EINUNDDREISSIG

Als ich wieder in Berlin war, rief Rosie an. Nach dem Tod der Großeltern hatte sie das kleine Haus in Langenfeld geerbt und vermietet. Sie hatte nichts daraus haben wollen und ließ die Mieterin wissen, daß sie mit allem, was im Haus war, nach Belieben verfahren könnte. Das war ein paar Jahre her. Nun wollte die Dame ausziehen. Rosie bat mich, nach Langenfeld zu fahren und zu entscheiden, was mit dem Haus geschehen sollte.

»Mir ist alles gleich. Ich habe keine Zeit, nach Deutschland zu kommen. Wenn du willst, verkauf das Ding. Das Geld gehört dir.«

So schlicht hatte ich die Straße und die anliegenden Häuser nicht in Erinnerung gehabt. In mir hatten die kindlichen Eindrücke nachvibriert und aus der Umgebung einen dramatisch aufgeladenen Ort gemacht. Langenfeld aber wirkte aufgeräumt, bieder, grau. Es erregte keinen Anstoß, keine Freude, keinen Neid. Nicht einmal die Humboldt Street in Williamsburg, Brooklyn, wo ich meine ersten Jahre verbrachte, war so schäbig und kleinlaut wie diese Straße hier.

Gegen vier war ich mit einer Frau Mothes verabredet. Ich zögerte, als ich aus dem Taxi stieg, als erwartete ich Spuren des Unfalls von vor mehr als vierzig Jahren, Blutflecken am Straßenrand, einen verdrehten Kotflügel, einen Schuh der durch die Luft geschleuderten Frau.

Aber es gab nicht einmal ein Kreuz oder einen Stein, der an das grausige Ereignis gemahnte. Ich ging auf das Haus zu und besah seine hellgestrichene Fassade. Auch hier hatten die Fenster Insektengitter – wie in der Humboldt Street. Aber es klebten keine toten Mücken darin. Hinter den blankgeputzten Scheiben hingen gerüschte Gardinen. Eine messingfarbene 29 klebte neben der Haustür, darunter ein Briefkasten mit Posthorn und der Beschriftung Mothes. Ich klingelte. Frau Mothes öffnete sofort. Sie war ein wenig untersetzt und unmodisch gekleidet. Sie mußte so alt wie Rosie sein, sah aber wie Rosies Mutter aus. Ich starrte sie an, als hätte ich noch nie eine Frau dieses Alters gesehen. Nachdem wir uns begrüßt hatten, musterte sie mich verstohlen, machte mir ein Kompliment über mein Deutsch und erinnerte mich daran, daß wir uns damals, als ich mit Rosie in Langenfeld war, kennengelernt hätten. Ich wäre ein kleiner Junge gewesen, staunend und stumm. Ich hätte große Augen gehabt und mich hinter meiner Mutter versteckt. Sie niemals loslassen wollen. Nur einmal hätte ich den Mund aufgemacht. Man hatte mich gefragt, was ich hier am schönsten fände. Nichts, hätte ich gesagt. Ich konnte mich daran nicht erinnern.

Während Frau Mothes mir pflichtbewußt das Haus zeigte, meinte ich Rosies Abneigung gegen das Deutschland ihrer Jugend zu spüren. Es roch muffig. Obwohl es der Geruch der gegenwärtigen Bewohner war, identifizierte ich Rosies Eltern damit. Wir gingen durch die Räume. Frau Mothes wies auf Dinge, die noch aus dem Besitz meiner Großeltern stammten. Nichts kam mir bekannt vor, und doch war alles für mich mit Widerwillen besetzt.

Ich entschied, daß sie behalten konnte, was sie wollte. Was sie nicht nähme, würde entsorgt. Ich vermied das Wort Müll. Ich fragte sie, ob sie vielleicht einen Käufer wüßte. Das sei kein Problem, die Gegend sei beliebt. So ländlich und günstig gelegen zwischen Düsseldorf und Köln, zumal ja das Haus den schönen Garten habe, eine große Schüttelobstwiese, Gemüsestände, Blumenrabatten. Sie deutete an, daß es natürlich auch eine Frage des Preises sei. Wir gingen hinaus. Ich sah mir die sorgfältig gepflegte Anlage an. Sehr ordentlich. Kein Grashalm, der abseits des täglichen Harkens stand, die verblühten Tulpen mit ihren Blättern waren zusammengeflochten, die nachschießenden Blumen bereits an Bambushilfen geführt, damit sie nicht knickten. Die Äste der Birn- und Äpfelbäume waren mit Gewichten beschwert. Ich ging tiefer in den Garten hinein, suchte nach etwas, das ich wiedererkannte, einem Geräusch oder einem Geruch. Es schien, als wäre ich nie hiergewesen. Ich ging zum Ende des Grundstücks. Damals hatte der Zaun an dieser Stelle ein Loch gehabt, durch das ich kurz vor dem Unfall zur Straße entwischt war. Aber der Zaun war neu.

Frau Mothes meinte, ich würde doch gewiß etwas Persönliches mitnehmen wollen. Sie sah mich mit großen Augen an. Suchte sie nach einer Regung in meinem Gesicht? Mußte ich irgendwie – betroffen reagieren? Emotional berührt? Etwas Persönliches. Hier gab es nichts Persönliches, nicht für Rosie, nicht für mich – sofern ich von der katastrophalen Erinnerung absah, wie ich es für mich nenne, und damit meine ich nicht nur den Unfall. Der ganze Aufenthalt in diesem Haus hatte etwas Katastrophales gehabt. Ich hatte Rosies Unwohlsein, ihre Panik gespürt. Das hatte ausgereicht, mich selbst unwohl zu fühlen. Alarmiert. Der Unfall war nur der Höhepunkt einer langsam sich zuspitzenden Situation. Das war das Persönliche, das ich mit diesem Ort verband – etwas, auf das weder ich noch Rosie freiwillig zurückkommen wollten. Mir war die Situation unangenehm, geradezu lästig. Aber wie sollte ich das der guten Frau Mothes erklären? Sie hatte sich in dieser Umgebung wohl gefühlt. Gemütlich nannte sie das Haus.

Bob hatte einmal erwähnt, wie enttäuscht die Großeltern gewesen seien. Ihm hatten sie leidgetan. Bevor Rosie ihre allergischen Reaktionen entwickelte, hatte er versucht, sie zu einer weiteren Reise nach Deutschland zu bewegen. Sie hatte sich verzweifelt gewehrt. Sie hatte jede weitere Berührung mit ihren Eltern gescheut. Allein deren Art, sich allem und jedem unterzuordnen und ständig darauf bedacht zu sein, was sogenannte andere Leute von ihnen dächten, Verwandte, Bekannte, Nachbarn, hatte sie abgestoßen. Ihre Eltern hätten ein Kuckucksei ausgebrütet, peinlich berührt, daß für ihre Tochter nichts gut genug sei. Ich sah mich um. Nichts gut genug? Was für ein merkwürdiger Schluß. Diese sogenannte Gemütlichkeit hätte mich bei einer weniger eigensinnigen Mutter das Leben gekostet. Rosie hatte sich einfach auf den Standpunkt gestellt, daß diese verdammte Gemütlichkeit nicht nach ihrem Geschmack war, so wenig wie das fette Fleisch, das hier auf den Tisch gekommen war. Ich war ihr dankbar dafür.

Frau Mothes ließ nicht locker, gewissenhaft bemüht, einen Kontakt herzustellen zwischen der Ausgewanderten und diesen Resten hier. Bei der Durchsicht der Schränke hätte sie in der Speisekammer eine Lederkassette gefunden. Zweimal sei das Paket unterwegs gewesen nach Amerika. Immer sei alles zurückgekommen mit dem Vermerk, Rosie sei unbekannt verzogen.

»Was ist eine Speisekammer?«

Sie zeigte mir hinter der Küche einen kleinen Raum. Eine Person hätte gerade hineingepaßt, stehend. Der Raum war mit Holzregalen ausgeschlagen und mit Vorräten bestückt, Brot, Marmeladengläsern, Nudeln, Essig- und Bierflaschen. In manchen Regalen lag sorgfältig aufgereihtes Obst. In New York wäre ein solcher Verschlag undenkbar. Das mußte ein Paradies für Kakerlaken und Ameisen sein. Frau Mothes zeigte in die hintere Ecke auf das unterste Bord.

»Hier habe ich die Kassette beim Großreinemachen gefunden, auch erst beim zweiten Mal. Beim ersten Mal hat meine Tochter geputzt. Kölsche Wisch hat das Kind gemacht. Na ja, sie war damals achtzehn, da interessiert man sich nicht so sehr dafür. Im folgenden Jahr mußte ich den Frühjahrsputz alleine machen. Dabei entdeckte ich die Kassette. Es war wohl der Schmuck Ihrer Großmutter, Herr Doktor. Frauen tun Dinge, die ihnen wichtig sind, ja immer an komische Orte. Ich habe sie hervorgeholt und erstmal abgewischt und ein bißchen aufpoliert. Sicher hat Ihre Großmutter sehr daran gehangen. Ich habe das Kästchen dann, nachdem es immer wieder zurückkam, oben im Schlafzimmer aufbewahrt. Ich dachte, irgendwann wird Ihre Frau Mutter kommen, um nach dem Rechten zu sehen.«

Die freundliche Frau Mothes kam mit der Kassette zurück.

»Hier ist sie, bitte.«

Sie sah mich aufmerksam an. Sie wartete wieder auf eine Reaktion, Erleichterung vielleicht, endlich etwas Verlorengegangenes gefunden zu haben, ein Lächeln, irgendeine Regung, die Glück verhieß. »Sie ist verschlossen. Ein Schlüsselchen fand sich dazu nicht.«

Eine Kassette so groß wie eine Zigarrenkiste, doppelt so hoch, eingebunden in dunkelrotes Leder. Die Ecken abgewetzt. In der Mitte ein einfaches, kleines Messingschloß. Was immer an Schmuck darin war: Ich wußte, daß Rosie sich für dieses Zeug nicht interessieren würde. Sie wollte alles loswerden, was es hier noch gab. Was sollte ich damit? Ich hätte die Kassette samt Inhalt gern Frau Mothes geschenkt. Aber das Schloß in ihrem Beisein zu knacken, schien mir dreist, irgendwie überheblich. Frau Mothes hatte das schäbige Ding so respektvoll behandelt, es so sorgfältig für Rosie gehütet, daß ich sie nicht verletzen durfte, indem ich mich verächtlich oder desinteressiert zeigte. Ihr die verschlossene Kassette zu überlassen, sie zu zwingen, sie aufzubrechen, war auch keine Lösung. Wie ärgerlich, daß die Post, auf deren Wegen genug verloren geht, in diesem Fall so zuverlässig funktioniert hatte. Widerwillig nahm ich den Fund entgegen, um ihn in Berlin aufzubrechen und die Stücke, die er enthielt, als Dankeschön an Frau Mothes zurückzuschicken.

Frau Mothes versprach sich umzuhören, ob jemand das Haus kaufen wollte. Ich gab ihr meine Geschäftskarte und betonte, daß ich jederzeit erreichbar sei. Dann bat ich sie, mir ein Taxi zu rufen.

Ich werfe die Kippe in den Kamin. Ich habe die Kassette nie geöffnet. Ich habe sie einfach vergessen. Erst mit dem Umzug ist sie wieder aufgetaucht, in irgendeiner Kiste. Jetzt ist sie oben, im Kleiderschrank. Madame Eugénie hat sie neben die so sorgfältig von ihr gefalteten Hemden gelegt.

Es sieht aus, als würde es ein schöner Tag. Der Birnbaum im Garten hat Früchte angesetzt. Die Kletterhortensien stehen in voller Blüte. Auch bei Rosie ranken sie die Gartenmauer hinauf. Ich habe ihr nicht einmal Bescheid gesagt, daß ich aus Berlin fortgezogen bin. Das Glockengeläut einer nahen Kirche ist zu hören, katholische Gegend hier. Es ist acht. Madame Eugénie werkelt in der Küche mit Geschirr. Wahrscheinlich kocht sie Kaffee. Auf einmal merke ich die Müdigkeit. Es ist, als zöge mich die letzte Nacht zu Boden. Meine Knochen sind so schwer, als hätte ich die einer zweiten Person mitzutragen. Ich gehe durch die Küche ins Haus zurück. Madame sieht mich verwundert an. Ich murmele etwas von keinen Schlaf gefunden zu haben und mittags Mona vom Flughafen abholen zu müssen.

»Bitte wecken Sie mich unbedingt um zehn.«