DREIZEHN

David hatte plötzlich das Besteck hingelegt. Jener Eifer, den ich für besänftigt gehalten hatte (inzwischen kannte ich Davids emotionales Auf und Ab), stellte sich übergangslos wieder ein. David begann erneut zu reden, als ginge es um seinen Kopf.

»Du mußt dir vorstellen, daß Großvater eigentlich eher Künstler war als Diplomat. Er besuchte die Akademie und hat früher gemalt. In seinem Herzen war er wohl mindestens so sehr Franzose wie Deutscher. Er hat sich schon früh für die deutsch-französische Verständigung eingesetzt. Ich glaube, er war besessen von dieser Idee. Sein Glück oder Unglück war, daß er nicht zur Garde der alten Diplomaten gehörte. Hitler, der nur Deutsch sprach, fürchtete sich vor dem internationalen Parkett. Außerdem sind die Leute aus dem Auswärtigen Amt damals tatsächlich ein arroganter Haufen gewesen. Viele von ihnen hielten sich zugute, gegen Hitler gewesen zu sein. Allerdings handelte es sich dabei eher um Standesdünkel als um Widerstand. Für dich ist es vielleicht nicht vorstellbar, daß es damals in Deutschland noch ein hierarchisches Denken gab. Ribbentrop und mein Großvater brachten dazu noch eine virtuose Fremdsprachigkeit mit. Das machte sie in Hitlers Augen interessant.«

David sprach hitzig. Ungereimtheiten häuften sich. Er merkte nichts davon. Nachdem er erzählt hatte, daß sein Großvater zehn der zwanzig Jahre hinter Gittern verbrachte, erwähnte er plötzlich, er hätte seinen Großvater kaum noch gekannt. Aber wie, wenn der in Frankreich im Gefängnis saß, hätte David ihn überhaupt kennen können? Er erwähnte mit keinem Wort, wann er ihn das letzte Mal gesehen hatte. Er betonte, dass er das meiste, was er über ihn wüßte, aus Erzählungen, vor allem aber aus Büchern hätte. In großen Zügen stimmte, was David sagte, mit dem überein, was ich später über Abetz las. Aber Persönlicheres als das schien David nicht zu wissen.

»Es ist sicher nicht leicht für dich, nachzuvollziehen, was ich meine. Dort, wo du herkommst, gibt es ja keinen Grund, nicht unbefangen über die Vergangenheit zu reden.«

In mir zog sich etwas zusammen. Ich sah Photos aufblitzen vor meinem inneren Auge, Reportagen, die jeder kennt. Vietnam, ein anderes Wort für Wahn. Abbildungen, bunt und schwarz-weiß, manchmal pathetisch orchestriert, als würde das Grauen sich anders nicht vermitteln. David merkte nichts von meiner Befremdung. Er sprach einfach weiter, vollkommen auf seine Geschichte fixiert. Die Zeit schien für ihn stillzustehen.

»… wahrscheinlich bist du mit deinen Eltern oder Großeltern in die Normandie gereist, an die Küste der großen Invasion. Statt beschämt zu schweigen, habt ihr eure gefallenen Helden gefeiert.«

»David, meine Mutter stammt aus Deutschland. Ich habe keine Verwandten, zumindest keine, die ich kenne, die gegen die Nazis gekämpft haben.«

»Wir Nachkommen der Nazis sind mit Schweigen aufgewachsen. Schweigen, das in der Generation meines Großvaters begann, in der Generation der Täter. Aber die Opfer, heißt es, schwiegen auch. Und unsere Eltern, die Kinder der Täter und der Opfer schwiegen weiter, nicht alle vielleicht, aber die meisten. Wenn ich meinen Vater nach Großvater fragte, sah er mich an, als hätte ich keinen gehabt. Mein Vater benahm sich, als sei er vom Himmel gefallen.«

Vom Himmel gefallen. Na, gut, warum denn nicht? Auch ich war vom Himmel gefallen. Was war daran nicht in Ordnung? War es so wichtig, zu wissen, wer der Großvater, wer der Vater war?

Als David begonnen hatte, bewußt unter der Situation zu leiden, war ihm nicht klar, daß sein Vater noch mehr gelitten haben mußte. Er hatte nicht gewußt, daß da etwas war. Tatsächlich war er es, der aus den Wolken fiel, nicht sein Vater. Er hielt seinen Vater für feige, warf ihm vor, ihn über seine Herkunft und den Namen belogen zu haben. Erst später begriff er, daß sein Vater unter Taten litt, die er nicht begangen hatte. Warum sonst hätte dieser Mann den Namen der Familie aus der Familie verbannt? Die Erfindung, der Kauf einer alten Firma, die sein Patent produzieren sollte, war gleichermaßen gesellschaftliches wie privates wie geschäftliches Kalkül. Für Alfred Perlensamt war es immer selbstverständlich gewesen, daß er nie unter seinem wirklichen Namen firmieren wollte. Seine chemische Erfindung war auch die Erfindung einer neuen Familie. David war die ersten Jahre seines Lebens in dem guten Glauben aufgewachsen, daß alles seine Richtigkeit habe. Dann, eines Tages, er erinnerte sich, als sei es gestern gewesen, sei die Blase, die ihn wie eine zweite Gebärmutter umgab, geplatzt. Er hatte im Internat seine erste französische Klausur zurückbekommen, ein Volltreffer mit der Note sechs.

»Perlensamt, oder sollte ich besser sagen: Abetz, Sie sind ein Schwindler, ein Blender«, hatte der Französischlehrer Bernstein die Arbeit kommentiert. »Sie gehören zu den Individuen, bei denen man sich automatisch fragt, ob sie eine zweite Chance verdienen. Sie teilen offenbar die Sprachbegabung Ihres Großvaters nicht. Wollen wir hoffen, daß Sie auch nicht seine Weltanschauung teilen. Zwangsarbeit gibt’s zwar heute nicht mehr, aber der deutsche Staat hat inzwischen andere Möglichkeiten, mit Leuten Ihrer Sorte fertig zu werden.«

Abetz? Wer war das? David hatte rein gar nichts verstanden. Ein fast fehlerfreier Aufsatz hatte ihm einen erschütternden Tadel eingebracht. Und was hatte die Behauptung, er hieße ganz anders, zu bedeuten?

Er rief zu Hause an. Seine Mutter besuchte ihre Schwester in Afrika. Sein Vater war auf Geschäftsreise in Moskau. David war mit den rätselhaften Anschuldigungen allein. Niemand hatte ihm gesagt, daß er seinem Großvater wie aus dem Gesicht geschnitten war. Er verstand nicht, wieso der Französischlehrer mehr über ihn wußte als er selbst. Erst recht ahnte er nicht, was sich hinter dem deutschen Namen Bernstein verbarg oder überhaupt verbergen konnte. Seine Eltern hatten kein Wort verloren über eine dunkle Geschichte. Wie hätte er Aufklärung über ein Familiengeheimnis erbitten sollen, von dem er gar nicht wußte, daß es existierte? Der Sturz aus der himmlischen Fiktion, die von der Sonne einer bürgerlichen Wirklichkeit beschienen wurde, war erst der Anfang. Im Internat lernte Perlensamt, ein Abetz zu sein. Man unterrichtete ihn in seiner Schuld. Bald sollte er alles über Abetz wissen, was Herr Bernstein für nötig befand. Er lernte von einem Fremden, wer sein Großvater gewesen war und was er verbrochen hatte. Herr Bernstein hatte sich mit allen Abetz vertraut gemacht, die er hatte finden können. So war er bei Perlensamts gelandet. Aus gutem Grund. Hitlers Botschafter hatte ihm alles genommen: Familie, Vermögen, Elternhaus, Heimat, Reputation. Bernstein wußte, daß er nichts davon nachweisen konnte. Gerade das war das Banner, das er über allem hielt. Die totale Vernichtung von Wurzeln und Stamm. Seine Großeltern vermutete man verschollen in Theresienstadt. Die Kunstsammlung seiner Tante Elisabetha, die an der Pariser Place de Furstenberg beheimatet gewesen war, galt als in alle Winde verstreut. Das elsässische Familienhaus hatten die einheimischen Nazis dem Erdboden gleich gemacht. Unter all dem stand eine Unterschrift: Otto Abetz. Und Bernstein war der letzte, einzige Bernstein, den es noch gab. Er hatte überlebt durch eine geheime Odyssee quer durch Deutschland. Ein Kindertransport nach London hatte ihn in letzter Minute gerettet. Er hatte nichts mehr außer seinem Schmerz und seinem Zorn. Nun hatte er David durch einen Zufall gefunden. Zufall? Die Güte der Zeit hatte ihm dieses Kleinod in die Hände gespült. Welch ein Akt der Gnade, daß er David quälen konnte. Die Angst, die er den Jungen fühlen ließ, die Bedrückung, die Ausweglosigkeit, da niemand sich an seine Seite stellte, war Bernsteins Angst gewesen. Davids verzweifelte Tränen im Internat waren Bernsteins Tränen im Londoner Exil. Wie David nun allein war ohne die Unterstützung der fernen Eltern, ausgeliefert fremder Willkür, so war auch Bernstein ausgeliefert gewesen. Bernstein ließ ihn um fünf statt um halb sieben aufstehen. Er ließ ihn seine Schuhe und den Boden seiner Dienstwohnung putzen. Wenn David fertig war, verschüttete der Lehrer mit Absicht seinen Kaffee und ließ den Jungen von vorne anfangen. Er stellte ihn vor der Klasse bloß. Bernstein liest laut vor, wessen Davids Großvater angeklagt und für schuldig befunden worden ist. Er fängt mit den schönen Gesten der Verständigung an, Frankreich, Deutschland, Jugendaustausch, Konzert und Bildende Kunst. Na, Perlensamt, ha, Abetz, meine ich, was hängt denn bei Ihnen zu Hause noch so rum? Er wirft Abbildungen mit einem Epidiaskop an die Wand, so daß sich die Mitschüler ein Bild von den Bildern machen können, hauptsächlich französische Realisten, erfahren die Kinder in dieser Französischklasse, die fast zu einer kunsthistorischen Vorlesung wird. In der nächsten Stunde kommen wir zum Schmuck, den geraubten Juwelen. Mit denen behängten die Nazis, diese Stinktiere, die Kartoffelkäfer, die fetten Hälse und speckigen Wurstfinger ihrer Weiber und Mätressen. David schwindelt der Kopf. Er sieht seine Mutter Miriam nie mit Schmuck. Er kann nichts dazu sagen. Er ist zwölf Jahre alt. Er interessiert sich nicht für Juwelen. Die großen Toiletten seiner Mutter sind ihm im Weg. Sie verhindern die Nähe. An mehr erinnert er sich nicht. Er soll wohlerzogen sein, gut lernen, die Firma des Vaters übernehmen. David redete sich so ins Fieber, daß ihm gar nicht auffiel, wie sehr er sich widersprach. Nun war nicht mehr von der großen Intimität zwischen ihm und seiner Mutter die Rede. Als sie sich nach einigen Wochen endlich meldete, hatte sich längst auch der letzte Freund von dem ohnehin schüchternen Jungen abgewendet. Er erzählte ihr, was vorgefallen war, und sie vertröstete ihn. Eine weitere Woche verging, dann ließ Alfred Perlensamt seinem Sohn durch seine Frau ausrichten, wenn er wolle, könne er zurückkommen nach Berlin oder sich ein neues Internat aussuchen.

»Mein Gott, sie waren wirklich so – teilnahmslos?«

David zuckte mit den Achseln. »Sie hatten ja ein Einsehen. Ich mußte nicht bleiben. Aber andererseits wollten sie auch nichts damit zu tun haben. Sie sagten, ich solle so tun, als ob nichts gewesen sei, und den Leuten keine Angriffsfläche bieten. Sie waren davon überzeugt, daß es richtig war, die Spuren zu verwischen. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob meine Mutter wußte, wen sie geheiratet hatte. Vielleicht hat mein Vater es ihr erst nach der Hochzeit gesagt. Wenn es so war, dann machte sie sich jedenfalls nicht viel daraus. Und wenn ich meinem Großvater nicht so verdammt ähnlich gesehen hätte, nicht auf diesen Bernstein gestoßen wäre, wäre der Schwindel vielleicht nie aufgeflogen.«

»Aber die Presse – sie ist nicht drauf gekommen, nicht wahr? Ich meine jetzt, im Zusammenhang mit, mit dem …«

»… der Verzweiflungstat?«

»Ja, es hat nirgendwo gestanden. Jedenfalls habe ich nichts gelesen davon.«

»Mein Großvater war kein Ribbentrop. Sein Gesicht ist kein öffentliches gewesen, keines, das Seiten füllend durch die Presse ging. Ich selbst habe nur ein einziges Photo von ihm gesehen – in einem Buch. Die Aufnahme wurde aus großer Entfernung gemacht. Ein Mann in Nazi-Uniform, langem schwarzen Mantel mit weißem Revers, kommt eine Freitreppe hinab. Niemand hätte ihn darauf erkannt. Es brauchte schon eine konkrete Person, die sich aus persönlichen Gründen kundig machte, um Verbindungen herzustellen und Ähnlichkeiten zu entdecken. Es brauchte Bernstein. Ich dachte lange, daß es reiner Zufall gewesen sei. Heute bin ich mir sicher, daß das die Antwort des Schicksals war.«

»Du spinnst. Du steigerst dich da in was rein. Warum machst du nicht Schluß mit diesem Unsinn? Die ganze Geschichte ist die fixe Idee eines Nazi-Opfers gewesen. Du bist in diese Sache geraten ohne jede Schuld. Vergiß es. Mit Schicksal hat das nichts zu tun. Es gibt kein Schicksal.«

»Was glaubst du, wie wir uns kennengelernt haben? War das kein Schicksal?«

David wechselte tatsächlich das Internat. Nichts geschah mehr. Aber seine Angst, erneut entdeckt zu werden, saß tief. Er wechselte die Schule ein zweites, ein drittes Mal. Er schämte sich, verkroch sich, wurde einsam. Diese Anwandlungen hielt er für verwerflich, geradezu unmännlich. Ein Kreislauf begann. David zog sich zurück. Er wollte ein anderer sein. Er suchte nach Rollen. Auf diese Weise entstand sein Traum, Schauspieler zu werden.

Schließlich gewöhnte er sich an, daran zu denken, daß es andere Kinder und Enkel von Tätern gab, die schwerer an der Last der Geschichte zu tragen hatten als er.

»Der Unfall geschah, weil die Bremsen blockierten. Man nimmt an, es war ein Attentat. Es muß schrecklich gewesen sein, wie Großmama aus dem Auto geschleudert wurde.«

»Ich habe als Kind einmal einen Unfall gesehen, bei dem Ähnliches geschah. Auf einer Straße von Düsseldorf nach Köln.«

»Aber es geschah genau da! Du hast es gesehen? Du hast gesehen, wie meine Großeltern umgekommen sind?«

»Unsinn. Ich habe irgendeinen Unfall gesehen. Ich kann mich kaum daran erinnern. Ich war ganz klein, drei oder vier. In meiner Erinnerung sehe ich einen Feuerball und sonst nichts.«

»Und du meinst immer noch, daß es kein Schicksal gibt.«

Für einen Augenblick stand ich noch einmal am Rand der Straße. David stand neben mir. Ich erwachte aus meiner Trance, als David mich berührte. Erst da fiel mir ein, daß David den Unfall seiner Großeltern nur aus Berichten kannte. Ich war auf dem besten Weg, so durcheinander zu geraten, wie David es war.

»Es gibt etwas, das uns auf immer verbindet – das uns immer schon verbunden hat«, sagte er.

»Du entschuldigst mich einen Augenblick.«

Am Tisch zurück trank ich mein Glas aus und bat um die Rechnung. Wir rangelten darum, wer bezahlen durfte. Während ich die Scheine hinblätterte, konnte ich seine Unruhe spüren. Dann gab er sich einen Ruck, als müsse er den Motor antreten, um zu einer bestimmten Zeit am rechten Ort zu sein. Dieser Drang, der ihn manchmal überfiel, gepaart mit heillosem Eifer.

»Ich hätte eine Bitte.« Er legte seine Hand auf meinen Arm und sah mich dabei an. »Würdest du heute bei mir übernachten?«

Seine Frage befremdete mich. Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. Ich hätte gern nein gesagt.

»Nur diese eine Nacht. Bitte.«