SECHSUNDZWANZIG

Ich hatte Rosie nie nach meinem Vater gefragt, und Rosie hatte ihn von sich aus nie erwähnt. Wozu reden? Die Vergangenheit war identisch mit der Gegenwart, nur älter. Ich hatte nie das entscheidende Wort herausgefunden, um den Bann zu brechen. Vielleicht hätte Rosie ein einziges Mal in ihrem Leben vor meinen Augen gestutzt – außer Fassung gebracht durch eine Losung. Vielleicht hätte ich die Vergangenheit zum Flackern bringen können, wenn ich nur den Namen meines Vaters ausgesprochen hätte. Aber ich wußte seinen Namen nicht. Nicht einmal den.

Edwige hatte aufgehört zu essen. Drei Austern waren übrig. Eine davon hatte sie mitten in meiner Frage auf dem Teller abgelegt und nicht wieder aufgenommen. Zwei lagen noch auf der Platte. Die geeisten Bergkämme darauf tauten und verwandelten sich in ein eiskaltes Meer. Die toten, halb aufgebrochenen Meeresfrüchte schwammen unangetastet darin, ein riesiger Krebs mit handgroßen Scheren, ein Dutzend Seeschnecken, ein zur Rosette erstarrter Reigen pinkfarbener Krevetten, ein Napf mit Nordseekrabben, von Miesmuscheln und Tang umlagert. Edwige atmete flach. Sie trank einen Schluck Wein. Dann – das kannte ich schon – riß sie sich plötzlich zusammen. So leicht war diese Frau nicht zu entmutigen, vor allem nicht durch Dinge, die unabänderlich waren.

»Patrique Melcher war ein kleiner Ganove«, sagte sie schlicht. »Ich glaube nicht, daß er aus Paris war. Eher aus dem Elsaß, wie viele Leute mit diesen halbfranzösischen Namen. Ich wohnte damals hier um die Ecke in einer chambre de bonne. Ich hatte eine Stelle in einer Gärtnerei in Versailles gefunden. Die Lehrlinge wurden mehr getreten als gefördert. Aber die Firma bekam gute Aufträge von vermögenden Leuten in der Umgebung. Wenn man die Augen aufhielt, konnte man sehr viel lernen. Sie hatten Ahnung von Böden und Chemie. Sie zogen die besten Pflanzen der ganzen île de France.« Sie lächelte. »Heute tue ich das. Es war anstrengende körperliche Arbeit. Aber ich wollte reüssieren, ach was, ich mußte! Ich hätte es mir nicht leisten können, nach Deutschland zurückzugehen. Ich wäre dort erstickt in den fünfziger Jahren. Ich wollte Schönheit, sonst nichts. Keine Moral, keine gesellschaftliche Stellung. Nur zwecklose Schönheit. Wohin hätte ich sonst gehen können außer nach Paris? Auf den Orient kam man damals nicht. Ich dachte nicht an die Höhenzüge von Afghanistan, an das Licht von Tanger, an die Strände von Vietnam. Da war immer noch Krieg, Napalm, Tod und Vernichtung. Überlegen Sie mal, China in dieser Zeit! Sie machen sich keinen Begriff davon, Sie weit gereister, auf zwei Kontinenten lebender junger Mann, wie eingeschränkt die Welt damals war – für eine junge Frau. Wie soll man das heute erklären? Man legte den Mädchen gerade wieder Handschellen an. Den Trümmern in Deutschland folgten diese Ordnungsmanie und diese unerträgliche Moral. Hier regierte la beauté. Sie dringt in Frankreich auch durch Armut und Dreck. Ich lernte schnell, daß Schönheit, wenn sie Bestand haben soll, von Disziplin erobert werden muß. Nicht selten ist sie die Frucht von Kälte – oder doch wenigstens von kühlem Verstand. Le Nôtre war mein Vorbild, nicht Pückler, nicht Lenné. Ich schuftete tagelang, aber manchmal mußte ich abends einfach raus. An solchen Abenden wollte ich mich gehen lassen. Disziplin ohne Gnade strengt unendlich an. Ich brauchte eine Nacht voll ausschweifendem Leben, als gäbe es keinen Anfang, kein Ende, keine Flucht, kein Ziel. Ich suchte das Gegenteil des Kalküls, mit dem ich überlebte.«

Sie ging nur samstags aus. An allen anderen Tagen außer sonntags mußte sie um fünf Uhr aufstehen, im Sommer um vier. In Paris, in dieser Gegend, ging man samstags zum Essen aus und danach in eine billige Bar. Sie nahm einen Schluck und drehte das Weinglas in ihrer Hand, als läse sie darin, was sie weiter zu sagen hätte.

»Wenn man sich das Essen am Samstag nicht leisten kann, beläßt man es beim Trinken. Das geht auch. Das war damals so. Heute ist es fast wie damals. Die Leute hier sind arm.«

Sie machte eine Pause. Ihr Ton war bitter.

»Bald werden viele Einwohner von Paris so arm sein wie die Leute in diesem Viertel. Abgewrackte Existenzen. Typen, die für ein paar Francs ihre Schwester verschachern. Hundefänger. Mädchen, die früher Nutten als geschlechtsreif werden. Weißafrikanische Mütter, die nach ihrem ersten Monatsblut schwanger geworden sind und ihre frisch geborenen Babies meistbietend an reiche Amerikanerinnen verkaufen. Ich war zwar keine Maghrebinerin, auch keine vierzehn mehr. Trotzdem hatte es mich erwischt. In einer Samstagnacht. Ich habe mich vergessen. Als ich erfuhr, daß ich schwanger war, habe ich zuerst an illegale Abtreibung gedacht.«

Sie goß sich nach und winkte dem Kellner mit der Bitte um eine Packung Zigaretten. Plötzlich roch ich die toten Meerestiere überall. Schal geworden in der Farbe, wirkten sie wie Abfall, den das aufgewühlte Meer nach einer Sturmflut an den Strand geschwemmt hat. Aber es war nicht das Meer. Das Meer mit seinen wütenden Wellen war weit fort. Es war die Straße, die zu uns hineingedrungen war und sich mit dem Müll der Tischflut mischte. Ich spürte Ekel in meiner Kehle. Der Kellner brachte die Zigaretten und eine weitere Flasche. Edwige trank ein ganzes Glas in einem Zug und goß sich wieder nach. Ich harrte vor dem Müllberg aus und dachte an den schmierigen Typen, den ich nach Patrique Melcher gefragt hatte. Edwige wurde von ihrer Vergangenheit eingeholt. Ab und zu hielt sie inne, trank, steckte sich eine neue Zigarette an. Ihre Bewegungen wurden schwerfällig und ungelenk. Einmal warf sie ihr Weinglas um. Der Kellner sprang herbei und wechselte das Tischtuch. Sein Blick war neutral, nicht amüsiert, nicht verärgert, nicht sorgenvoll. Edwige hatte hier ihren Platz. Daß sie das Flo und seine Leute nie vergessen hatte, brachte ihr Achtung, vielleicht sogar Zuneigung ein. Schöne Umstände, vielleicht ein bißchen sentimental. Für Edwige waren sie wohl eine Zusatzklausel ihrer Lebensversicherung.

»Abtreibung wäre mir am liebsten gewesen. Ich hatte kein Verhältnis zu diesem Balg in meinem Bauch. Es war ein Monster, das wuchs, das ich ernähren mußte. Ich wollte mir nicht einmal vorstellen, wie es aussah, atmete, sich bewegte. Ich wollte es loswerden, weil es mir die Zukunft verdarb. Am schlimmsten war die Vorstellung, deswegen nach Deutschland zurückzumüssen, zurück in die muffige Umgebung meiner Eltern. Paul und Léonie Abetz. Sie ahnen nicht, wie Spießertum und Aufsteigerwille unter Wachstuch und Kittelschürze blühten. In Steglitz hatten sie angefangen. Nun hatten sie es in die Fasanenstraße von Charlottenburg geschafft. Die drehten fast durch vor Glück, daß sie in der feinen Gegend jetzt ein Zuhause hatten.«

»Für Spießer hatten sie einen ausgewählten Geschmack …«

»… natürlich kann man den Leuten nicht verdenken, daß sie froh sind, wieder etwas zu essen zu haben. Aber bei den Talentlosen geht es bald nur noch ums Essen und ums Geld. Je mehr Geld sie hatten, desto besser aßen sie. Je besser sie aßen – Dosenfutter aus Frankreich und Amerika – desto höher siedelten sie sich an. Unser Vater benahm sich, als hätte jetzt auch er einen akademischen Abschluß, nur weil es zwei Leute im Haus gab, die einen Doktortitel hatten. Er war mittelmäßig genug, um über sich hinauswachsen zu wollen und nicht zu sehen, daß ihm das Format dafür fehlte.

»Aber in irgendeiner Weise war er doch erfolgreich – sonst hätten sie nicht in diese Gegend ziehen können.«

Edwige lächelte gequält.

»Ich habe nie nachgefragt, wie es dazu kam. Die Vergangenheit hat mich nie interessiert.«

»War es vielleicht Ihre Mutter, die das ermöglicht hat?«

»Unsere Mutter? Der arme Niemand hatte eine poule à boche heimgeführt. Das Mädel hatte für ihn gelitten. Er war stolz auf seine kleine Französin, auch wenn sie nicht mehr schick war, als er sie aus den Klauen ihrer Landsleute rettete. Er wollte ihr etwas bieten, sie entschädigen für die furchtbare Brutalität.«

»Brutalität?«

»Die Beschneidung, nein, Bescherung, nein, so heißt das nicht. Sie müssen entschuldigen, manchmal rutschen mir die deutschen Wörter weg, ich habe so viel vergessen, ich spreche so selten Deutsch. Man hat ihr den Kopf kahl – wie heißt das …?«

»Man hat ihr den Kopf kahl geschoren?«

»Ja, das meinte ich, geschoren hat man sie. Das hat man in Frankreich mit vielen Frauen gemacht, die ein Verhältnis mit einem Deutschen hatten. Davor und danach wurden sie vergewaltigt, öffentlich, und dann durch die Straßen getrieben wie Vieh.«

Sie fuhr sich durch ihr dichtes honigblondes Haar.

»Heute schimpfen wir auf die Taliban und tun so, als seien wir als Christen zu derlei Vergehen nicht fähig.«

»Also verbindet Ihre Familie keine noch so entfernte Verwandtschaft zu Otto Abetz und Suzanne de Bruycker«, kommentierte ich rhetorisch.

»Otto Abetz und Suzanne de Bruycker? Wieso? Wer soll das denn sein? Ach ja, Hitlers Botschafter in Paris! Sie meinen Davids handgesägten Familienstammbaum. Natürlich nicht, das ist Davids fixe Idee. Jetzt verstehe ich, worauf Sie die ganze Zeit hinauswollen! Warum haben Sie denn so um den heißen Brei geredet? David hat einen Knall, eine etwas übersteigerte Art. Ich habe Ihnen doch gesagt: das Geltungsbedürfnis eines vernachlässigten Kindes. Nein, nein, seine Großeltern waren kleine Leute.«

»… das war Abetz auch …«

»Unbedeutend, Sie ahnen gar nicht, wie viele französische Frauen es gab, die sich in einen Boche verliebten. Die Familien duldeten das, im Keller oder auf dem Speicher und in der Garage hinter dem Gerümpel. Sie taten so, als wüßten sie nichts. Dafür gab es Seidenstrümpfe, Gauloises oder Nil, Schokolade, Visa und Champagner. Manchmal waren die schon froh über ein paar Grundnahrungsmittel oder eine Sonderzuteilung Papier. Die Mädchen aus der Gegend des Parc Monceau, wenn Ihnen das etwas sagt, also die höheren Töchter mit den Rembrandts überm Kamin, vögelten – Entschuldigung – mit den Nazijungs.«

In der Heftigkeit, mit der sie sprach, erkannte ich endlich David wieder. Sie hatten offenbar dasselbe Temperament, das ebenso zu Verachtung wie auch zu grenzenloser Begeisterung fähig war.

»… um das Schlimmste zu verhindern. Nach dem Krieg machten es die Alliierten so mit den deutschen Mädels. Gucken Sie mich bloß nicht so ungläubig an – die Amis auch! Manche waren netter, manche weniger nett. Inzwischen waren Strümpfe und Unterwäsche aus Nylon. Die Zigaretten hießen Lucky Strike, und die Schokolade war mit Karamel gefüllt, aber gevö … , Sie wissen schon, wurde dafür auch. Eine Nation von Nomaden, diese Huren und Schieber. Die einzige Nation, die grenzenlos und immer flexibel ist. Sie braucht kein festes Terrain. Volk ohne Raum.«

Sie lachte bitter. Ich rutschte nervös auf meinem Stuhl hin und her, einen günstigen Moment abwertend, um noch einmal auf die Sammlung zu sprechen zu kommen. Inzwischen war sie betrunken genug, mir zu sagen, was sie wußte. Aber lange konnte diese chancenreiche Phase zwischen den geleerten und noch zu leerenden Gläsern nicht dauern.

»Mein Vater hat für sein kleines französisches Hühnchen getan, was er konnte. Sie hatten sich eingerichtet. Alles ein bißchen schwer und düster. Das hielten sie für elegant. Man hätte denken können, Papa hätte in Frankreich was dazugelernt, hat er aber nicht. Und das Hühnchen hatte nicht nur seine Haare verloren. Seine gesamte Erinnerung war ausgelöscht. Nichts mehr von der leichten Eleganz, dem Esprit, die angeblich so französisch sind. Übrig blieb nur eine Geburtsurkunde, ein Eintrag im Familienstammbuch, der auf Frankreich verwies.«

Es war mir unangenehm, wie sie von ihrer Mutter sprach, mit Verachtung, als wollte sie dem Huhn im nachhinein noch einmal die Federn abflämmen.

»Ich habe Papa nicht verstanden. Nicht sein französisches Federvieh und nicht meinen Bruder. Maurice, der nur deswegen einen französischen Namen erhielt, weil er in Frankreich geboren wurde, fuhr ein einziges Mal nach Paris: wegen der Erbschaft. Er wollte mit mir verhandeln. Und sie, selbst als Papa zehn Jahre nach der gemeinsamen Rückkehr starb – er hatte sie gerade in der Fasanenstraße abgeliefert –, blieb, wo sie war. Sie reiste nie mehr zurück in ihr Land. Dieser Groll!

Himmel, natürlich hatte sie nichts vergessen. Sie tat nur so. Ihr Mund war zugeschweißt, die Jahre tabu. Ich wünschte, sie hätte mir nur einmal etwas erzählt. Jeder will doch nur wissen, wie es wirklich war. Auf Es tut mir leid oder Es war furchtbar, was wir taten oder Es war schrecklich, was wir erlebten kommt es doch gar nicht mehr an.«

Wie David schien auch Edwige voller Widersprüche zu sein. Sie behauptete, sie interessiere sich nicht für die Vergangenheit, gleichzeitig reklamierte sie das Schweigen ihrer Eltern darüber.

»Aber woher wußten Sie, daß das alles passiert ist, wenn niemand darüber sprach? Ich meine die Mißhandlungen – das, was Ihrer Mutter und den anderen Frauen widerfahren war.«

Edwige zuckte mit den Achseln.

»Zufall. Papa und sein Hühnchen waren sauer, als ich mich in das Land des Sonnenkönigs aufmachte. Ich ging, weil ich Frankreich wunderbar fand, ein Faible hatte für Eleganz und die in Deutschland nicht fand. Das maoistische Zeug, das damals begann, modern zu werden, die Tendenzen an der Sorbonne, der Existentialismus waren mir schnuppe. Ich wollte nicht Sartres Bücher lesen, sondern Le Nôtres Gartenanlagen studieren. Als ich mich dazu entschlossen hatte und das meinen Eltern sagte, ist es Papa dann so rausgerutscht: ›Wie kannst du das deiner Mutter antun, nach allem, was man ihr dort angetan hat.‹ Die dachten, ich liefe zum Erbfeind über.«

»Es klingt, als würden Sie Ihre Eltern verabscheuen.«

»Unsinn. Das ist zu viel Emotion. Sie waren mir fremd. Ich verstand sie nicht. Sie hatten ohnehin immer nur auf ihren Sohn gesetzt, den Musterknaben Maurice, aus dem der reizende Alfred wurde. Hat er gut gemacht, mit Frau, Erfindung, neuem Namen. Alfred Perlensamt: Klingt wie jüdischer Sprengstoff. Er trat in den Neuen Jüdischen Berliner Kulturclub – oder wie die Vereinigung heißt – ein. Waren Sie mal da? Na ja, warum sollten Sie. Alles war perfekt, die muffige Bude in der Fasanenstraße, eine zimperliche Frau, die sich in Ennui gefiel, ein dickes Bankkonto, die renitente Schwester im fernen Paris. Nur der Erbe hat gefehlt. Miriam, die Gute, ließ sich nicht schwängern. Sie setzte einfach nicht an. Und dann saß ich in der Patsche. Für Abtreibung hatte ich kein Geld. Ich hätte nicht einmal gewußt, wo ich es mir hätte leihen sollen. Ich mußte also da durch. Ich beschloß, meinen Zustand soweit möglich zu ignorieren und das Kind zur Adoption zu geben. Insgeheim hoffte ich, ich würde es durch die schwere Arbeit verlieren. Ich schleppte, grub ganze Beete um, zwei Meter tief, mit Spitzhacke und Spaten, mischte Erde mit Torf. Ich besoff mich. Aber mein Kind war wie ich ein zähes Tier. Ich war wohl im sechsten oder siebten Monat, genau weiß ich das nicht mehr, jedenfalls sah man mir die Schwangerschaft schon deutlich an, als plötzlich mein Bruder vor mir stand. Das war in der Gärtnerei. Ich erinnere mich, daß ich gerade Ritterspornsetzlinge pikierte. Maurice war angereist in der Überzeugung, er würde mich überraschen. Die Überraschung war Teil seiner Strategie. Aber dann war er überrascht. Er kriegte den Mund gar nicht mehr zu. In seinen Augen stand irgendein Kauderwelsch, als wollte er Hure sagen. Aber da war dieser Neid. Ich hatte etwas, das er wollte. Es war ihm so deutlich anzusehen, daß er sich vom Schicksal ungerecht behandelt fühlte. Und dann fragte er – er hatte sein eigenes Anliegen wohl vollkommen vergessen –, wer der Vater sei.«

Der Ober kam und fragte, ob wir mit dem Essen fertig seien. Er trug die trübe Brühe, in der nun alles durcheinander schwamm, fort und brachte noch einmal die Karte. Mitternacht war vorbei. Eigentlich esse ich um diese Zeit nichts mehr, weil ich danach nicht schlafen kann. Aber ich fürchtete, Edwige könnte vor dem Ende der Geschichte zu erzählen aufhören. Ich bestellte also Crème brulée und einen Espresso. Auch sie orderte noch etwas. Ich war der französischen Sitte, sich endlos vollzustopfen, ehrlich dankbar.

»Und das war Patrique Melcher.«

»Ich weiß nicht, was in dem Augenblick in mich fuhr, vermutlich der Teufel. Aber wenn es der Teufel war, dann habe ich für den Pakt bezahlt. Ich log, daß die Setzlinge ihre Blättchen krümmten. In dem Wissen um die Bewunderung meines Bruders für die feine Gesellschaft erzählte ich ihm die tolldreiste Geschichte von einem verheirateten französischen Aristokraten. Meine große Liebe hätte mich geschwängert, aber, aristokratisch kommt selten allein, seine streng katholische Familie würde der Scheidung seiner Ehe nie zustimmen. Ich kannte tatsächlichen jemanden, der mir als Vorlage diente. In der Nähe von Fontainebleau hatten wir einmal die Gartenanlagen eines riesigen Anwesens restauriert. Der Eigentümer hatte sich ein bißchen in mich verguckt. Er lud mich nach der Arbeit zum Sherry ein und fragte, was ich so vorhätte im Leben. Später, als ich aus England wiederkam, erhielt ich durch diese Bekanntschaft meinen ersten großen Auftrag, und von da an war es nicht mehr ganz so schwer. Egal – er jedenfalls war das Vorbild. Ich klammerte mich daran, um eine Orientierung in meiner Lüge zu haben. Ein bißchen genoß ich es sogar, daß mir meine mißliche Lage ein souveränes Gefühl verschaffte. Meinem Bruder öffnete sich plötzlich der Horizont. Das Landei entdeckte das Meer für sich, jedenfalls schien es, als wollte Maurice, der sich jetzt Alfred nannte, schwimmen lernen. Statt Meeresungeheuern sah er auf einmal fröhlich spielende Delphine. Er war eigentlich wegen der Erbschaft gekommen. Das Hühnchen war gestorben und hatte kein Testament gemacht – es gab auch nicht viel, nur die Fasanen-Straße. Er wollte diesen schummrigen Wohnsitz nicht verkaufen. Das hätte er tun müssen damals, wenn ich darauf bestanden hätte, ausgezahlt zu werden. Die Sache Perlensamt lief ganz gut, aber sie steckte noch in den Kinderschuhen, die Erfindung war gerade erst patentiert, die Firma und der Name frisch gekauft. Er konnte sich die Auszahlung an mich so wenig leisten wie ich mir die Abtreibung eine paar Monate zuvor. Aber nun sprachen wir nicht über die Vergangenheit und nicht über die Gegenwart. Wir sprachen über die Zukunft. Das war mein Bauch. Er bat mich um das Kind. Er sagte, er würde es zu sich nehmen – unter seinem Namen. Es wäre nicht unehelich, bekäme eine gute Ausbildung, hätte eine glänzende Zukunft und würde ihn schließlich beerben. Und ich sei frei. Ich bin sicher, daß er das Kind nicht gewollt hätte, wenn ein kleiner Ganove sein Vater gewesen wäre. Mein Bruder war ein Parvenü durch und durch, ein Feigling. Daß er es so weit brachte, ist Zufall. Er hat einmal in seinem Leben die richtige Formel gedacht und notiert. Er war, wie nicht wenige Menschen im Deutschland der fünfziger Jahre, zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Maurice ging noch weiter. Er bat mich, Urlaub zu nehmen. Ich sollte zur Erholung in ein Seebad reisen. Und zur Entbindung käme ich nach Berlin. Er käme für alles auf. Immer wieder mußte ich ihn auf den Weg zerren, weil er wieder einen Setzling zertreten hatte, Kreppsohlen waren das damals. Ich weiß nicht, ob es solche Schuhe in Deutschland heute noch gibt, wir nannten sie écrase-merde à la boche. Er sah damals aus wie Karlchen Müller vom Dorf. Diese landadelige Eleganz hat er sich erst später zugelegt. Ich sagte ihm, ich müsse nachdenken, ich freute mich so auf das Kind. Ich schlug ihm vor, wir sollten uns am nächsten Tag in der Stadt zum Essen treffen. Er wußte nicht, wo ich wohnte, kannte sich nicht aus in Paris. Ich hatte immer nur die Adresse und Telephonnummer der Gärtnerei angegeben. Er folgte mir in allem, was ich wollte. Wir trafen uns also im Fünften, bei Lipp. Damals kostete das ein Schweinegeld. Ich genoß es, ihn ein bißchen auszunehmen. Außerdem hatte ich immer Hunger. Seit ich schwanger war, reichten Brot und billige Schokolade nicht mehr aus. Ich wollte Fleisch, am liebsten jeden Tag Chateaubriand. Nachdem ich ihn noch etwas reden und zappeln gelassen hatte, willigte ich ein. Ich wäre bereit, sagte ich, Miriam und ihm das Kind zu überlassen. Die Konditionen müßte ich mir noch überlegen. Natürlich traute er mir nicht. Er hätte gern alles schriftlich gehabt, mich am liebsten eingesperrt bis zur Entbindung. Aber für unseren Kuhhandel gab es kein Recht. Er mußte warten, bis er seine Beute hatte. Mein Leben wurde in dieser Zeit merklich leichter. An einigen Tagen genoß ich die Schwangerschaft sogar. Manchmal ging ich allein ins Fünfte, aß bei Lipp, schaute mir danach die Vitrinen der teuren Geschäfte an und tat so, als sei ich eine dieser vermögenden Gattinnen, die nach einem Lunch außer Haus der Tee im Salon erwartet. Und dann wurde das Kind geboren, ein Junge.«

»David.«

Sie nickte nicht. Sie bestätigte keinen meiner rhetorischen Einwürfe, als wären auch sie etwas Schriftliches gewesen, Beweisdokumente.

»Er schien vor Freude halb verrückt. Er hatte alles perfekt arrangiert. Miriam war seit Wochen bei irgendwelchen Freunden in den Staaten. Die Nachbarn in der Fasanenstraße sollten denken, das Kind sei von ihr. Maurice, der längst Alfred hieß, hatte alles vorbereitet. Eine fremde Wohnung, eine Hebamme, die ihren Namen nicht nannte und meinen nicht erfuhr, eine erfahrene Kinderschwester, die das Kind übernahm. Damit konnte ich gehen. Ich war frei. Ich kehrte nach Paris zurück.

Aber mit einem hatte ich nicht gerechnet: Ich war nicht mehr allein. Das Kind, von dem ich nicht einmal wußte, welchen Namen es erhalten hatte, war immer da. Es war die Hölle. Ich vermißte das, was ich für ein Monster gehalten hatte. Ich sorgte mich. Ich quälte mich. Ich fragte mich, ob die zimperliche Miriam sich an meinem Baby vergreifen würde. Kurz, ich hatte Sehnsucht nach ihm.«

Ich sah, wie ihr die Tränen kamen. Für eine Inszenierung war das alles ein bißchen zu schäbig. Und wem überhaupt hätte die Inszenierung gedient? Sie sorgte sich immer noch um David – und fühlte sich schuldig. Das war der einzige Grund dafür, daß sie mit mir hier saß. Deswegen hatte sie mir die Briefe gegeben.

»Ich wollte mein Kind zurück. Vermutlich hätte ich es entführen müssen, um es wiederzubekommen, und in einem langen Verfahren beweisen, daß es meines ist. Damals kannte man die ganzen Analysen noch nicht, man brauchte mehr als ein Haar … Ich wußte auch, daß ich es mit David nicht dahin schaffen würde, wohin ich wollte. Und für ihn wäre seine Kindheit mehr als entbehrungsreich gewesen. Bei meinem Bruder hatte er alles, was er brauchte. Dachte ich. Also machte ich die Faust in der Tasche und öffnete sie nur, um Pflanzen zu pikieren und nach dem Spaten zu greifen. Nicht lange danach bestand ich die Prüfung. Ein Stipendium für Gartenarchitektur brachte mich nach England, und als ich zurückkam und mich selbstständig machte, war die Sache schon passiert. Ich hatte Melcher unterschätzt. Ihm war klar, daß ich arm war, kein Bares hatte. Aber er wußte auch, daß ich keine Ratte war wie er. Er hatte zudem eine feine Nase. Er sah in mir und in dem, was er angesetzt hatte, eine Art Lebensversicherung. Er hatte mich beobachtet und beobachten lassen. Das ganze Quartier ist ein Filz. Wenn eine Faser sich bewegt, verzieht sich das ganze Gewebe. Solange ich hier lebte, gehörte ich zu diesem Sumpf, ob ich das wollte oder nicht. Melcher hatte herausgefunden, daß jemand mein Kind genommen hatte. Er war der Spur gefolgt. Bis nach Berlin. Alfred wollte natürlich keinen Skandal. Und er wollte vermeiden, daß Miriam von der Erpressung erfuhr. Ich nehme an, er hat gezahlt. Sicher weiß ich es nicht. Er setzte sich mit mir in Verbindung, verdächtigte mich anfangs, daß ich selbst dahinter steckte. Sie sehen, wir haben uns wirklich nicht gemocht. Ich weiß nicht, wie viel und wie oft er zahlte, und ich weiß auch nicht, wie weit Melcher gegangen ist. Ich hielt mich da vollkommen raus. Vielleicht habe ich in Melchers Verhalten eine gerechte Strafe dafür gesehen, daß mein Bruder meine Notlage ausgenutzt hat. Vielleicht war ich insgeheim sogar froh, daß Melcher meinen Bruder erpreßte. Als David zehn oder zwölf Jahre alt war, kam Melcher bei einer Prügelei ums Leben. Irgend jemand hatte ein Messer gezogen, nicht unüblich in dieser Gegend. Hinterher ist es keiner gewesen. Die Polizei läßt sich schmieren und guckt lieber weg, als daß sie den Sumpf aushebt. Ich erfuhr es durch Zufall, als ich wieder einmal, was ich ab und zu tue, hierher zum Essen kam. Ich glaube, daß ihm keiner eine Träne nachgeweint hat, und außerdem ist das Viertel voll von seinesgleichen.«

Edwige hielt inne und nestelte eine weitere Zigarette aus der Packung. Sie schien müde.

»Ich hatte nicht vorgehabt«, sie brach ab und sah in die Öffnung mit dem Tabak, dann drehte sie die Zigarette um und besah sich den Filter. »Ich habe nie Zigaretten mit Filter geraucht. Ich finde das widerlich, wenn man sieht, wie sich in dem ehemals weißen Filter die braune Brühe sammelt.«

Sie steckte sich den Stengel in den rechten Winkel ihrer Lippen, nicht sehr elegant, als kehrte sie in jene Zeit zurück, als sie sich samstags ins Flo einladen ließ. Dann nahm sie die Zigarette wieder aus dem Mund.

»Sie sind Amerikaner. Ist es eine Erleichterung, Amerikaner zu sein, wenn man all das hört? Macht es einen Unterschied? Wissen Sie, ich stelle mir manchmal vor – ach, was solls. David ist nun einmal in Deutschland aufgewachsen. Der Rest der Welt macht auch keinen Unterschied.« Sie sah auf und direkt in mein Gesicht. »Und egal, wohin man geht, die Gene bleiben, nicht wahr? Man kann sich seinen Genen nicht entziehen.«

»Aber warum hat Ihr Bruder auf seine Frau geschossen und danach die Waffe gegen sich selbst gerichtet?«

»Mein Bruder auf seine Frau geschossen?«

Ihre Stimme schien wieder in jene Trance zu gleiten, in der sie zu reden begonnen hatte. Einen Augenblick lang fürchtete ich, ihre Kraft reichte nicht aus, die letzten noch verbliebenen Verwirrungen zu lösen. Wie ein Medium, das sich aus den esoterischen Bereichen zurück in die Wirklichkeit quält, schien sie langsam und nur mit Mühe von der Vergangenheit abzulassen.

»Mein Bruder hat nicht auf seine Frau geschossen.«

Sie gab sich einen Ruck, steckte die Zigarette wieder in den Mundwinkel und zündete sie an. Sie stieß die erste Rauchwolke hörbar aus, rief nach dem Kellner. Es sah aus, als sammelte sie Augenblick für Augenblick, um die Zeitpunkte aneinander zu kleben. Es war offensichtlich, daß sie vorher diese Einzelheiten nie zu einer ganzen Geschichte zusammengefügt hatte.

»David hat nicht alle Tassen im Schrank. Er hat kein Verhältnis zur Wirklichkeit – ich meine, er macht sich seine eigene Wahrheit. Ich glaube, es war seine einzige Möglichkeit, diese Kindheit zu überleben.«

Ihr Blick wurde unklar und ihre Gedanken verhedderten sich. Jeden Augenblick konnte es vorbei sein.

»Er ist heute voller Verachtung für die Leute, die ihn großgezogen haben, was weiß Gott nicht immer so war. Manchmal denke ich, er ist sich seiner widersprüchlichen Haltung gar nicht bewußt. Es begann damals im Internat. Irgendein Lehrer ging einen seiner Mitschüler an, der einen Großvater hatte, der eine hohe Nazicharge gewesen war. David steigerte sich in diesen Fall hinein. Er wurde zu seiner Perspektive, zu dem Grund für das unterkühlte, verstockte Verhalten, das mein Bruder ihm gegenüber an den Tag legte. Das Verschweigen der wahren Familienidentität hatte endlich eine dramatisch plausible Wurzel. Dazu paßte der veränderte Name, der ganz banale Gründe hatte. Mein Bruder wollte tatsächlich für einen Nachkommen aus der Firma Perlensamt gehalten werden, aus rein geschäftlichen Gründen. Familienunternehmen. Tradition. Dynastie. Die größenwahnsinnigen Phantasien eines Kleinbürgers, verstehen Sie? Er hielt das für edel. Er wollte so eine Art Rothschild sein. Deswegen kaufte er sich auch das Wappen. David half dieses »Familiengeheimnis«, die stetige Zurückweisung und das peinliche Verhalten dieses Paares zu ertragen, nehme ich an. Vielleicht liegt in der Verschwiegenheit der einen deutschen Generation der Grund für die Märchen der nächsten, und das nennt man dann Vergangenheitsbewältigung. Aber vielleicht ist es tapfer, damit etwas zu machen – egal was. Zumindest birgt es ein gewisses kreatives Potential.«

Sie sah mich unverwandt an. Es schien sie nicht mehr zu interessieren, wen sie vor sich hatte.

»David war in ihren Augen eine Fehlinvestition. Maurice ließ ihn das fühlen. Damals wollte David ganz und gar das Kind dieser Eltern sein. Er verhielt sich wie eine Zecke. Sie versuchten, seinen Körper aus der Familie zu reißen, aber sein Kopf steckte zu tief. Er wußte nicht, was sie von ihm wollten. Er versuchte zu ergründen, wie er ihnen gefallen könnte und scheiterte mit jeder noch so aufwendigen Aktion. Aus jedem Scheitern zog er die falschen Schlüsse, dachte, es reichte immer noch nicht, und suchte nach Neuem, womit er ihre Zustimmung finden könnte. In einem Winter, er war damals in der Nähe von Zürich in einem Internat, veranstaltete er eine Sammlung für die Familien eines Lawinenunglücks. Maurice war entsetzt, daß sein Sohn in der Zeitung abgebildet war. Danach wurde er zum militanten Tierschützer und organisierte Aktionen, die Pelzträgerinnen an den Pranger stellten. Er war mit einer roten Lacksprühdose in Zürich unterwegs und warf Geschäften für Rauchwaren die Scheiben ein. Wieder prangte sein Foto groß in der Zeitung. Maurice drehte fast durch. Die ganze Zeit schrieb David gute Klausuren, zeichnete, malte wie ein Besessener, begabt und erfinderisch, als sporne ihn die Trostlosigkeit zu Hause nur an. Endlich brachte ihn der Ausrutscher dieses Lehrers seinem Klassenkameraden gegenüber auf die ultimative Idee. Er hatte die Lösung gefunden – kurz vor dem Abitur. Er biß sich fest in dem Wahn, einer wichtigen, durch die NS-Zeit geächteten Familie zu entstammen, die durchwirkt von Unstimmigkeiten, Geheimnissen und Selbstverleugnung war. Wie Frankensteins Monster reklamierte das künstliche Geschöpf seinen Schöpfer. Mehr als einmal überlegte ich, ob ich ihm alles sagen sollte. Ich konnte es mir inzwischen leisten, auch finanziell. Aber ich fürchtete, dadurch alles noch schlimmer zu machen. Ich fürchtete, daß er mich haßte. Allein die Vorstellung, er hätte mir nicht geglaubt: unerträglich! Er wußte, daß ich meinen Bruder nicht leiden konnte, aber so sehr er auch mit Alfred zu kämpfen hatte – und erst recht mit Miriam – nach außen hielt er sie hoch. Sie waren die Eltern, die er verehrte, andere hatte er nicht. Sogar Miriam hat er verehrt und immer so getan, als liebte er sie. Ich weiß nicht, was ich getan hätte, hätte er mich eine Lügnerin geschimpft. David ist geltungssüchtig, weit mehr noch und auf ganz andere Art als mein Bruder, charmanter, phantasievoller, aber auch verzweifelter. Er klopft beständig an die Tür, und wenn man öffnet, stürmt er herein. Schlägt man ihm die Tür vor der Nase zu, kommt er durchs Fenster, und wenn er nicht durchs Fenster kommt, preßt er die Nase gegen die Scheibe. Maurice und Miriram waren zu dumm, diese immense Energie umzuwandeln, wie man es oft bei sehr intelligenten Kindern tun muß.«

Es klang trotzig. Als beantragte sie den Schuldspruch für Alfred und Miriam, aber eigentlich meinte sie sich selbst.

»Was ist mit der Sammlung? Wenn es keinen Großvater gab, der sie aus den französischen Privatsammlungen rauben ließ, woher kommen die Bildern dann? Sie tragen auf der Rückseite von den Nazis eingetragene Inventarnummern. Was bedeutet das?«

Sie sah mich hilflos an.

»Ich weiß es wirklich nicht. Vielleicht hat mein Bruder sie gekauft, auf Davids Rat. Er kennt sich aus und hat sehr viel Sinn dafür. Während seiner Schweizer Internatszeit fuhr er oft nach Zürich, Zug und Bern. Schon als Junge sah er sich die Exponate in den Museen an. Er fuhr nach Winterthur und Basel, als er größer wurde. Ich glaube, diese Leidenschaft tröstete ihn. Als Junge hat er wunderschöne Zeichnungen gemacht. Ich schickte ihm Ölfarben, Pinsel und eine Staffelei. Eine Zeit lang hoffte ich, daß er darin aufgehen und seine Stabilität finden würde. Einen Lebensinhalt. Aber dann hat er wieder aufgehört.«

»Es ist unmöglich, daß Ihr Bruder all diese Bilder nach dem Krieg erworben hat. So viele Bilder dieser Güte kann niemand legal in dieser Zeit gekauft haben – es sei denn, er heißt Duke, Getty oder Thyssen. Wir reden über sechs- bis siebenstellige Summen für ein einzelnes Bild!«

»Warum fragen Sie David nicht selbst? Ich halte diese verdammte Sammlung für das geringste Problem.«

Ihre Zunge wurde schwer, die Worte klangen unartikuliert. Sie setzte zur Wiederholung an. Sie wollte nicht glauben, was längst geschehen war.

»Unfaßbar, daß mein Bruder David so unterschätzen konnte. Er hielt ihn für einen Schwächling, nur weil er seiner Durchschnittlichkeit nicht entsprach.«

Und du hast ihn in ihre Arme gelegt, dachte ich, sagte es aber nicht. Es gab noch eine offene Frage.

»Wer hat auf Ihre Schwägerin geschossen – Alfred Perlensamt?«

Sie lachte, als sei sie irre geworden.

»Sie sind atemberaubend in Ihrer Hartnäckigkeit.«

Dann gaben ihre Züge nach. Ich sah, wie alt sie wirklich war. Der Rauch und die schlechte Luft im Lokal hatten ihr Makeup angegriffen, die Frische vom Land ruiniert. Die Aura von normannischer Luft, würzigem Meer, steigenden Wellen – alles verpufft.

»Sie haben recht«, auch ihre Stimme klang schwach. »Sie haben ganz recht, Herr Dr. Saunders, wenn Sie vermuten, daß ich mehr weiß, als ich Ihnen sage. Ich weiß mehr, und ich habe Höllenängste ausgestanden, man könnte dahinter kommen. Ich gebe Ihnen einen Tip. Sie wissen doch, was viele der Nazis machten, sofern sie die Gelegenheit und Mittel dazu hatten. Sie haben sich und ihre Familien selbst liquidiert. Das zeigt Familiensinn, nicht wahr? Der Clangedanke will sagen, daß eine Familie nicht nur das Leben schenken, sondern auch den Tod geben kann. Heute so selten geworden, finden Sie nicht?«

Ich sah, daß sie wieder Höllenqualen litt. Sie fürchtete, durch den Medienrummel, den David inszenieren könnte, käme ans Licht, was sie mir verschwieg. Sie zeichnete mit einem noch unbenutzten Messer etwas, das ich nicht erkennen konnte, in die Tischdecke. Es fiel ihr so schwer, Abschied zu nehmen.

»Maurice hat Miriam geliebt, wirklich geliebt. Es muß für ihn unerträglich gewesen sein, daß sie tot war. Es muß ihm klar geworden sein, daß das eine Strafe des Schicksals war. Er hat sie angenommen.«

Das Restaurant leerte sich.

»Wer hat Ihnen von Patrique Melcher erzählt?«

Ich sagte ihr, die Informationen entstammten einer Mappe ihres Bruders. Alfred Perlensamt hätte verfügt, daß ich mich darum kümmern sollte, die Papiere mit seiner Leiche kremieren zu lassen. Sie nickte nur.

»Ich habe mich dagegen entschieden. Möchten Sie die Unterlagen haben?«

»Ersticken Sie daran.«

Sie stand auf und verließ das Lokal, ohne sich umzudrehen. Ich winkte dem Kellner und bat um die Rechnung. Es war alles bezahlt. Ich hatte mich nicht einmal für das Essen bedanken können. Als ich aus dem Restaurant kam, wurde ich erwartet. Der Mann, den ich zu Beginn des Abends nach Melcher gefragt hatte, lümmelte vor dem Ausgang herum. Er hätte sich umgehört. Melcher erwarte mich. Er könne mich hinbringen. Ich kramte in meiner Hosentasche, hielt ein paar Francs in der Hand und gab sie ihm. Die Vergangenheit war greifbar nah. Hier um die Ecke. Eben. Jetzt. Und alle waren bereit, wieder einzusteigen.