ZEHN

Am nächsten Tag rief ich noch einmal bei Perlensamt an. Der Apparat klingelte ins Leere. Zwei Tage später kam eine Einladung von David. Zu einer Party. Ich bat Mona, mitzugehen.

»Warum? Du weißt, daß er mir nicht sonderlich sympathisch ist.«

»Ich will einfach, daß du diese irre Sammlung einmal siehst. Der Courbet ist ja jetzt geklärt – Perlensamt hat wohl nichts damit zu tun. Aber für dich ist es doch interessant, eine solche Privatsammlung zu kennen. Und wenn sich die Gelegenheit so bietet.«

Ich schwindelte. Der tatsächliche Grund, warum ich Mona um ihre Begleitung bat, war wohl, daß ich mich unbehaglich fühlte, seit ich mit Davids Tante gesprochen hatte. Erst Davids Anhänglichkeit, dann sein Verschwinden, seine Unberechenbarkeit und nun die Andeutungen von Edwige über die Familie ihres Bruders. Ich wußte immer weniger, wie ich David einschätzen sollte, obwohl ich immer noch von ihm angezogen war – oder nur von der, wie soll ich es nennen: tragischen Situation? Vielleicht sogar war ich mehr denn je angezogen von dem, was ich mit David erlebte. Ich konnte es mir nicht erklären. Ich wollte ihn wiedertreffen.

»Kommst du?«

»Ich weiß nicht, was ich zu der Party von diesem Typen anziehen soll.«

»Das kann ja wohl nicht das Problem sein.«

»Wenn du mir hilfst, sicher nicht.«

Mona hatte so lange herumgenörgelt, bis ich versprach, zu ihr nach Hause zu kommen. Das Wetter war noch immer schön, aber endlich war es kühler geworden. Mona wohnte in einer ziemlich angesagten Gegend, direkt an der Spree, kein gängiges Wohngebäude, sondern ein ehemaliges Lagerhaus. Der Lastenaufzug hielt auf ihrer Etage und führte mich übergangslos in einen großen Raum. Die Fensterfront war riesig und öffnete den Blick aufs Wasser. Mona stand inmitten eines bunten Durcheinanders, sie glich einer Zirkusprinzessin, die bereit ist, die Löwennummer vorzuführen. Der Raum strahlte trotz seiner Größe eine heitere Atmosphäre aus und demonstrierte erneut Monas Unabhängigkeit gegenüber Konventionen. Was ich an ihr bewundere, ist, daß sie tatsächlich nirgendwohin will. Ehrgeiz ist ihr ebenso fremd wie Neid. Sie liebt alles so, wie es ist. Mir war ganz und gar nicht plausibel, warum ausgerechnet ich dieser Frau, die so sicher mit sich und ihrer Umgebung umzugehen wußte, bei der Kleiderauswahl helfen sollte.

Ein riesiges Eisenbett stand mitten im Raum, rechts und links davon Tische mit Lampen. Daneben Kleiderständer, wie man sie backstage benutzt. Daran hing, den Farben nach geordnet, Monas Garderobe. Auf der linken Seite schloß sich ein Paravent an, bemalt mit chinesischen Motiven. In einer entfernten Ecke war eine lose zusammengewürfelte Küchenzeile. Verstreut im Raum standen ein paar äußerst spartanische Stühle. Neben der Küche befand sich eine Tür, hinter der vermutlich das Badezimmer war. An den rohen Wänden hing Kunst von bekannteren und unbekannten Künstlern der Gegenwart.

»Wenn du nicht hart sitzen willst, mußt du aufs Bett. Meine beiden einzigen Sessel sind gerade zum Aufpolstern weg.«

Sie riß die Fenstertür auf, die zur Spree hinaus ging. Davor lag ein Balkon, der dicht mit Gemüse und Kräutern bepflanzt war.

»Nicht schlecht.«

»Gefällt es dir? Ich hab es selbst renoviert. War eine Bruchbude, als ich das Ding kaufte. Vorsicht, wenn du auf den Balkon trittst, rechts oben wohnen Nick und Nora.«

»Wer?«

»Nick und Nora, ein Taubenpaar, zwei chinesische Mövchen. Die Küken hab ich noch von Paps. Wir schickten uns während meiner ganzen Studienzeit Briefe durch Tauben. Viele Leute im Pütt hatten früher weiße Brieftauben.«

»Viele Leute wo?«

»Im Pütt, im Bergbau. Brieftauben stehen für Freiheit, Weite, Höhe und« – sie sprang lachend in die Luft und rundete die Arme wie eine Ballerina über ihrem Kopf: »Eleganz in der Bewegung. Leider stirbt die Tradition aus. Aber das ganze Kohlerevier liegt schließlich in den letzten Zügen.«

Ihre Stimme klang warm. Ich konnte gar nicht anders, als ihr das Märchen von den beiden turtelnden Tauben zu glauben. Ich trat auf den Balkon, der Blick auf die Spree war beeindruckend. Mona würde sich wundern, wenn sie den Plüsch der Perlensamts zu sehen bekäme – samt der Düsterkeit, die man dort für stilvoll hielt.

»Willst du was trinken? Wasser, Wein? Einen Pastis?«

Ich sah mich um.

»Gern.«

»Setz dich aufs Bett.«

Das tat ich natürlich nicht. Ich stand mit dem Glas in der Hand einfach herum. Es war mir unvorstellbar, mich in die aufgetürmten Kissen fallen zu lassen wie ein Pascha auf einen Diwan.

»Warum macht er die Party? Hast du eine Idee, wer diese Leute sind? Große Namen und alle sind miteinander verwandt?«

Mona trug ein einfaches Kleid, kurz und schwarz. Die roten Locken hochgesteckt. Selbstverständlich war meine Hilfe unnötig gewesen. Es hatte kaum eine halbe Stunde gedauert, und sie hatte ihre Wahl getroffen, nachdem sie fünf oder sechs Kleider nacheinander anprobiert hatte. Mit gerunzelter Stirn war sie hinter dem Paravent hervorgekommen und durch den Raum stolziert. Sie drehte sich vor dem Spiegel und kehrte dann zu ihrem Verschlag zurück. Währenddessen murmelte sie zusammenhangloses Zeug, auf das ich mir keinen Reim zu machen wußte … es wird nicht klappen … das nimmt mir keiner ab … traue dir selbst … dein Instinkt für faule Tomaten … man darf nicht pingelig sein … tun, wovor man sich fürchtet … Offenbar vergaß sie, daß sie nicht alleine war.

»Vermutlich, wie bei deiner Freundin Hatty von Schnapsburg.«

Ich wartete auf ein genervtes Sie ist nicht meine Freundin, sie ist … Es kam aber nicht. Mona schien in den Anblick versunken, der sich ihr bot. Sie sondierte offensichtlich die Lage. Gab es etwas, das sie reizte? Sie war durchaus im Stande, Leute zu grillen. Sie hatte bei Geschäftsterminen in größerem Kreis lächelnd über die Koseformen großartiger Namensträger gewitzelt, während Dickie, Klunki und Pösschen von Dingenskirchen daneben standen. Inmitten des hochkarätigen Pulks hatte Mona genäselt Dosenbier? Ich mache nur zwei Arten von Dosen auf, Katzenfutter und Kaviar. Die gepuderten Gören erkundigten sich bereits diskret nach Monas Herkunft, Herbarth, ich bin mir nicht sicher, ich glaube, eine Freundin meiner Mutter ist eine geborene Herbarth, als diese mit Inbrunst zu erzählen begann, wie ihr Vater verschütt gegangen sei.

»Verschütt? Wie meinen Sie das, meine Liebe? Sie kannten Ihren Vater nicht?«

»Im Bergwerk verschüttet, Gräfin Westerhold. Mein Vater ist Hauer gewesen.«

Mir war zum Lachen und zum Weinen zumute. Aber mir verklebte eine solche Meute die Atemwege. Mich erinnerte das Szenario an Stephen Birminghams Our Crowd, ein Buch über die großen alten jüdischen Familien New Yorks, das bei uns zu Hause jeder kennt. Ich habe nie gelernt, mit solchen Verhältnissen umzugehen, obwohl ich gestehen muß, nicht nur dieses Buch, sondern auch andere, die das Innenleben der oberen Krusten schildern, verschlungen zu haben. Überhaupt alles, was von denen da oben handelt. Ich haßte es, ein Aufsteiger zu sein. Rosie stünden die Haare zu Berge, wüßte sie, was ich denke, nein schlimmer noch – wie ich mich fühle. Unamerikanisch hätte sie das genannt und sich angeekelt abgewandt. Daß ich mir eine Sehnsucht, die meine Mutter absurd gefunden hätte, eingestehen mußte, hatte mich immer verwirrt. Ich kam mir ihr gegenüber vor wie ein Versager. Schon als Junge hatte ich mich gefragt, wie es Rosie gelang, einfach darüber hinwegzugehen, woher sie kam und was sie als Kind alles nicht gelernt und gehabt hatte.

Ich hätte gern dazugehört. Das war mir klar geworden, als ich zu Besuch in den Elternhäusern meiner Kommilitonen war. Obwohl es bei uns heißt, man müsse sich nur nehmen, was man nicht hat, hingen die Bronzinos, die Renoirs, die Picassos für mich immer zu hoch. Und auch mit Hilfe einer Leiter hätte ich nur ein Bild gehabt, aber nicht die Familiengeschichte, in die es gehörte. Wo hatte Rosie nur ihre Gelenkigkeit her?

Ich sah mich um und staunte. Wenn Perlensamt mich hatte verblüffen wollen, dann war ihm das gelungen. Jetzt verstand ich, was David mit seinem Anruf am frühen Abend gemeint hatte.

»Tust du mir einen Gefallen? Wenn du gleich kommst – es wäre mir lieber, du erwähntest auf der Party nicht, daß unsere Familie diese Sammlung hat.«

»Aber, das kann doch jeder sehen!?«

»Bis nachher.«

Monas Frage riß mich aus meinen Gedanken.

»Wo ist das Bild vom Meer?«

»Was?«

»Bitte! Du träumst schon wieder, Martini. Der Courbet und die anderen Bilder, von denen du so geschwärmt hast, wo sind sie?«

Die Wand sah aus, als hätte die Welle die anderen Bilder weggespült und sich dann selbst geschluckt. Ich erholte mich gerade von meiner Verblüffung, als Perlensamt auf uns zukam. Er breitete die Arme aus, um seinen Mund spielte ein ekstatischer Zug.

»Meine Ehrengäste. Ich freue mich außerordentlich, Frau Herbarth, Sie bei mir zu sehen.«

»Aber ich bin nur ein Mitbringsel. Ich war nicht eingeladen, Herr Perlensamt. Danke, daß ich mitkommen durfte – obwohl wir uns nur so flüchtig kennen.«

»Ach, Martin, deine Kollegin ist wirklich erfrischend! Kommt, ich mache euch mit einigen der anderen Gäste bekannt.«

Er führte uns zu einer Gruppe von fünf Leuten, die sich eifrig unterhielten und dabei sehr gelangweilt aussahen.

»Es ist furchtbar, den Himmel schwarz zu sehen, wenn die Sonne scheint«, tönte es aus einem rosa Hemd mit riesigem Kragen, das glänzte, als sei die Oberfläche mit Margarine beschmiert. Aus dem Kragen lugte ein Schopf schwarzer Haare, farblich passend zu einem schmalen Oberlippenbart. Ich ging davon aus, daß der zart rot geschminkte Mund einem Mann gehörte, auch wenn die Stimme hoch und nasal klang. David wurde am Ellenbogen gepackt, herangezogen und auf die Wange geküßt. Eine etwas hölzern wirkende Dame kläffte, als fürchtete sie, überhört zu werden.

»Nennt man das nicht Sonnenfinsternis?«

»Das geht doch allen Künstlern so. Das ist doch die Seele des Künstlers. Das kann man doch nachlesen bei Bonito Oliva.«

»Das ist Manierismus.«

»Da gab’s doch mal so’n Film von einem Italiener – ziemlich modern, L’eclisse hieß der. Wie hieß der denn noch mal?«

»Ich dachte, L’eclisse,«

»Nein, der Regisseur, so’n moderner Italiener.«

»Basquiat.«

»Schnabel.«

Die Gesellschaft, die David versammelt hatte, wirkte geisterhaft. Als hätte der halbwüchsige Sohn des Hauses heimlich ein paar dubiose Gestalten zusammengetrommelt, um einen drauf zu machen.

»Was halten Sie denn von den herrlichen Bildern, die Herr Perlensamt –«

»Entschuldigen Sie uns einen Augenblick«. Ich zog Mona beiseite. »Halt die Klappe. Ich habe Perlensamt versprochen, mit keiner Silbe zu erwähnen, was er hier hängen hatte.«

Ich nahm zwei neue Gläser von einem Tablett und wies mit einer vorsichtigen Geste zur Wand, an der vormals die Petersburger Hängung zu sehen war. Die blanken Flächen wirkten wie ein Manifest, das besagte, der Bewohner dieses Appartements sei Anhänger einer Sekte von Ikonoklasten.

»Und warum?«

»Er rief mich vor der Party an und bat mich darum. Ich würde nur zu gerne wissen, was das alles soll. Vielleicht hat es doch mit unserem Courbet zu tun. Es sieht so aus, als hätte er die Party einzig gegeben, um bestimmten Leuten zu zeigen, daß er keine Kunst sammelt. Bloß – wem?«

»Was in seinen Kreisen sicher nicht üblich ist. Meine Güte, was ist das bloß für ein Wachsfigurenkabinett? Was hat es mit dieser Sammlung auf sich? Und der Name? Sagt mir nichts«, raunte sie und nippte an ihrem Glas. Der Kellner wandte sich mit dem Tablett an die nächsten Gäste. Seine offenbar mit Plättchen versehenen Schuhsohlen klackten wie Steppschuhe auf dem polierten Steinboden.

»Hattest du nicht auch erwähnt, sie hätten hier ziemlich tolle Teppiche gehabt?«

»Wahrscheinlich hatte ich eine Erscheinung, und darunter fielen auch die wunderbaren Teppiche. Wie findest du ihn?«

»Den nackten Boden?«

»Unseren Gastgeber.«

Sie zuckte mit den Schultern.

»Er wirkt ein wenig überspannt, ein bißchen irre. Dieses Flackern in seinem Blick. Aber den Raum finde ich schön. Ganz anders, als ich ihn mir vorgestellt hatte.«

Ehe ich darauf antworten konnte, stand David wieder neben uns. Er zog uns mit sich und stellte uns ein französisches Ehepaar vor, das für Berlin schwärmte. Wie sehr die Stadt sich seit dem letzten Besuch verändert hätte. Daß sie sich täglich vor ihren Augen weiter veränderte. Sie seien jedes Jahr hier. Woher käme in Berlin nur das Geld? Berlin sei die einzige europäische Stadt, in der man sich noch ein außergewöhnliches Leben leisten könne, interessant für Ausländer, auch für Franzosen. Es gäbe inzwischen sogar ein paar ganz gute Restaurants. Diese Jahre könnten in Berlin zur Legende werden wie die Zwanziger in Paris, die Dreißiger in New York und die Sechziger in London. Mona wurde abgelenkt von einer schrillen, korpulenten Erscheinung, in der sie eine Sammlerin von Armbanduhren zu erkennen glaubte. Sie sagte, sie hätte ein Angebot für sie, Cartier, dreißiger Jahre. Ich hielt das für Unsinn. Ich glaube, Mona hatte bereits die Nase voll von den Leuten. Ich blieb mit dem französischen Paar alleine zurück.

»Sie kommen auch aus Paris? Kennen Sie sich über Davids Tante?«

Die Draines kamen aus Paris, wußten aber gar nicht, daß es eine Tante gab, die in Paris lebte. Eigentlich wußten sie überhaupt nichts. Sie verloren kein Wort über die Abwesenheit des Vaters und den Tod der Mutter. Scheinbar wunderten sie sich auch nicht über die veränderte Ausstattung der Wohnung. Sie standen wie bezahlte Statisten in der veränderten Kulisse. Der ohnehin nicht kleine Raum wirkte jetzt um vieles größer und vor allem heller, da die Wände einheitlich in eine lichte Aprikosenfarbe umgestrichen worden waren. Auch die Fenstervorhänge waren neu. Helles Beige mit floralen Stickereien in Grün, Rosa und Rot. Für wen hatte David diesen Abend inszeniert? Für die Draines ganz bestimmt nicht. Ich winkte dem Kellner, der jetzt mit Stremellachshäppchen unterwegs war. Ich lobte vor den französischen Gästen ausführlich diese preussische Spezialität, erklärte ihnen das Zubereitungsverfahren, was die Gäste einigermaßen fassungslos machte, und ließ sie dann mit kopfnickender Ermunterung alleine weiterkauen.

In einem Erker entdeckte ich David mit Mona. Sie schimmerte in dieser Umgebung wie ein Porträt von Bronzino. David redete auf sie ein. Den Rest der Gesellschaft hatte er aus den Augen verloren. Die Party war ein Spuk. Die Gäste schienen sich überhaupt nicht zu kennen und auch mit dem Gastgeber nicht besonders vertraut zu sein.

»Nun, Martin, gefällt es dir?«

»Ich habe eine gewisse Schwäche für Bronzino«, sagte ich so kühl wie möglich und blickte Mona an. »Und wo ist er nun?«

»Den hat mein Großvater leider nie in seiner Sammlung gehabt.«

»Der Ehrengast, ich meine natürlich ihn!«

»Ich verstehe dich immer noch nicht.«

»Der- oder diejenige, dem du mit dieser Einladung klar machen willst, daß es hier nichts oder nichts mehr zu sehen gibt.«

David tat erstaunt. »Wie kommst du auf eine solche Idee? Ich hatte nach allem, was passiert ist, die Nase voll von diesen düsteren Räumen. Ich kam mir schon als Kind immer vor wie in einem venezianischen Palazzo. Ich glaube, ich bin einer der wenigen Menschen, die Venedig abgrundtief widerlich finden. Meinetwegen könnte die gesamte Stadt absaufen. Ich habe nicht viel übrig für Vergangenes. Das Problem ist nur, daß das Vergangene darauf keine Rücksicht nimmt. Die neu gestalteten Räume sind – sehr privat gesprochen – eine Zäsur, der Versuch, sich auch optisch von einer Vergangenheit zu lösen.«

»Was meinen Sie denn damit?«

»Die Sammlung, liebe Mona, ist die Manifestation der Geisteshaltung unserer Familie. Mein Großvater hat sie in der NS-Zeit angelegt. Man schwieg darüber. Aber die Bilder sprachen für sich. Die ganze Wohnung einschließlich der Bilder ist, wenn Sie so wollen, ein Asservat. Eigentlich ist es kaum möglich, sie aufzulösen. Und doch habe ich mich mit der ersten Veränderung an die Auflösung gewagt.«

Für einen kaum wahrnehmbaren Moment berührte er mich oberhalb der rechten Hand. Wein schwappte aus seinem Glas und durchnäßte meine Hemdmanschette. Es sah aus wie ein Mißgeschick. Aber ich wußte, daß es Absicht war.

»Ich wollte Ihnen zeigen, daß ich es gewagt habe, den gefährlichen Versuch zu unternehmen, den verdammten Kreis, in dem die Familie seit zwei Generationen gefangen ist, zu durchbrechen.«

Mona starrte ihn an, als hätte er sie hypnotisiert. Ich hätte geschworen, daß sie in einer solchen Situation demonstrativ anfangen würde, zu pfeifen. Aber sie war von David eingenommen. Er hatte etwas in ihr angesprochen, zu dem ich keinen Zugang hatte. Ich mußte sie hier wegbringen, bevor etwas geschah. Irgendwie. Und wenn ich sie tragen müßte.

»Warum sind Sie denn nie ausgezogen?«

»Ich wohne seit langem nicht mehr ständig hier. Studiert habe ich in New York. Danach habe ich mich aufs Land zurückgezogen. Aber selbst …«, David senkte den Blick auf seine Schuhe – teuer, Pferdeleder, dunkel rot, gut eingelaufen, mit Troddeln, ich hatte sie noch nie an ihm gesehen – »… während meiner Abwesenheit gab ich mein Zimmer hier niemals ganz auf. Meine Mutter … Wir standen uns sehr nah. Ich brachte es nicht übers Herz.«

Ich hatte Edwiges Stimme im Ohr, die mir unaufgefordert von Mutter und Sohn berichtet hatte. Ihre Version war anders. Einer von beiden erzählte ein Märchen.

»Ich bin meiner Mutter sehr ähnlich, bis aufs Haar.«

Was sollte der Mist? Was erzählte David da? Ich machte Mona ein Zeichen, wir sollten gehen. Sie reagierte nicht.

»David Perlensamt, sagen Sie mir Ihr Sternzeichen. Sagen Sie mir, wann genau Sie geboren sind.«

Oh, nein, das durfte jetzt nicht kommen. Nicht dieser Quatsch mit dem Kaffeesatz und dem doppelten Boden in der Luft. Für diesen Tick hatte ich wirklich nichts übrig. Ich ließ die beiden stehen. Fast gleichzeitig mit einer in elegantes Samtblau gekleideten Dame nahm ich ein Glas vom Tablett und stellte mich vor. Sie reagierte nicht ganz so befremdet wie die Gäste bisher.

»Karin Nettelbeck, angenehm.«

»Wie darf ich Sie einordnen? Eine Freundin der Familie Perlensamt?«

»Eine Freundin? Ich weiß nicht, ob diese Familie Freunde hat. Die Pferde von Miriam Perlensamt stehen im selben Stall wie meine. Wir kannten uns vom Reiten und halfen uns gelegentlich aus, wenn eine von uns in Ferien war. Ich habe David auf der Beerdigung seiner Mutter kennengelernt. Irgendwann rief er mich an und fragte, was er nun mit den Pferden machen sollte. Und dann lud er mich zu dieser Party ein. Etwas eigenartig hier, meine ich. Ein bißchen so stelle ich mir das 19. Jahrhundert vor. Ist das wilhelminisch?«

»Ich bin in Stilfragen leider nicht sehr bewandert. Sind Sie zum ersten Mal in dieser Wohnung?«

»Allerdings, und das habe ich auch nur Miriams Tod zu verdanken. Sie machte immer den Eindruck, als würde sie eher ihre Tür vernageln als auf die Idee kommen, eine Einladung auszusprechen.«

Als ich erneut nach Mona und David Ausschau hielt, traf ich nicht einen Menschen, der zuvor schon einmal an diesem Ort gewesen war. Es war gut möglich, daß ich der einzige war, der die Wohnung in ihrem alten Zustand gesehen hatte. Perlensamt und Mona waren verschwunden. Niemand schien den Gastgeber zu vermissen. Ich machte mich auf die Suche und fand die beiden im hinteren Korridor.

»… einige Zeit vor der Nacht, in der mein Vater auf sie schoß, hatte sie immer wieder asthmatische Anfälle gehabt, und so entschloß ich mich, für einige Tage hier zu wohnen. Ich wollte in ihrer Nähe sein, wenn sie mich bräuchte. Deswegen war ich in letzter Zeit fast Tag und Nacht im Haus. So kam es, daß ich meinen Vater überraschte. Ich muß gestehen, ich hatte so eine Ahnung gehabt, daß dergleichen geschehen könnte.«

Wieso sprach er mit ihr darüber? Mit mir hatte er nie über den Tod seiner Mutter gesprochen.

«Warum hat Ihr Vater auf Ihre schlafende Mutter geschossen?«

»Warum tötet man im Schlaft Weil man nicht wagt, dem Opfer in die Augen zu sehen. Vielleicht ist das Opfer gar kein Opfer, sondern der Täter.«

Er hatte also doch eine Theorie.

»Sähe man seinen Blick, gelänge die Tat der Befreiung nicht. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß er gemeinsam mit ihr sterben wollte.«

Sie standen während des ganzen Gesprächs in der Dunkelheit, mit dem Rücken zu mir.

»Wo ist es passiert«, hörte ich Mona fragen.

»In dem letzten Zimmer ganz am Ende des Gangs. Ich bin nicht mehr drin gewesen, seit die Untersuchungen dort stattgefunden haben.«

Sie sahen sich nicht einmal um, wer da gekommen sein könnte, so vertieft waren sie in ihr Gespräch.

»Sie treibt Sie nicht um, die Frage nach dem Grund? Sie haben ihn nie gefragt?«

»Sie sind befremdet, liebe Mona. Aber Sie müssen verstehen, daß ich seit Wochen nichts mehr fürchte als diese Frage. Ich selbst plage mich Tag und Nacht damit, ohne daß ich meinen armen Vater damit behelligen kann.«

»Sie können ihn nicht behelligen?« Zum ersten Mal an diesem Abend erkannte ich Monas Tonfall wieder. »Es war Ihre Mutter, die er erschossen hat. Wer, wenn nicht Sie, hat ein Recht zu erfahren, warum er tat, was er tat.«

David ließ sich nicht aus der Reserve locken. »Mein Vater steht unter Schock. Ich werde kein vernünftiges Wort aus ihm herausbekommen. Abgesehen davon gibt es etwas zwischen Mann und Frau, zu dem ein Kind keinen Zugang hat. Mein Vater wollte, daß sie beide sterben. Es war das Geheimnis eines Ehepaars. Ich bin in meinen Spekulationen darüber befangen. Deswegen suche ich auf andere Art nach der Antwort. Kommen Sie.«

Er zog Mona in einen Raum hinein und ließ die Tür ein Stück weit offen. Ich ging ihnen nach. Ich traute meinen Augen nicht. Der Raum war bis auf zwei Wandkandelaber dunkel. Der Schein der Kerzen wurde durch einen gegenüberliegenden Spiegel verdoppelt. In der Mitte, auf einem orientalisch anmutenden Kissenberg, saß eine Frau im Schneidersitz. Ihre Lippen bewegten sich langsam. Man hörte nichts.

»Wer ist das?«

»Marie Andramovic. Ein Medium.«

Ich konnte mich nicht länger beherrschen. »Du glaubst an so einen Unsinn?«

»Nicht so laut, Martin, du störst ihr Feld. Sagen wir so – ich halte die Magie verschiedener Sphären nicht für Unsinn. Es gibt Magnetfelder. Das ist physikalisch nachweisbar. Allein die Erdanziehungskraft …«

»Ja, und die Bewegungen der Planeten und Sterne, die Umlaufbahnen, was sie anziehen und abstoßen …«

»Sehr richtig, Mona. Es ist eine physische Angelegenheit. Man muß begabt sein. Aber man muß auch die Konzentrationsfähigkeit erlernt haben, ohne die es unmöglich ist, auf die richtige Spur zu kommen. Man muß die Sphären hören lernen, so wie ein Radiologe lernt, eine Sonographie zu lesen. Marie ist eine der besten. Sie ist russischer Abstammung, ausgebildet in New York bei Adelaide Bride, einer Grande Dame ihres Fachs.«

Als ich den Namen hörte, verschluckte ich mich an der eingesogenen Luft. Mit einem heftigen Hustenanfall ging ich aus dem Zimmer. Adelaide Bride. Vielleicht hatte ich mich verhört. Ich wollte mich verhört haben. Es dauerte eine Weile, bis sich meine Bronchien beruhigt hatten. Endlich kamen auch Mona und David wieder aus dem psychedelischen Raum. Mona schien beeindruckt. Sie wirkte in sich gekehrt und schwieg. David, der offenbar spürte, wie absurd ich das alles fand, schlug einen Haken.

»Du bist anderer Meinung, nicht wahr, Martin? Dann frag ihn selbst. Besuch meinen Vater und frag ihn, warum er seine Frau erschossen hat. Vielleicht kannst du mir ja etwas über meine Eltern erzählen. Was weißt du über deine? Alles? Ich glaube, die meisten Kinder wissen nur sehr wenig über ihre Eltern. Du kennst meine Familie nicht. Sie ist – wie alle Familien: Fluch, Verhängnis, Sehnsucht. Sie ist ein Stein, der einen in den Abgrund zieht, und dennoch will man ihn nicht loswerden. Es ist, als ob man, wie all die anderen, in den Abgrund gehörte. Ja, tu das. Besuch ihn«, wiederholte er. »Als Freund von mir. Und frag ihn, was aus den Bildern werden soll. Vielleicht öffnet er sich einem Fremden. Vielleicht findest du den Zugang zu ihm, den er mir, seinem Sohn, verwehrt hat.«

David sah mich eindringlich an. Mich berührte dieser Blick eigentümlich.

»Ich überlege es mir. Ich werde jetzt gehen. Morgen ist ein normaler Arbeitstag, leider. Mona, kommst du mit?«

Sie nickte.

Perlensamt ließ unsere Mäntel bringen. Als wir uns verabschiedet hatten, drehte ich mich noch einmal um. Ich konnte auf die Frage nicht verzichten.

»Sag – wie hieß doch gleich die ›Grande Dame‹ des Hokuspokus, die du eben erwähntest?«

»Adelaide Bride. Warum? Bist du doch interessiert?«

Ich verneinte. Ich hatte mich nicht verhört. Noch im Bett schüttelte ich den Kopf. Adelaide Bride. Das war zum Lachen. Oder zum Weinen? Rosie. Schon wieder oder immer noch oder immer wieder. Es war nicht zu fassen. In jedem Spiel hatte sie ihre Finger drin. Wie machte sie das nur?