was passiert. Ich könnte mir ein Taxi nach Hause nehmen und Madame damit beauftragen, die restlichen Papiere zu verbrennen. Ich könnte Mona anrufen und ihr erzählen, was ich gerade gesehen habe. Ich tue von all dem nichts.