ZWANZIG

Als ich die Wohnung von Davids Eltern betrat, kam ich mir wie ein Schnüffler vor. Daran änderte auch mein Auftrag nichts, den Nachlaß Alfred Perlensamts so lange zu verwalten, bis das Testament eröffnet war. Man hatte David eines schweren Fieberanfalls wegen ins Krankenhaus gebracht. Er hatte phantasiert, wirr gesprochen und war zwischendurch sogar in eine Art Koma gefallen. Mona kümmerte sich um ihn. Offenbar fühlte sie sich angezogen von seiner Hilflosigkeit, anders konnte ich mir ihr Engagement nicht erklären. Ich fühlte mich einsam in meiner Mission.

Der Umschlag, den mir die Staatsanwaltschaft aushändigte, war auf meinen Namen ausgestellt, darunter der Zusatz streng persönlich. Mehr als ein Zettel war nicht darin gewesen. Vor mir lodern die Flammen. Wie immer steht die Tür zum Garten offen. Die Lilien haben zu blühen begonnen. Ihr Duft durchdringt die unteren Räume. Madame Eugénie bügelt im ersten Stock. Ab und zu geht sie ans Telephon, um Anrufer abzuwimmeln. Ich lese die krakelige Handschrift noch einmal. Ich, Alfred Perlensamt, möchte neben meiner geliebten Frau Miriam beigesetzt werden, ohne Trauergesellschaft, ohne Zeremonie. Mein gesamtes Eigentum wird an meinem Sohn David Perlensamt übergehen, wie in einem gesonderten Testament verfügt, hinterlegt bei meinem Notar, Herrn Dr. Henning Schröters. Im Schreibtisch meines Arbeitszimmers (Bibliothek) befindet sich eine Mappe, die meine Initialen trägt. Ich bitte Sie, Herr Dr. Saunders, diese Mappe an sich zu nehmen und sie ungeöffnet mit meiner Leiche verbrennen zu lassen. Alfred Perlensamt, Strafvollzugsanstalt Berlin-Moabit, den …. Die Notiz klingt nicht, als sei sie von einem Mann mit verwirrtem Geist verfaßt worden. Der Zettel verbrennt innerhalb eines Augenblicks. Die Mappe liegt oben, in dem Fach, in dem meine Unterwäsche liegt.

Man hatte mir den Umschlag kommentarlos ausgehändigt, dazu die Wohnungsschlüssel. Zurück im Büro erzählte Mona, David ginge es besser, doch würde er noch einige Tage im Krankenhaus bleiben müssen. Ich sagte, sie solle ihn von mir grüßen. Innerlich war ich erleichtert. Ich wollte Distanz zu David, und ich gebe zu, daß ich der Verfügung des Toten hauptsächlich deswegen nachkam, weil ich immer noch hoffte, Klarheit in Davids widersprüchliche Geschichte bringen zu können.

Der schwere Schlüsselbund erweckte den Eindruck, als habe der alte Perlensamt ein Faible für Schlösser gehabt – und das nicht nur an der Eingangstür, die drei davon hatte. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich alle Schlüssel durchprobiert und die richtigen gefunden hatte. Die große Halle roch muffig. Ich öffnete die Fenster und ließ die kalte Luft herein. Die Portieren bewegten sich im Windhauch wie Gewänder tanzender Figuren. Draußen roch es nach Schnee.

Ich sah mir nacheinander die Räume an. Trotz meiner zeitweiligen Vertrautheit mit David kannte ich nicht die ganze Wohnung. Auf der einen Seite der Halle lag die Bibliothek. Sie hatte also Alfred Perlensamt als Arbeitszimmer gedient. Alles war wieder aufgeräumt, die Spuren meiner Übernachtung beseitigt. Links und rechts des flaschengrünen Samtsofas, auf dem ich geschlafen hatte, standen chinesische Lampen, auf antik getrimmt, aufgebauscht mit rosa Seidenschirmen. Eine Fußbank, ein Zeitungsständer, eine Trittleiter, die man zum Stuhl umklappen konnte. Gestreifte Sessel, undefinierbar im Stil. All dem hatte ich in der Nacht, als ich hier schlief, keine Beachtung geschenkt. Auch den beiden Fenstertüren nicht, die auf den Innenhof hinausgingen, den ich so bewundert hatte. Ich sah mir die teils offenen, teils verglasten Bücherreihen genauer an. Meyers Enzyklopädie, eine ledergebundene Gesamtausgabe von Goethe, Shakespeare, dazwischen ein Folioband Montaigne, verschiedene Romane von Balzac, Zola, Thomas Mann. Keine Schriftstellerinnen, keine neue Literatur. Ich stieg auf den Holztritt, nahm vorsichtig den Folioband heraus und wäre, in Erwartung des Gewichts, beinahe aus der Balance gekippt. Das Monster war aus Pappmaché und innen hohl. Die anderen Bücher auch. Sie dienten als Camouflage für Videos. Ich stellte die Attrappen wieder in Reih und Glied zurück.

Die Mappe mit den INITIALEN AP fand ich in der Schreibtischschublade. Auch dafür gab es einen Schlüssel am Bund. Für die Mappe nicht. Sie war mit einem einfachen Mechanismus verschlossen. Die Entscheidung, die Mappe samt Inhalt verbrennen zu lassen, oblag einzig mir. Es war, als hätte Perlensamt gewollt, daß ich Schicksal spiele. Und ich würde es tun, egal welche Entscheidung ich träfe. Ich kam mir vor wie ein aus den Staaten herbeigeeilter Erbe, der die Hinterlassenschaft eines unbekannten Vaters antritt.

Vom Arbeitszimmer des Hausherrn aus durchstreifte ich die anderen Räume. Zunächst sah ich mir Davids Schlafzimmer am Ende des Korridors an, den ich noch nie beschritten hatte. Es war, ebenso wie die Bibliothek, penibel aufgeräumt und sah nicht im mindesten nach einem bewohnten Zimmer aus. Keine persönlichen Sachen. Die Fenster gingen zur Fasanenstraße hinaus. Ich streifte durch die anderen Zimmer und begegnete den Nippesfiguren wieder, die David auf meine Bemerkungen hin weggeräumt hatte. Auf Bilder stieß ich in diesen Räumen nicht. Auch Schatten von Staubkadern befanden sich an keiner einzigen Wand, und keines dieser Zimmer sah frisch gestrichen aus. Das Schlafzimmer, in dem sich der Mord ereignet hatte, war mit verblichen-grauer Seide bespannt. Auch hier hatte wohl kein Bild gehangen. In den die gesamte Wandfläche füllenden Schränken hingen nicht nur die Anzüge des toten Alfred, sondern auch die Garderobe von Miriam Perlensamt, vom Abendkleid über den Morgenmantel bis zum Pelz. Ein Duft von Veilchen und Tuberosen, der manchmal alten Schmuckdosen entströmt, kroch aus den Gewändern.

Wenn so das Erbe der Großeltern Abetz aussah, konnte ich verstehen, daß Edwige sich von dieser Familie distanzierte. Eine Mischung aus muffigem Kitsch, Trostlosigkeit und Pomp strahlten die Räume aus, die von der angeblich so renommierten Familie Perlensamt jahrzehntelang bewohnt worden waren.

Hinter Küche und Badezimmer, die im rückwärtigen Wohntrakt in Richtung des Lieferanteneingangs lagen, gingen weitere Zimmer vom anderen Ende des Korridors ab. In einem davon hatte das Medium gesessen. Der Raum schien jetzt eine Abstellkammer zu sein für Gegenstände, die niemand mehr wollte. Aber als ich den gegenüberliegenden Raum betrat, verschlug es mir den Atem.

Ich stand in einem Depot. Ich wußte nicht gleich, woher ich kannte, was sich mir darbot. Wie das Magazin eines Museums sah der Raum trotz der vielen Bilder nicht aus. An allen vier Wänden hingen dicht neben- und übereinander die Bilder aus der vorderen Halle, abwechselnd mit anderen, die ich in diesem Haus noch nie gesehen hatte. In der Mitte befand sich ein Tisch, auf dem eine Mappe für Zeichnungen lag. Im ganzen mochte es sich um fünfundzwanzig bis dreißig Bilder unterschiedlicher Größe handeln, Zeichnungen und Skizzen nicht mitgezählt. Rechts von der Tür, auf einer großen Staffelei, stand Courbets Bild vom Meer. Ich quetschte mich daran vorbei, um die rückwärtige Leinwand zu betrachten. KA 19 stand darauf. Ich ging auf ein Bild von Matisse zu. Zwei Schwestern. Jeder Kunsthistoriker in meiner Generation kannte das Bild. Keiner hat es je im Original gesehen. Ich nahm es von der Wand, drehte es um. Was ich sah, hatte ich nun schon erwartet. Auch dieses Bild trug die Signatur KA, dazu eine Nummer. Beide Bilder mußten aus der Sammlung Alphonse Kann stammen. Sie waren zwischen 1940 und 1942 von den Nazis beschlagnahmt worden. Seit 1944 galten sie als verschollen. Weitere Rückseiten brauchte ich nicht zu sehen. Ich verließ das Depot und schloß die Tür hinter mir. Mir war übel. Ich schloß die Fenster, die ich zum Lüften der Wohnung geöffnet hatte. Die Zeitungen, die vor der Wohnungstür gelegen hatten, legte ich zusammen mit der Post auf den Tisch in der Halle. Dann schloß ich ab. Nun hatte ich den Beweis. Die konkrete Signatur. Was sollte ich damit machen? Und was mit David?