SECHS

In den Tagen nach meinem Besuch bei Perlensamt sah ich Mona zufolge aus wie ein ständig schnüffelnder Hund, der einen Knochen vergraben hat und sich an den Ort nicht mehr erinnern kann. Aber nicht der Courbet ging mir durch den Kopf. Ich dachte an David. An die Perlensamts. An den Mord. An den Unfall seiner Großeltern. Ich fragte mich, wo sie umgekommen waren. Wo Vater und Tante aufgewachsen waren. Wo in dieser Zeit die bemerkenswerte Sammlung lagerte. Unmittelbar nachdem ich Perlensamts Wohnung verlassen hatte, rief ich Mona an. Mir war, als bräuchte ich Beistand.

»Wo bist du?«

»Fasanen/Ecke Kant. Ich war im Haus der Perlensamts. Irgend etwas stimmt da nicht.«

»Das hatten wir schon. Was gehen uns Mordgeschichten an?«

»Bei Perlensamts hängt ein Courbet, der so aussieht wie der, der uns angeboten wurde.«

»Was soll das denn wieder heißen? Ist er es, oder ist er es nicht?«

»Das kann ich so nicht sagen. Aber die Familie hat irgend etwas mit dem Paris der Besatzungsjahre zu tun.«

»Nein! Nicht dieses Thema. Bitte nicht schon wieder. Mein Anrufbeantworter ist kaputt, meine Mailadresse funktioniert nicht mehr, und man hat mir letzte Woche mein Mobile gestohlen. Ich bin unerreichbar.«

»Auf einmal? Ich dachte, das sei dein Spezialgebiet.«

»Ich bin Provenienzforscherin und keine Rächerin der Entehrten.«

»Provenienzforscher sind die Rächer der Entehrten, die letzten, die es noch gibt. Das waren deine Worte. Letzte Woche noch. Bis morgen!«

Perlensamts Großvater war für die Regierung tätig gewesen. Hatte die Sammlung damit zu tun? Vor der Besatzungszeit waren die Pariser Kunstgeschäfte in der Rue de la Boétie getätigt worden, einer Straße im 8. Arrondissement. Heute ist in dem Viertel, in dem auch Picasso einige Zeit lebte, nichts mehr übrig von der einst so inspirierenden Atmosphäre. Damals waren einige Palais der Sammler, über die ich geschrieben hatte, noch in Privatbesitz, zum Beispiel das der Camondos. Die meisten dieser ehrwürdigen Gebäude aus dem 19. Jahrhundert standen im Viertel Monceau. Heute hängen viele Werke aus diesen Beständen im Musée d’Orsay – soweit die Palais nicht selber zu Museen geworden sind. Aber es war nur schwer nachzuvollziehen, welche Gemälde von den Deutschen beschlagnahmt worden waren, denn es gab mehrere Gruppierungen wie auch Einzelpersonen, die sich der Kunst bemächtigt hatten. Das eine oder andere Bild hatte der eine oder andere ›Leiter‹ einer Operation sicher für sich selbst abgezwackt. So hätte auch die Sammlung Perlensamt zustande gekommen sein können.

Und dann war da eben noch, wie Mona zu Recht erwähnte, die Schweiz als Umschlagplatz für Raubkunst. Namen wie Wendland und Hofer standen dafür. Der eine war ein in der Schweiz lebender deutscher Kunsthändler gewesen, ein Meister darin, Bilder aus Grauzonen in den Handel zu bringen; der andere ein Vermittler, der Kunst aus dunklen Kanälen – vor allem französische Impressionisten und Werke der klassischen Moderne – in die Schweiz verschob. Schließlich hatten auch das Propagandaministerium und Herr Göring persönlich ihre Leute, die sogenannte entartete Kunst, beschlagnahmte Bilder aus deutschen Museen von München bis Stettin, die die Nazis selbst nicht haben wollten, unter die Leute brachten, um Devisen zu scheffeln. Am 30. Juni 1939 hatte sich im Luzerner Grand Hotel National eine illustre Schar von Gästen zusammen gefunden, um einer Auktion beizuwohnen, die ihre Lose ausschließlich aus deutschem Museumsbesitz rekrutierte. Einlieferer: das Deutsche Reich. Joseph von Sternberg saß dort neben Marlene Dietrich. Das Kunsthändlerpaar Feilchenfeldt war zugegen, Pulitzer jr. und Pierre, der Sohn von Henri Matisse.

Es war denkbar, daß Teile der Sammlung Perlensamt aus solchen Auktionen stammten. Oder Davids Großmutter war eine Kollaborateurin gewesen. Von den Plünderungen privater Sammlungen durch die Nazis und der französischen Kollaboration wußte ich so gut wie nichts. Für mich waren die besseren Viertel von Paris, wo diese Sammlungen beheimatet waren, einfach ein Teil jenes ewigen Europas, dem die unglücklichen Personen aus den Romanen von Edith Wharton entstammten. Personen, die in amerikanischen Familien nicht wahrgenommen oder allenfalls belächelt wurden. Unplausible Gestalten, unbeholfen und wenig lebenstüchtig. Ich mochte diese Figuren. Ihre Charaktere irisierten wie das Licht in den Bildern der Impressionisten. Manchmal strömten sie sogar in ihrem Unglück etwas Zwielichtiges aus. Wegen dieses Zwielichts hatte sich auch Henry James nach Europa aufgemacht und mit ihm die amerikanischen Maler seiner Generation. In Paris, hieß es damals, lernte man den ›Blick‹, der die Wirklichkeit in Kunst überfließen läßt. Nebenbei waren in dem alchemistischen Prozeß Verhältnisse sichtbar geworden, die einem amerikanischen Auge gemeinhin verborgen blieben. Die Schule des Verbergens, die man nur in Europa besuchen konnte.

Auch ich verdanke die Idee, daß das Verborgene mehr ist als die Abschattung des Objektes im Vordergrund, meiner europäischen Erfahrung. Aber Davids Bemerkung Sie wissen ja um die Gegend, wies auf etwas hin, mit dem ich nichts mehr zu tun haben wollte. Was genau war in der Gegend um die Place de Mexico und unterhalb des Friedhofs Passy passiert, in den Straßen Greuze, Lauriston, Petrarque, deren Eleganz ich so bewundert hatte? Als David Perlensamt mir gegenüber diese Andeutungen machte, hatte ich nicht nachgefragt, weil ich mich nicht hineinziehen lassen wollte in eine Geschichte, aus der ich glücklich entkommen war. Verdammte deutsche Vergangenheit. Das war Monas Job.

Trotzdem erwischte ich mich dabei, wie ich in Büchern nachschlug, heimlich, für mich allein. In einem einzigen, nämlich ausgerechnet in Hector Felicianos Buch Das verlorene Museum fand ich einen Hinweis auf die Gegend. Vermutlich hatte ich bei meiner ersten Lektüre darüber hinweg gelesen, wie man es manchmal bei Erwähnungen tut, die man für nebensächlich hält. Laut Feliciano hatte in der Rue Lauriston die Bande eines gewissen Bonny Laffont ihr Unwesen getrieben. Den Namen hatte ich noch nie gehört. Ich schlug noch einmal in den Registern der anderen Publikationen über den perfidesten Kunstraub der Geschichte nach, aber nirgendwo war dieser Name erwähnt. Wer war Bonny Laffont?

»Was zum Teufel suchst du? Sag doch was. Vielleicht kann ich dir helfen. Ist es immer noch der Courbet, der dir Kopfzerbrechen macht?«

Ich erwiderte, daß der Courbet ihre Angelegenheit sei, und verdrückte mich.

An einem der nächsten Abende, kurz bevor ich zu Perlensamt aufbrechen wollte, fiel mir George Duras ein. Er war Anwalt, und ich kannte ihn von einem Pariser Symposium zum Thema Raubkunst. Duras hatte einen Vortrag über die Irrfahrt eines wieder aufgetauchten Gemäldes gehalten und damit bei mir einen ebenso kompetenten wie undurchsichtigen Eindruck hinterlassen. Er hatte ein bißchen nach Casanova gerochen, so ein Typ, der mit jedem sofort Weitpinkeln veranstalten muß, um zu sehen, daß er nicht nur die Nase vorn hat. Aufgewachsen in Paris, dort zur Schule gegangen und – nach ein paar Jahren Studium in New York und Los Angeles (für einen Franzosen wirklich bemerkenswert) – seine Licence an einer Grande École gemacht. Das reicht bekanntlich für einen unaufhaltsamen Aufstieg. Auf dem Symposium munkelte man, daß er sich nicht allein aus kulturhistorischem Interesse auf Raubkunst spezialisiert hätte. Seine Familie sei irgendwie in den Bilderschwund verstrickt. Ich hatte nicht nachgefragt. Ich hatte es bei dem irgendwie belassen. An diesem Abend aber rief ich ihn an. Duras schien erstaunt, von mir zu hören. Noch erstaunter war er, als ich ihn um topographischen Nachhilfeunterricht bat.

»Ein Amerikaner in Paris«, witzelte er. »Was kann ich für Sie tun? Bereiten Sie eine private Reise vor, oder wurde wieder Unrat an die Oberfläche gespült?«

Ich sagte, ich kennte mich in der Pariser Stadtgeschichte des 20. Jahrhunderts nicht aus. Die einzelnen Viertel und ihre Geschichte seien mir nur durch meine Spaziergänge bekannt. Ich suchte Informationen über das 16. Arrondissement zur Zeit der deutschen Besatzung. Ich wüßte zwar, daß es in der Rue Debordes Valmore ein Depot gegeben hätte …

»… von Bernheim-Jeune, Kunsthändler.« … aber mir sei die wirkliche Zeit sehr fern, die Verschiebung der französischen Kunstwerke abstrakt. Wie hätte ich mir das vorzustellen? Atmosphäre, alltägliches Geschehen, untergründiges Treiben, Verwicklungen, die in offiziellen Kunstreportagen und wissenschaftlichen Schriften nicht nachzulesen seien. Ich sei eben nicht in Europa aufgewachsen. Hätte keine Großeltern gehabt, die mir etwas über diese Zeit hätten erzählen können. Alles, was ich wüßte, hätte ich aus Büchern. Duras lachte schallend. Ich begriff nicht, was an meinen Ausführungen komisch sein sollte. Dann wurde der Anwalt ernst.

»Rue Lauriston – haben Sie davon gehört? Von der Bande?«

Andeutungen. Ich hätte etwas gelesen.

»Der Wirkungsraum von Bonny Laffont zog sich vom reichen Westen über die Mitte zum armen Osten durch die ganze Stadt. Im Westen plündern, in der Mitte erpressen und verhökern, im Osten lagern. Der Westen war der Ursprung, der Osten der Verschiebebahnhof, in der Mitte schlug das Herz der Leidenschaft zwischen Quelle und Mündung. Hier, im Zentrum der Stadt, lief noch einmal zusammen, was immer zusammen gehört hatte, allerdings in vollendeter Perversion: die Interessen eines Marktes. Selbst die offiziellen Auffangbecken der Nazis richteten sich nach dieser Topographie. Die Sammelstellen für Kunst waren im Louvre und im Jeu de Paume, also unmittelbar im 1. Arrondissement. Kaufen Sie sich einen Plan, eines dieser kleinen Bücher, das Sie an jedem Kiosk bekommen. Dann schauen Sie sich an, was ich Ihnen an Straßen nenne. Sie werden sehen, wie präsent die Saubande war und wie die Aktionen funktionierten.«

Von George Duras erfuhr ich, daß Bonny Laffont nicht etwa der Name des Bandenführers war. Es handelte sich um die Nachnamen zweier undurchsichtiger Typen. Sie erledigten für die Nazis Drecksarbeit. Einbruch, Plünderungen, Folter.

Dunkle Geschäfte mit Diebesgut. Sie verschoben nicht nur wertvolle Bilder und Kunstobjekte, sondern nahmen den besseren Leuten, die sie ›besuchten‹, einfach alles ab – Bettwäsche, Tafelsilber, Porzellan, Abendroben, Parfüms, Hüte und Handtaschen, Spazierstöcke, Zigarettenetuis. Nicht einmal vor den Tennisschlägern und der Golfausrüstung machten sie halt. Die ermerdeurs, für die sie arbeiteten, konnten alles gebrauchen. Eine neue Gesellschaftsschicht schwamm auf einmal oben. Der Abschaum aus dem Sumpf. Mit Politik oder Ideologie hatten diese Aktionen wenig zu tun. Es ging um Raffgier. Um ein Sich-schadlos-Halten. Um Rache an denen, die früher die feinen Leute gewesen waren. Die Halsabschneider. Die Bankiers. Die Beziehungstüftler. Die Juden.

Die Dinge, die Bonny und Lafont nun an sich rissen und unter ihresgleichen verteilten, hatten sie, wenn überhaupt, bisher nur von fern gesehen. Luxusobjekte, Bücher, objets d’art, feine Kleider, Pelze, Schmuck. Die Zeit der Almosen war vorbei. Endlich konnten sie Besitz von verbotenem Terrain ergreifen. Ganz nebenbei konnte man Vergeltung üben. Die années noires sahen manche als dritte Revolution, die wahre, die alle Stände zertrümmerte und jene in die Höhe katapultierte, die nie eine Stimme gehabt hatten. Man mußte nicht einmal reden können wie zu den Zeiten um 1789. Skrupellosigkeit und Herkunft aus dem Sumpf reichten vollkommen aus. So kam es, daß manche poule à boche – Nazi-Hühner nannte man die Französinnen, die sich mit Deutschen einließen – plötzlich Seidenstrümpfe über die Schenkel zog, wo vorher graue, selbstgestrickte Wolle gescheuert hatte. Parfümierte Filethemdchen dekorierten die Spitzen rachitischer Hühnerbrüste, während die Krallen des kollaborierenden Federviehs taten, als kratzten sie noch im Mist. Sie lagen in den Damastkissen der Deportierten, von Seide umgeben, geklauten Champagner im Magen, vor Augen die seltsamen Bilder, die so wertvoll sein sollten. Was nicht einmal die untersten Chargen der Nazis und ihre Entourage gebrauchen konnten, verschob die Bande in die Schweiz und verhökerte es dort. Es war die Demütigung der Pariser Seele, die sie betrieben. Duras redete sich ins Fieber. Er erzählte von P.M., seinem Mitschüler auf dem Collège Soundso, heute tätig im französischen Außenministerium. P.M.s Vater hatte, obwohl Jude, Kontakt zu einem gewissen Eddy Pagnon gehabt. Auch der arbeitete für die Bande aus der Rue Lauriston. Der Vater seines Freundes war in einer Dependance – ja, er sprach wirklich von Dependance›als handelte es sich um ein Hotel – des Lagers Drancy interniert gewesen. Der Name endlich sagte mir etwas. Von dort aus waren auch die Nachkommen der Camondos nach Auschwitz verschleppt worden. P.M.s Vater hatte mehr Glück gehabt als die reichen Leute aus der Rue Monceau.

»Pagnon, der übrigens ein Freund und Freier der Elternmörderin Violette Nozière gewesen ist, hat P.M.s Vater in einer Nacht- und Nebelaktion aus dem Lager befreit. Das waren alles Kollaborateure. Diese Typen verpfiffen Menschen zur Deportation für nichts – Fusel, Unterwäsche, ein paar Autoreifen. Es war die Zeit, in der alles blühte. Es gab Gelegenheit für schnelles Geld und uralten Haß. Man konnte persönliche Dinge abrechnen, auf die eine Familie Generationen lang gewartet hatte. Gleichzeitig flackerten Eintagsfliegen auf, reich für vierundzwanzig Stunden. Sie verglühten in dem fremden Glanz, noch ehe sie aus dem Himmel, in den sie hochkatapultiert wurden, zurück in die Wirklichkeit fallen konnten. Manche brachen sich einfach das Genick, weil sie besoffen von einer Freitreppe stürzten.«

Die paar Namen, die er nannte, waren nur einzelne Wanzen aus einer Zeit, in der es vor doryphores – den deutschen Kartoffelkäfern – nur so gewimmelt hatte. Ich sollte bloß nicht glauben, daß P.M. das von seinem Vater erfahren hätte. Es gab in Europa eine Art Schweigepflicht. Diese fungierte als allgemein verbindliche Sprache einer ganzen Generation. Ob ich denn glaubte, er hätte auch nur ein Sterbenswort von seinen Eltern erfahren? Wie naiv man denn als Amerikaner sein könnte, fragte er süffisant, daß man annähme, die Eltern gäben Auskunft über das tatsächliche Geschehen? Da ich mehr von ihm wissen wollte, überging ich seine Arroganz. In den weiteren Erzählungen über das opake Viertel ging die nebenbei erwähnte Violette Nozière vollkommen unter. Aber weil ich sie nicht kannte (ich erfuhr erst später, daß sie eine Art französische Nationalheilige ist), maß ich ihr keine Bedeutung bei. Warum hätte ich mich für eine Elternmörderin und ihre Motive interessieren sollen?

Ich wollte wissen, was es mit Perlensamts Bemerkung auf sich hatte. Die Rue Lauriston, die von der Avenue Raymond Poincaré aus in Richtung Étoile verläuft, beherbergte nicht nur die Bande um ›Inspektor‹ Bonny und Pierre Laffont. Auch Lagerräume für Diebesgut und Folterkeller gab es hier. Bonny und Laffont schienen alles an Greuel in sich zu vereinigen, was einem zivilen Gemüt vorstellbar ist – und noch mehr. Duras erzählte von solch unfaßbaren Scheußlichkeiten, daß nicht mehr zu unterscheiden war, ob er sich in die Geschichte hineinsteigerte und maßlos übertrieb oder die Wahrheit wiedergab. Laffont hatte die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen und stand später als SS-Hauptsturmführer einem Bataillon in Nordafrika vor. Allerdings taugte er zum Soldaten weit weniger als zum Folterknecht. Bonny hatte schon lange vor der deutschen Besatzung den Polizeidienst wegen Bestechung quittieren müssen. Der Typ, sagte Duras, sei ein putois, ein Stinktier, gewesen, eine eiternde Pestbeule, deren Inhalt sich auf die ganze Umgebung ergoß. Aber in der Rue Lauriston lebten noch andere Subjekte, Leute, die schon vor dem Krieg falsche Namen trugen, eine ›Gräfin‹ Seckendorff zum Beispiel oder ein ›Baron‹ von Kermanor. Die beiden waren berühmt für verschwenderische Parties, Trinkgelage und Folterungen. Den Gequälten hatten einst die oberen Etagen gehört. Hier leerten die falschen Aristokraten nun jene ausgezeichneten Weine, die vorher in den Kellern gelagert wurden, in denen Bonny und Laffont die Geplünderten malträtierten. Damit nicht genug. Die Bande und ihre Auftraggeber hatten sich nicht nur in der Rue Lauriston breit gemacht. Sie infizierten nach und nach das gesamte 16. Arrondissement. Das stille weiße Passy begann, nach Scheiße und getrocknetem Blut zu stinken.

»Was, glauben Sie, passierte mit den Orten, nachdem ihre Bewohner verhaftet und bevor die Räume geplündert wurden? Es gibt kaum eine hochherrschaftliche Wohnung, kein Palais dieser Gegend, in das kein Nazi eingedrungen ist und auf den Teppich gepißt hat.«

George Duras sprach über all das, als hätte er die Zeit erlebt. Ab und zu schwang im Unterton seiner Stimme die Andeutung eines Vorwurfs mit. Es war nicht klar, ob er mich damit meinte. Dieser Tonfall konnte auch einfach zur Rede gehören. Duras mochte sich wundern, daß ich von all dem nichts gewußt hatte – aber was wußte er schon über mich, den Amerikaner in Paris? Seine erste Reaktion hatte bewiesen, daß er mich gar nicht verletzen konnte. Was mich betraf, so kramte er nur in Klischees. Als er am Ende angekommen war und ich den Eindruck hatte, nun genug Informationen zu haben, kam meine Kür. Ich stellte eine unverschämt direkte Frage, für die mir Rosie über den Mund gefahren wäre. Es war meine Antwort auf die französische Überheblichkeit.

»Vielen Dank, nun verstehe ich die Situation etwas besser. Ich habe nämlich einen Freund hier in Berlin, dessen Großvater während der Besatzung in Paris lebte, im 16. Arrondissement. Mein Freund hat von ihm eine wunderbare Sammlung geerbt, nach der Provenienz einzelner Stücke wage ich gar nicht zu fragen. Ach, nebenbei – stimmt es denn, was man tuschelt? Daß Ihre Familie selbst in die Verschiebung von Kunst verstrickt gewesen ist?«

Duras lachte wieder, dieses Mal leise, fast fein.

»Man könnte meinen, Sie schrieben an einem Buch, so gezielt verstehen Sie es, Fragen zu stellen, die niemand beantworten will. Das Problem, mein Lieber, erwähnte ich schon. Eigene Familien geben keine Auskunft. Fremden Auskünften kann man nicht trauen. Die Interessen der Anderen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Man kann es auch Propaganda nennen. Angriff ist die beste Verteidigung. Ich wünschte tatsächlich, ich wüßte mehr als Sie. Aber ich gehe davon aus, daß meine Familie in irgend etwas verwickelt war. Auch ich habe ein paar Bilder an der Wand hängen, die ich nicht selbst gekauft habe. Meine Mutter ist in direkter Linie mit der Comtesse Lavalle verwandt, und mein Vater aß zwischen dem 20.4.41 und dem 14.3/44 gern im Maxim zu Abend. Es ist also nicht unmöglich, daß meine Familie in irgend etwas verwickelt war. Vielleicht war sie geradezu erpicht darauf, sich verstricken zu lassen. Man hatte ja was davon. Die Art Moral, die Sie von mir erwarten, war schon nach der Befreiung von Paris billig zu haben. Aber ich kann mich nicht daran erinnern, daß irgend jemand in meiner Familie sich je für billige Artikel begeistert hätte. Der genaue Verlauf der einzelnen Fäden wird ebenso im Dunkeln bleiben wie der Ort, an dem heute manches verschobene Bild sein Zuhause gefunden hat. Meine Eltern zumindest haben ihr Wissen in Sicherheit gebracht. Die Gruft unserer Familie ist in Passy, ganz in der Nähe der Straßen, über die wir eben sprachen. Einer der schönsten Friedhöfe von Paris. Von dort aus hat man einen herrlichen Blick über die Stadt. Er ist unverändert seit damals, einer der seltenen Orte, die die Nazis nicht geplündert haben, obwohl er im 16. liegt.«