NEUNUNDZWANZIG

Nach dem peinlichen Abend in Monas Loft konnte ich es kaum erwarten, die Koffer zu packen. Ich dachte an eine Versetzung nach London oder Amsterdam, sogar daran, mich bei der Konkurrenz zu bewerben. Ich dachte an Paris, verwarf die Idee aber sofort wieder. An New York, meine Heimatstadt, dachte ich – wegen Rosie? – nicht. An Kündigung zunächst auch nicht. Wenn ich abends spät aus dem Büro kam, ging ich noch aus. Nur auf einen Drink, wie zu der Zeit, als ich noch nicht mit David befreundet war. Berlin kam mir laut vor, provisorisch beleuchtet und grell. Thanksgiving war vorbei. Ich hatte Rosie nicht einmal angerufen. Weihnachten stand vor der Tür.

Am folgenden Mittwoch traf ich die Haushälterin der Perlensamts auf dem Markt am Winterfeldplatz. Frau Arno blieb stehen und richtete ein paar Worte an mich. Es wäre unhöflich gewesen, sie einfach stehen zu lassen. Sie bedauerte, daß ich nicht mehr vorbeigekommen war.

»Ohne Sie fehlt etwas im Haus. Ich habe immer den Eindruck gehabt, Sie wüßten zu würdigen, was ich Ihnen und David servierte. Seit Frau Perlensamt nicht mehr ist, wirkt alles so still. Man weiß gar nicht, wozu man überhaupt noch da ist. Putzen kann auch eine einfache Zugehfrau.«

Sie schien nicht besonders glücklich mit der Lage, obwohl es David jetzt wieder besser ging. Einer plötzlichen Eingebung folgend, lud ich sie zum Kaffee ein. Sie war sichtlich geschmeichelt. Die Stimmung in der Fasanenstraße hatte sich deutlich verändert. David war manchmal außerordentlich guter Laune, manchmal schäumte er vor Unternehmungslust und Zuversicht. Dann verfiel er wieder in dumpfes Brüten und aß tagelang nichts.

»Er war nie so ausgeglichen wie in der Zeit, als Sie zu uns kamen, Herr Doktor«, sagte Frau Arno leicht verlegen. »Ich glaube, es war die einzige Zeit in seinem Leben, in der er wirklich glücklich war.«

Ich gab mir einen Schubs. Es mußte sein.

»War er denn nicht glücklich, als Mona Herbarth sich um ihn gekümmert hat?«

»Die junge Frau, die da war, als er aus dem Krankenhaus kam?«

Frau Arno ließ keinen Zweifel daran, daß die junge Frau nicht ihr Geschmack gewesen war. Sie ließ durchblicken, daß Mona frech und vorlaut war und keine Erziehung hatte.

»Die junge Frau hatte keinen Respekt vor der Familie. Sie ging anmaßend durch die Wohnung.«

Mona hatte laut über den muffigen Plüsch gelacht. Ich mußte innerlich grinsen. Ich stellte mir vor, wie ihr Röntgenblick die meisten Gegenstände in der Wohnung geschwind als Talmi entlarvt hatte.

»Sie meinen also, die beiden hätten keine gute Zeit zusammen gehabt?«

Frau Arno verzog das Gesicht.

»Ich sehe das von meiner Warte. Jedenfalls war David nicht so ausgeglichen wie zu der Zeit, als Sie uns besuchten. Auch wenn er mir das Fräulein als seine Verlobte vorstellte.«

»Er hat was getan?«

»Er hat sie mir als seine Verlobte vorgestellt.«

»Und, stimmte das? Waren sie verlobt?«

»Woher soll ich das wissen? Eine Weile jedenfalls kam die junge Frau regelmäßig. Plötzlich dann raffte sie nach einem Streit ihre Sachen zusammen und tauchte nie wieder auf. Ich habe dem Braten von Anfang an nicht getraut. Wenn Sie mich fragen, dann war der Streit ein Vorwand. Und wenn Sie mich noch weiter fragen, Herr Doktor: So ist David einfach nicht. Unsereins redet ja über so was nicht, aber David hat s nie so mit Frauen gehabt. Natürlich sprach man in der Familie nicht darüber. Wie auch immer – ich bin froh, daß sie weg ist. Es hat sich schon genug verändert, seit David ohne seine Eltern ist. Erst hängt er die vielen Bilder auf, dann …«

»Er hängt die Bilder auf?«

»… hängt er sie wieder ab und läßt alles renovieren. An die merkwürdige Party und den Zinnober mit der Somnambulen mag ich gar nicht denken.«

»Sie meinen das Medium?«

»Hm, genau. Und dann eben war diese junge Frau im Haus. Überall schnüffelt sie herum, alles begrapscht sie. Sie riecht sogar an den Bildern. Einmal habe ich sie dabei erwischt, wie sie ein Stilleben an einer Ecke mit Spucke berieben hat. Ich glaube, diese Frau ist nicht ganz dicht. Nun ist David wieder allein. Spricht oft kein Wort und wirkt nervös. Immer wieder zieht er sich aufs Land zurück. Ich muß ihm dann die Post nachschicken … Wie soll das noch enden?«

»Frau Arno, David hat die Bilder erst aufgehängt, nachdem sein Vater ins Gefängnis kam? Er hat sie aufgehängt?«

»Ja, sicher. Da hingen nie welche. Nur die Gobelins, über die sich das Fräulein so lustig gemacht hat. Die hingen früher in der Halle. David hat sie aufgerollt und in dieses Zimmer verbannt, wo auch die Bilder jetzt gelandet sind. Diese schönen großen Gobelins, wie man sie auch in Schlössern hat, wissen Sie. Ich nehme an, er brauchte eine andere Umgebung. In der Halle saß er dann nie wieder, als Sie nicht mehr kamen. Diese Frau hat sich alles angeguckt, auch das Zimmer mit den Bildern. Sie hat die Gobelins auseinandergewickelt, einfach so, als ob ihr alles gehörte. Als sie dann weg war, hat er sich aufs Land verkrochen.«

»Woher kamen denn die ganzen Bilder auf einmal?«

Sie zuckte mit den Achseln und sah auf die Uhr. Sie wollte gehen. Vielleicht hatte sie den Eindruck, ausgefragt zu werden.

»Eines Tages wurden sie angeliefert, mit einem Möbelwagen. Ich verstehe nichts davon. Ich fand die großen Gobelins schöner. Vornehmer, wenn Sie verstehen. Die junge Frau wußte bestimmt nicht, was es damit auf sich hat. Die sah nun wirklich nicht so aus, als sei sie mit so was aufgewachsen. Dann hat sie auch noch eines der Bilder mitgenommen. Die dachte bestimmt, ich merke das nicht. Wenn Sie mich fragen, Herr Doktor: Ganz koscher war das nicht.«

Sie bat mich zum Abschied, doch wieder vorbei zu kommen, wenn David zurück sei. Ich versprach es ihr. Es schien mir der einfachste Weg zu sein.

»Ach, Frau Arno«, ich rannte ihr noch einmal hinterher, »wissen Sie, wo David ist?«

»Er wollte seine Tante in Paris besuchen. Aber vielleicht ist er inzwischen auch schon wieder auf dem Land.«

Ich vergaß meine Einkäufe und machte, daß ich nach Hause kam. Mir ging unsere erste Begegnung durch den Kopf. David hinter dem schmiedeeisernen Gitter. Ich davor. Seine Einladung. Das Bild vom Meer. Ich war sofort darauf angesprungen, weil es unübersehbar in der Mitte der Wand hing. David hatte es so plaziert, daß mein Blick darauf fallen mußte. Wovon war das Bild der Anfang, wenn es nie eine Sammlung Abetz/Perlensamt gegeben hat? Ich mußte mit Mona reden. Ich zog mich in aller Eile für den Weihnachtsempfang um. Viel zu früh traf ich im Büro ein. Der Cateringservice hatte noch nicht einmal die Canapés gebracht. Um die Zeit zu überbrücken, rief ich in unserer Dependance in Paris an, wo der Courbet auf der Weihnachtsauktion angeboten werden sollte. Als niemand abnahm, probierte ich es auf dem Mobile von Stéphane, einer Kollegin.

»Man sollte kaum glauben, daß es in den digitalen Zeiten noch derart lange Leitungen gibt. Der Anbieter aus Berlin hat das Bild zurückgezogen. Das hatte ich doch Mona gemailt. Er sagte, er hätte dir gesagt, er könne ohnehin nicht verstehen, warum die Familie das Bild zur Auktion hatte geben wollen. Sie hätten es gar nicht nötig. Wie auch immer, es ist nicht bei uns. Es ist in Berlin. Wir haben nichts mehr damit zu tun.«

Ich schaffte es nicht, vor dem Empfang noch mit Mona zu sprechen. Erst kam Henriette. Eine Symphonie in schwarzrot-gold – von ihren Pumps aufwärts gesehen. An Tagen wie diesen schillerte sie nicht nur in der Funktion der Büroleiterin, sondern als Eigentümerin der Firma.

»Martini, wenn du so freundlich sein könntest, für mich eben …«

Dann kam der Cateringservice, wenig später standen die ersten Gäste im Foyer. Während ich »in Henriettes Namen« die Leute begrüßte, stellte ich Überlegungen an, wie ich Mona dazu bringen könnte, nach der Veranstaltung mit mir auf einen Drink zu gehen. Und dann tauchte David auf. Er kam herein, unübersehbar. Schon die dunkle Sonnenbrille an einem späten Dezembernachmittag weckte Aufmerksamkeit. Er begrüßte mich, nahm die Sonnenbrille ab und lächelte. Daß das Lächeln leicht gezwungen war, konnte wohl nur ich erkennen.

»Du hast dich nicht mehr gemeldet. Du bist wohl durch mit mir.«

Seine Ehrlichkeit war so entwaffnend, daß ich weiche Knie bekam. Er sah aus wie kurz nach dem Tod seiner Mutter, mühsam die Fassung wahrend. Ich war mir nicht sicher, ob er wieder eine Rolle spielte oder wirklich so empfand. Ich nahm mir vor, mich davon nicht beeindrucken zu lassen.

»Ich komme gleich zu dir. Ich muß noch ein paar Kunden begrüßen«, sagte ich.

Ein älterer Herr, den ich nicht kannte, ging auf David zu und verwickelte ihn in ein Gespräch. Nichts von Davids Gestik ließ jene Großspurigkeit erkennen, die ich an ihm nicht leiden konnte. Seine Züge waren weich, fast jungenhaft. Als Mona an den beiden vorbeikam, bepackt mit drei Auktionskatalogen, fiel ihr einer davon auf den Boden. David sprang ihr zu Hilfe, hob das Buch auf und bedachte sie mit einem scheuen, traurigen Blick. Der verdammte Hund war wirklich ein begnadeter Schauspieler! Sie bedankte sich und verharrte etwas zu lange auf der Stelle, sah dann suchend im Raum umher, bis unsere Blicke sich trafen. Sie schien etwas sagen zu wollen, wandte sich aber kurz entschlossen ab. Eine langjährige Kundin kam auf mich zu.

»Verzeihen Sie, Herr Dr. Saunders. Ich habe da neulich etwas im Fernsehen gesehen. Ich meine, dieser Mann da … ist das nicht der Herr, der die riesige Sammlung von Raubkunst geerbt hat, der Enkel von, wie hieß er noch mal – Hitlers Botschafter in Paris? Irgendwie kannte man den Mann vor dieser Geschichte gar nicht so richtig.«

»Otto Abetz.«

»Ja, genau, Otto Abetz. Ich hatte gar nicht erwartet, daß er hier sein würde.

»Ist er auch nicht.«

»Doch, da steht er. Ich erinnere mich an sein Gesicht. Kennen Sie ihn näher? Das ist ja alles hochinteressant.«

»Ich kann verstehen, daß die Sache Sie interessiert, gnädige Frau. Sie scheint äußerst dramatisch. Man weiß nur nie, ob das nun gut oder schlecht ist für die Kunst. Ich stelle Sie gerne vor, dann können Sie selber mit David Perlensamt sprechen.«

Ich sagte David, Frau Eppler hätte einige Fragen an ihn. Ich hatte erwartet, daß David jetzt aufdrehen, das Scheinwerferlicht wahrnehmen und sich darin sonnen würde. Nichts dergleichen geschah. Er nickte bescheiden und widmete sich der Dame genauso ernsthaft wie zuvor dem fremden Herrn. Immer noch umgab ihn diese traurige Aura. Eine halbe Stunde später verabschiedete sich Frau Eppler bei mir persönlich.

»Was für ein reizender junger Mann! So kultiviert. Ich finde seine Haltung bemerkenswert. Das sollte doch richtig an die Öffentlichkeit! So kleine Erwähnungen sind da nicht genug. Schade, daß ich keine Zeit habe, noch länger zu bleiben.«

Der Nachmittag verging schleppend. Die Sekunden krochen über das glatt gebohnerte Parkett, in dessen Fischgrätenmuster sich karikaturhaft die Gesten der Gäste spiegelten. David rührte sich nicht vom Fleck. Er war eine einzige Attacke auf mein Gewissen. Immer, wenn ich glaubte, nun seinen wahren Charakter erkannt zu haben, zeigte er sich wieder in neuem Licht. Als der unbekannte Herr sich sichtlich angetan von David verabschiedet hatte, ergriff ich die Gelegenheit und ging auf David zu. Noch ehe ich etwas sagen konnte, sprach er.

»Ich weiß, daß du nichts mehr mit mir zu tun haben willst. Du warst nicht der einzige, der sich nach dem Selbstmord meines Vaters von mir abwandte. Die Situation war wohl zu schwer für dich.«

Einen Augenblick lang wußte ich nicht, was ich auf diese Version erwidern sollte. Ich sah mich verlegen um.

»Mona ist schon gegangen, wenn sie es ist, die du suchst. Sie geht mir aus dem Weg, als hätte ich eine ansteckende Krankheit.«

»Du hast dich nicht gerade fair ihr gegenüber verhalten, gelinde gesagt. Sie hat zwar nicht gehört, wie du über sie sprachst. Aber wenn du dich dementsprechend verhalten hast, hat sie allen Grund, dich in Grund und Boden zu wünschen.«

»Hat sie etwas gesagt?«

»Natürlich nicht.«

»Die Sache mit Mona tut mir leid. Sie hat sich wirklich reizend um mich gekümmert. Ich hatte gehofft, in ihr jemanden zu haben, mit dem ich mich besprechen kann. Du hast dich ja aus dem Staub gemacht.«

»Wie kommst du dazu, nun mit den Bildern durch die Talkshows zu gehen?«

»Ich brauche Öffentlichkeit, um die Eigentümer zu finden.«

Glaubte David, was er sagte?

»David, dein Großvater war nicht Otto Abetz.«

»Ach, jetzt verbreitest du auch dieses Märchen. Ihr wollt euch alle entlasten.«

Eine Hilfe des Cateringservice bot uns weiteren Champagner an.

»Vielen Dank«, sagte David, »wenn Sie vielleicht noch ein Glas Wasser für mich hätten?«

»Seit wann trinkst du keinen Alkohol?«

»Seit Ahlbeck. Ich mache das jedes Jahr einmal. Einige Wochen keinen Alkohol. Bis Silvester. Die Askese tut mir gut.«

Spontan fragte ich ihn, ob wir zusammen etwas essen gehen sollten.

»Gerne, aber bist du sicher, daß du das möchtest?«

Als ich im Büro meinen Mantel holte, entdeckte ich eine Notiz von Mona. Sie wollte sich mit mir treffen. Schon im Mantel, wendete ich die Notiz in der Hand, griff zum Hörer, um sie anzurufen, verwarf den Gedanken, las den Zettel noch einmal und wandte mich zur Tür. David stand im Rahmen.

»Ruf sie doch an und geh mit ihr essen. Das überlegst du doch, nicht wahr? Es tut dir leid, daß du mich zum Essen gebeten hast. Das hast du nur getan, weil Mona dir durch die Lappen gegangen ist. Hat sie dir übrigens erzählt, daß sie schwanger von mir war?«

Mir stockte der Atem. »Ich sagte dir doch, sie hat mir überhaupt nichts erzählt«, preßte ich hervor.

»Nun, das war ihre sogenannte Krankheit. Eine Abtreibung ist, wie du vielleicht nicht weißt, für eine Frau kaum angenehm, selbst wenn sie den Vater des Kindes nicht liebt.«

Damit war er weg. Ich ließ mich auf einen Schreibtischstuhl fallen. David schaffte es immer wieder, eine Situation herzustellen, der ich mich nicht entziehen konnte. Im entscheidenden Moment schlug er einen Haken. Ich stand auf und verließ das Büro. Es hatte zu schneien begonnen. Die Luft hatte genau die Temperatur, um die kleinen Flocken vor der sofortigen Schmelze zu schützen. Ich ging über einen weißen Teppich, hinter mir verschneiten meine Tritte sofort. Ich hinterließ keine Spuren.