SIEBENUNDZWANZIG

Es regnete in Strömen in dieser Nacht. Ich nahm ein Taxi zurück ins Hotel. Dicke Tropfen klatschten an die Autofenster. Die Wischblätter zogen in hysterischem Rhythmus die Windschutzscheibe ab, von links nach rechts nach links, immer ärgerlicher, immer schneller. Ich hatte dem Fahrer die Adresse genannt. Der hatte nur genickt und gar nicht erst versucht, ein Gespräch anzufangen. Er hatte die glänzende Straße im Auge. Keine Musik im Hintergrund, nur dieser heftige Regen … Im Hotel verkroch ich mich sofort ins Bett. Mein Unternehmungsgeist reichte nicht einmal mehr für eine heiße Dusche. Mir graute davor, nach Berlin zurückzukehren, die Ratlosigkeit über die fulminante Sammlung im Kopf, das Wissen um Davids Herkunft – und Monas neue Obsession.

Die Weihnachtsparty, das übliche Wir danken Ihnen, meine Damen und Herren, daß Sie uns treu geblieben sind stand auch noch aus. Viel Lächeln, freundliche, zimtbestäubte Worte, Tannengeruch und Punsch. Und natürlich David selbst. Perlensamt zwischen Juwelen und Christbaumschmuck. In dem Augenblick, als der Schlaf mich zu sich hinüberzog, ging mir noch einmal durch den Kopf, wie es wäre, Rosie anzurufen und ihr alles zu erzählen. Sie nach einem Ausweg zu fragen. Ich hatte das noch nie gemacht.

Am nächsten Morgen, nachdem ich die Rechnung beglichen hatte, frühstückte ich in einem Café in der Rue de Buci. Hier gab es die besten Croissants der Stadt. Ich sah mir in der Rue de Seine flüchtig einige Galerien an. Wintersonne lag über der Stadt, als ich an der Place St. Germain noch einen letzten Kaffee trank, um von dort aus ein Taxi zum Flughafen Charles de Gaulle zu nehmen.

In Berlin empfingen mich verschneite Boulevards. Ich hatte beschlossen, noch am späten Nachmittag ins Büro zu gehen, um das Wiedersehen mit Mona so schnell wie möglich hinter mich zu bringen. Im Taxi von Tegel nach Charlottenburg spielte ich verschiedene Möglichkeiten durch, wie ich ihr begegnen könnte. Alle Überlegungen stellten sich als überflüssig heraus. Mona war gar nicht da. Henriette saß an ihrem Platz.

»Ach, da bist du ja wieder. Ich sehe gerade die Mails für Mona durch. Sie ist krank. Nun hat es sie endgültig erwischt. Sie hat so lange tapfer gekämpft.«

»Tapfer gekämpft?«

»Ja, gegen die Grippe. Sie hatte noch keine dieses Jahr.«

»Was ist mit dem Rummel?«

»Weihnachten? Doch, wir haben den Empfang gut vorbereitet, nächste Woche Mittwoch. Vielleicht sind manche schon im Urlaub, um so besser. Wir haben ohnehin nicht viel Platz.«

»Einen anderen Rummel gibt’s nicht?«

Ich sah die Post auf meinem Schreibtisch durch, klickte die Mails an, nichts Wichtiges dabei, nichts, was nicht bis morgen warten konnte.

»Welchen sonst? Ja, verdammt, diese Eveline. Entschuldigung, aber es ist wirklich wahr. Ich habe sie abblitzen lassen, jetzt versucht sie es bei Mona mit dem Anzapfen. Ich werde ihr … Gehst du schon wieder?«

Ich ging schon wieder. Man konnte Henriette getrost die Firma alleine überlassen. Im Augenblick konnte ich weder ihr unbeschwertes Geplapper ertragen noch ihr Parfüm. Auch nicht ihre Farben.

Ohne Mona kam mir die Firma fremd vor. Da stellte ich fest, daß ich sie vermißte. Was das sollte, wußte ich nicht. War ich verliebt? Natürlich nicht. Ich war noch nie verliebt gewesen. Jedenfalls nicht in einen Menschen. Aber ich machte mir Sorgen um sie und Sorgen um die ganze Situation, die Verwirrung mit David und darum, daß er es gewesen war, der unsere gute Stimmung in der Firma durcheinander gebracht hatte. Am späten Nachmittag rief ich Mona an. Sie nahm erst ab, als ich bereits einige Worte auf den Anrufbeantworter gesprochen hatte. Sie meldete sich, ohne ihren Namen zu nennen, nur mit »Hallo«.

»Ich komme gerade aus Paris. Ich war extra noch reingekommen, um mit dir zu reden. Henriette sagte, du seist krank.«

Sie antwortete nicht.

»Ich war bei Davids Tante. Vorher habe ich etwas über Davids Sammlung im Fernsehen gesehen.«

Erst als sie aufschluchzte, merkte ich, daß es nicht die Grippe war, die sie zu Hause hatte bleiben lassen. Ich fragte sie, ob ich etwas für sie tun könnte. Sie antwortete nicht. Ich sprach weiter, erzählte ihr das Blaue vom Himmel und von Paris, schwärmte vom Marsfeld und dem Eiffelturm, erzählte irgendeinen Unsinn von der Weite des Horizonts und den dunklen Ahnungen, die die seltsamen Machenschaften der Perlensamts in mir aufkeimen ließen. Ich verschwieg ihr, daß ich David vermißte, und ich verschwieg ihr, daß ich sie vermißt hatte, und daß mir nichts einfiel, was die verfahrene Lage entwirrte. Ich bat sie, irgend etwas zu sagen. Es kam keine Reaktion. Die Leitung war tot.

Es war schon dunkel, als ich, mit Tüten bepackt wie jemand, der Reserven für eine Katastrophe gehamstert hat, bei Mona klingelte. Ich hatte noch mehrmals vergeblich versucht, sie an den Apparat zu bekommen. Also hatte ich ihr die Nachricht hinterlassen, ich würde gegen acht Uhr bei ihr sein.

Als sie mir öffnete, ging ich einen Schritt zurück. Sie sah entsetzlich aus. Die seegrüne Iris ihrer Augen war unter der Schwellung roter Lider verschwunden, ihre Nasenlöcher groß und wund. Eingewickelt in einen gestreiften alten Männerbademantel, mit dicken Socken an den Füßen, starrte mich die zerbrechliche Person wie eine Erscheinung an. Sie stand für einige Sekunden in der Tür, die gelockten Haare wirr um den Kopf, als seien die Verbindungsdrähte zur Wirklichkeit aus der Verankerung gesprungen. Dann drehte sie sich um und ging mit hängendem Kopf und hängenden Armen zurück ins Bett.

Am anderen Ende des Lofts, auf dem Küchentresen, packte ich die mitgebrachten Sachen aus. Währenddessen plapperte ich ähnlichen Unsinn wie am Telephon. Ich legte ihr ein paar ausgedruckte E-Mails aufs Bett, warf einige Erklärungen dazu ab und beruhigte sie, daß es nichts Dringendes gäbe. Ich wollte zurück zur Küche gehen, um uns etwas zu essen zu machen, als ich ein Klopfen an der Balkontür hörte. Mehrmals. Hastig. Erst zaghaft, dann dringlich im Rhythmus. Als ich öffnete, saßen die beiden Tauben davor. Sie flatterten in den Raum, gurrten, liefen herum, verdreckt und räudig. Sie stanken und erinnerten mich an den Wellensittich eines Schulfreundes, der sich in mystischer Selbstverstümmelung die Federn ausgerupft hatte. Das Delirium seines Todeskampfes hatte mich so seltsam berührt, daß ich den Kontakt zu meinem Schulfreund abgebrochen hatte. Als ich jetzt die Vögel sah, überkam mich für einen Augenblick die gleiche Verwirrung wie damals. Wie war es möglich, daß das so ferne Geschehen in und um Perlensamts Familie dicht genug an uns herangerückt war, um mit den eigenen Empfindungen zu verwachsen?

»Dürfen sie herein?«

Die Chinesischen Mövchen flatterten zur Küche. Eine Taube stürzte sich auf das Grünzeug, die andere plumpste in die Spüle, die ich mit Wasser gefüllt hatte, um den Salat zu waschen.

»Mona, die reden nicht mit mir.«

Ich überließ ihnen einige Blätter und etwas Brot und scheuchte sie wieder in Richtung Balkon. Er war mit Taubenexkrementen verdreckt, ihre Näpfe leer.

»Mona, sie haben Hunger. Was fressen sie?«

Mona starrte auf die gurrenden Tauben, blicklos, dumpf und sehr kindlich.

»Mona, hörst du mich? Ich muß diese Tiere füttern, oder willst du sie verhungern lassen. Was soll ich mit ihnen machen? Sie köpfen und in die Pfanne hauen?«

Die einzige Antwort, die ich bekam, waren dicke Tränen. Sie lösten sich aus Monas Augenwinkeln und rollten langsam ihre Wangen hinab. Ich mußte an ein deutsches Märchen denken, dessen Titel mir nicht in den Sinn kam. Eine Prinzessin weint darin Perlen. Sie verfangen sich im Schoß ihres Kleides. Das edle Fräulein ist so untröstlich, daß in ihrem Schoß ein Berg bleich schimmernder Preziosen entsteht. Ihr Vater rettet damit schließlich sein verschuldetes Königreich. Keine Ahnung, was das Märchen zu bedeuten hat. Ich fand Kummer und Tränen nie zu etwas gut. Ich rannte herum und suchte nach Trost, nach Kalauern, nach einem Buch über Taubenhaltung, nach Vogelfutter und einem Echo in mir. Dann gab ich auf. Ich hatte schon den Mantel an, als das Telephon klingelte. Langsam drehte Mona den Kopf in Richtung Apparat. Nach dem Signal hallte Perlensamts Stimme durch den Raum.

»Hey, Lady, ich wollte mal hören, wie es so geht. Hast du Lust, irgendwo einen Cocktail zu trinken? Ruf mich auf dem Mobile zurück, wenn du das abhörst.«

Mona sprang aus dem Bett. Sie rannte ins Bad und knallte die Tür hinter sich zu. Ich konnte hören, wie sie sich übergab.

Am liebsten hätte ich dasselbe getan. Ich hatte David nie gemocht, wenn er vulgär wurde. Es war eine Seite an ihm, die ich nicht einzuordnen wußte. Auf unerklärliche Weise machte es mich wütend, wenn David sich so vergaß. Ich zog den Mantel wieder aus und öffnete den Rotwein. Ich hörte, wie Mona im Bad die Wanne vollaufen ließ, goß den Wein ein und nahm einen kräftigen Schluck. Auf der Anrichte lag ein vertrocknetes Brot. Neben dem Becken türmte sich dreckiges Geschirr. Auf dem Tresen, der die Küche vom Rest des Raums trennte, stand eine Vase mit verwelkten Blumen. Daneben lag das kleine Stemmeisen, auf das Mona so stolz gewesen war. Das Wasser rauschte immer noch in die Wanne, als ich in einem weiteren großen Zug das Glas leerte, das Stemmeisen nahm und mit der rückwärtigen Kante auf das Brot eindrosch. Es war so hart, daß es in Stücke sprang. Ich drosch auf den Stücken weiter. Als sie zerbröselten, drosch ich auf die Brösel ein. Die Badezimmertür sprang auf. Mona stand patschnaß vor mir, notdürftig in ein Handtuch gewickelt.

»Hast du den Verstand verloren?«

Sie war hellwach. Ihre Wangen glühten. Sie hatte Schaum im Haar. Ihre Augen glänzten dunkelgrün, so wie sie früher geglänzt hatten, als sie noch dachte, Courbet hätte das Bild vom Meer nur ein einziges Mal gemalt.

»Mein Gott, Martini, du hast wirklich den Verstand verloren, du weinst ja.«

»Sind nur die Nerven. Ich habe tatsächlich Angst um dich gehabt.«

Sie goß Rotwein in mein Glas und trank es aus. Dann kam sie auf mich zu, wischte an meinen Gesicht herum, stellte sich auf die Zehenspitzen, was nicht unbedingt nötig gewesen wäre, denn weder war ich so groß noch sie so klein, und küßte mich auf die Nase. Es kribbelte leicht. Dabei fiel das Handtuch hin, was mir peinlich war. Mona war auf einmal gesund genug, um darüber zu lachen. Ich räumte die Schweinerei beiseite und bereitete das Essen zu, während sie sich anzog und noch hinter dem Paravent zu plappern begann.

»Ich konnte dir von meinem Verdacht nichts erzählen. Du warst so unberechenbar. Ich wußte nicht, ob du nun auf Davids Seite oder mißtrauisch ihm gegenüber warst. Als David zusammenbrach, dachte ich, wenn ich mich um ihn kümmere, habe ich Gelegenheit, mich in der Wohnung umzusehen. Die einzige, die mich störte, war diese Haushälterin. Sie mochte mich nicht. Sie taperte immer hinter mir her, kam in jeden Raum, in dem ich war. Ich glaube, sie dachte die ganze Zeit, daß ich was klauen wollte. Ziemlich geistesgegenwärtig, oder?«

»Die Haushälterin?«

»Nein, daß ich auf die Idee kam, David zu betreuen.«

»Das war der Grund? Ich hatte keine Ahnung, daß du schauspielerisch begabt bist. Und warum hast du das moralische Theater gemacht?«

»Du reizt einen manchmal dazu. Du bist so – emotional unabhängig, so unberührt von allem. Du scheinst niemanden zu lieben, niemanden zu hassen und niemanden zu brauchen. Du tust einfach, was du willst.«

Ich wußte nicht, was mich plötzlich zu ärgern begann. Ich hatte mir wirklich Sorgen um Mona gemacht. Aber was, wenn der Zustand, in dem ich sie eben angetroffen hatte, auch taktisches Theater gewesen war? In jener Sekunde, als sie sagte, Martini, hast du den Verstand verloren, hätte ich die Zeit anhalten sollen. Ich hätte mich aufschwingen sollen zu der Uhr, nach der die Weltzeit tickt, wie Harold Lloyd es tut in Safety Last, mich an den Zeiger hängen und dort bleiben oder gemeinsam abstürzen mit der Zeit. Ich hätte mich opfern sollen für diesen einen Augenblick, der in mir die Spur eines Erkennens hatte aufkommen lassen, ähnlich jenem, als ich David zum ersten Mal mir gegenüber sah. Es waren zwei Augenblicke, die nichts miteinander zu tun hatten, herausgerissen aus mir, wie es schien, verbindungslos zueinander, unvereinbar und mir unerklärlich, und doch hatten sie etwas Ähnliches hervorgerufen. Erleichterung. Verwunderung. Glück.

Aber diesen Momenten folgte die verdammte Erkenntnis, daß Monas Zeit ohne meine fortgeschritten war. Auch Davids Zeit schritt ohne mich fort. Wie Rosies Zeit. Meine Wut schwoll an. Zum zweiten Mal an diesem Abend verging mir der Appetit. Mona merkte von all dem nichts. Sie plapperte weiter.

»Ich habe vollkommen vergessen, daß ich noch mit jemandem verabredet bin. Du bist ja jetzt wieder in Ordnung. Wein steht hier, Salat ist fertig, du brauchst das Steak nur noch in die Pfanne zu hauen. Wie gesagt, es gibt nichts Dringendes, und die ausgedruckten Mails liegen auf deinem Bett.«

Schon war ich draußen. Wieder drin in dem seltsamen Reigen, der ein Mißverständnis an das andere setzte und auf meiner Zunge den altbekannt bitteren Geschmack hinterließ. Als ich unten auf der Köpenicker Straße stand, atmete ich aus. Der Ärger war noch nicht verschwunden, aber deutlich geringer. Ich fühlte mich gerettet, obwohl ich ahnte, daß ich es nicht war. Vor allem aber mußte ich nicht darum fürchten, unter Beobachtung noch einmal auszuflippen.