SECHZEHN

Monas Sticheleien hatten zur Folge, daß wir uns voneinander zurückzogen. Wir sagten uns gerade noch Guten Tag und Auf Wiedersehen. Wortlos schoben wir uns die Anfragen zu.

Und dann schlug David vor, ans Meer zu fahren. Ich erwähnte nichts von meinen Recherchen. Auch David kam eine Weile nicht mehr auf seine Familie zu sprechen.

Als wir über die Promenade von Ahlbeck liefen, fühlte ich mich in meine Jugend zurückversetzt. Der Strand von Coney Island mit seinem Rummel und den schäbigen Buden hatte zwar nichts mit den frisch polierten Seebädern der Ostseeküste gemein. Aber der Salzgeruch, das Geschrei der Möwen, die Geräusche der Brandung reichten aus, um die frühen Zeiten zu beleben. Ich fühlte mich wieder wie als Kind. Das Meer, der Horizont, der Strand, lange vergessene Szenen, und plötzlich war das Heimweh da. Was tat ich in Deutschland? Ich mußte zurück nach New York. Mein Zuhause war dort.

Wir liefen die in die Dünen gebetteten Planken zum Strand hinab. Ich war glücklich. Leicht und unbeschwert wie zu der Zeit, als ich mit einem Freund kurz nach dem Examen am Strand von Coney Island entlang gelaufen war.

Windige Regenschauer begleiteten uns an diesem Nachmittag in Ahlbeck. Die Wolken hingen wie geschlagene Sahne über der frisch getünchten Szenerie von 1900, bis das Licht in die Dämmerung knickte und einen melancholischen Schatten über den leeren Strand und die Promenade warf. Es schien, als seien wir die einzigen Gäste im Ort. Nach einem langen Spaziergang kehrten wir zurück und verabredeten uns für eine halbe Stunde später zum Essen.

Im Hotel logierten außer uns nur ein sehr verliebtes Paar und eine ältere Dame mit Nichte oder Enkelin. Das Personal schien froh, für die wenigen Gäste die Treppen hinauf- und hinunter zu laufen. Es herrschte eine fast familiäre Stimmung. Ich duschte. Dann zog ich ein frisches T-Shirt und einen Pullover an, dazu Jeans. Es gab keinen Grund, irgendwelchen Aufwand zu treiben. Ich war ein bißchen müde, durch die Dusche aber angenehm erfrischt und hatte einen Hunger wie in Berlin seit Monaten nicht mehr. Ich freute mich auf ein Bier, dann ein üppiges Essen mit gutem Rotwein und danach auf einen herrlich tiefen Schlaf.

Wir hatten vereinbart, daß derjenige, der zuerst fertig wäre, zum anderen hinüber gehen würde. David reagierte nicht auf mein Klopfen. Ich meinte, trotz der Doppeltüren Stimmen zu hören. Die Klinken gaben nach. Das Zimmer war hell erleuchtet, das Bett unbenutzt. Auf der leicht zerwühlten Decke lag ein kleiner Haufen unterschiedlich schillernder Halstücher. Seide. Davids Markenzeichen. Ein geöffneter Koffer stand auf der dafür vorgesehenen Ablage. Der Fernseher lief. Ich wollte gerade das Gerät ausschalten und seinen Namen rufen, als ich sah, daß die Tür zum Bad offenstand. In einer übermütigen Laune dachte ich daran, ihn im Bad zu überraschen. Ich ging auf Zehenspitzen, darauf bedacht, kein Geräusch zu machen. Als ich im Rahmen stand, blickgeschützt durch die halb geöffnete Tür, hörte ich David sprechen. Dann sah ich ihn im Spiegel, die Augen aufgerissen. Ich dachte zuerst, er führe Selbstgespräche. Aber er sagte du, nicht ich. Dann wurde mir klar, daß David so tat, als gehörte das Gesicht im Spiegel einer anderen Person.

»Irgendwann sehe ich dich genau. Ich werde wissen, welche Linie ich zu tilgen habe in meinem Gesicht.«

Er sprach mit leiser Drohung. Angespannt, als sähe er durch ein Mikroskop winzige Teilchen, die für einen entfernten Beobachter nicht wahrnehmbar waren. Mit dem rechten Zeigefinger fuhr er die Brauen ab, strich über die Stirn und von der Nasenwurzel zur Spitze.

»Dein verdammtes Gesicht hat mich in einen Käfig gesperrt.«

Er strich das schwarze Haar zurück. Seine Wangen schienen fahl im Neonlicht des weiß gekachelten Badezimmers, überzeichnet in ihrer Blässe, blaustichig fast. Der aufwendige Goldrahmen des Spiegels über dem Marmorwaschtisch tat ein Übriges, Davids Haut blutleer schimmern zu lassen. Das einzig Lebendige in diesem Gesicht war der Blick. Ich sah Wut in seinen Augen flackern. David versuchte, sie mit einer anders intonierten Stimme zu beherrschen.

»Beruhige dich, David. Kehre zu der Aufgabe zurück, die das Leben dir stellt. Die Schuld wird so lange in deiner Familie bleiben, bis jemand sie löst.«

Mochte der Teufel wissen, wem diese unerbittliche Stimme gehörte.

»Ich hasse dich«, stieß David in vertrautem Ton hervor. Seine Stimme klang jetzt weinerlich, trotzig und sehr jung. Einen Augenblick lang fürchtete ich, er würde in seiner kindlichen Verzweiflung in den Spiegel schlagen. Aber plötzlich verebbte Davids Wut. Sein Kopf berührte jetzt fast den Spiegel. Seine Augen suchten jede einzelne Pore ab.

»Ich werde dich auswendig lernen«, flüsterte er.

Erst als David den Stift nahm und mit wenigen konzentrierten, sehr erfahrenen Strichen ein Selbstporträt zeichnete, sah ich, daß auf dem großen Waschtisch die ganze Zeit Bleistift und Block gelegen hatten. War das, dessen Zeuge ich gerade geworden war, eine alltägliche Prozedur? David trat vom Spiegel zurück. Er betrachtete sich eine Weile mit deutlich zur Ruhe gekommenem Blick. Dann erklärte er mit vernünftiger Stimme die Szene für beendet. Er nahm sein Aftershave und besprühte Hals und Wangen damit. Ich zog mich ebenso leise zurück wie ich gekommen war.

Ich ging in mein Zimmer. Ich öffnete die Fenstertür zum Balkon. Die Brise kühlte meinen Kopf. Schattenhaft lag hinter den Baumwipfeln das Meer. Kleine flache Wellen schlugen an den Strand. Was hatte ich da erlebt? War das Schizophrenie? Löste der Wahnsinn Davids Bewußtsein auf? Trotz der frischen Luft hatte ich den Eindruck, in Fieberbilder einzutauchen. Ich hatte mich nicht abwenden können. Etwas hatte mich festgehalten. Ich mußte hinsehen. Wie damals.

David riß mich in die Wirklichkeit zurück.

»Das war wunderbar. Spaziergang, Dusche, frische Klamotten. Ich habe einen Bärenhunger. Wie steht’s mit dir?«

Er stand vor mir, frisch rasiert und voll in Schale. Rotes Halstuch mit blauen Punkten im rosaweiß gestreiften Hemd. Blauer Blazer. Graue Hose aus Flanell. Er strahlte mich an. Ich fühlte mich elend. Erschöpft und nervös. Ich wußte nicht, was ich sagen, wie ich reagieren sollte.

»Geht es dir nicht gut?«

Er fragte mich. Das Schlimmste war, daß ich mich trotz dieses Theaters auf merkwürdige Weise zu ihm hingezogen fühlte. Das einzig Vernünftige wäre gewesen, auf der Stelle meine Tasche zu packen und diesen Irren sich selbst zu überlassen. David trat ein paar Schritte auf mich zu und berührte mich leicht an der Schulter. Ich weiß nicht, was in mich fuhr. Im nachhinein erscheint es mir ungeheuerlich. Anstatt auf Abstand zu gehen, legte ich meinen Kopf an seine Schulter. Eine Weile standen wir so da, ohne daß irgend etwas geschah.

»Hey, kann ich etwas für dich tun?«

In diesem Moment, für den Bruchteil eines Augenblicks, wäre ich beinahe in Davids Arme gesunken. Es fehlte nicht viel. Es fehlte nur ein bißchen Gewissenlosigkeit. Mein ganzer Körper schmerzte, und ich konzentrierte mich darauf, nicht aufzuschluchzen. Dann nämlich hätte das Andere in mir gewonnen. David ersparte mir nichts. Er fuhr durch meine Haare und drückte meinen Kopf leicht an sich. Mit einem Ruck löste ich mich.

»Martin.«

Ich versuchte zu lächeln.

»Entschuldige, mir war irgendwie übel geworden. Laß uns runter gehen.«

Wir setzten uns an die Bar. Ich bestellte einen trockenen Martini, David einen Manhattan. Als der erste Schluck meine Kehle herunterlief, nahm ich mir vor, zurück in Berlin nach einer besseren Photographie von Otto Abetz Ausschau zu halten. Vielleicht konnte ich mit großer Vorsicht etwas für David tun, ihm wie nebenbei vermitteln, daß jeder Mensch einzigartig ist und seine Ähnlichkeit mit dem Großvater für einen Außenstehenden gar nicht erkennbar war.