VIERZEHN

Draußen erwartete uns der gleiche Nieselregen wie am frühen Abend. Mir war kalt. Die Vorstellung, in einem fremden Bett zu schlafen und am nächsten Morgen in einer fremden Umgebung aufzuwachen, in ein anderes als mein Badezimmer zu gehen und nicht meine Schranktür zu öffnen, um vor meinen Klamotten zu stehen, machte mich nervös. Aber dann spürte ich auf einmal eine so gewaltige Müdigkeit, daß mir alles egal war. Hauptsache ein Bett. Mein Fahrrad stand ohnehin noch im Hof der Fasanenstraße.

Während wir die Treppe zur Wohnung Perlensamts hinaufgingen, geisterten mir einige wirre Gedankenfetzen durch den Kopf. Ich fragte mich, ob ich mich von anderen Freunden auch bedrängt gefühlt hatte. Die Freundschaften zu Schulkameraden und Kommilitonen waren anders gewesen – nicht so eng, nicht auf diese Weise verpflichtend. Nicht so merkwürdig emotional. Die Freundschaften früher hatten eher auf Baseball und Tennis basiert als auf einer Frage von Leben und Tod.

Ich lehnte ab, als David noch eine Flasche Wein aufmachen wollte. Ich mußte am nächsten Morgen so früh wie möglich raus. Er hätte gern noch weitergeredet. Er konnte nie ein Ende finden. Aber wenigstens darin setzte ich mich durch.

David richtete die Couch in der Bibliothek und wollte mir sein eigenes Bett überlassen.

»Mein Zimmer ist am Ende des anderen Korridors.«

Er wies auf eine zweiflügelige Tür in einer Ecke der Halle.

»Es ist bequemer. Du bist ganz für dich. Frau Arno wird gar nicht bemerken, daß du da bist, wenn sie morgen kommt.«

Ich hatte dieser Tür bisher keine Aufmerksamkeit geschenkt. Daß dahinter noch ein Gang lag, war nie zur Sprache gekommen. Offenbar gab es von diesem Seitenflügel sogar eine Verbindung ins Vorderhaus. Die Wohnung war noch größer, als ich angenommen hatte. Ich lehnte ab und nahm die Couch.

»Ich werde fort sein, bevor Frau Arno kommt. Im Büro gibt es ziemlich viel zu tun, und ich muß vorher noch zu Hause vorbei.«

»Danke, daß du mitgekommen bist. Ich werde in jedem Fall besser schlafen. Wenn es dir nichts ausmacht, wäre es schön, wenn du die Tür einen Spalt offen ließest. Gute Nacht.«

Irgendwann wachte ich auf von einem merkwürdigen Geruch, wie mir schien. Ich bekam keine Luft. Zuerst war ich orientierungslos. Dann fiel mir ein, daß ich nicht zu Hause war. Der Geruch schien intensiver zu werden, irgendein schweres Parfüm, als hätte jemand den Raum eingenebelt. Es war vollkommen still. Kein Geräusch drang von außen herein. Mir war, als könnte ich jemanden atmen hören. David? Unsinn. Zwischen uns lag die Halle und rechts davon der andere Korridor, an dessen Ende sich Davids Zimmer befand. Mein Rachen fühlte sich trocken an. Mein Schädel brummte. Das mußte von dem eigentümlichen Geruch herkommen. Erst als ich aufstand, fiel mir auf, daß ich nackt war. Ich war absolut sicher, meine Unterwäsche anbehalten zu haben. Ich fand meine Shorts neben der Couch auf dem Boden, zog sie an, streifte mein Hemd über und tastete mich durch das Halbdunkel bis zur Küche. Während ich ein Glas Wasser aus der Leitung trank, kam mir ein Traumfetzen zu Bewußtsein. Ein Fremder im Zimmer. An meinem Bett. Eine Hand auf meinem Rücken. Davids Stimme. Es gibt etwas, das uns auf immer verbindet, das uns immer schon verbunden hat. Jetzt fing ich also auch an, mich in diesen Blödsinn hineinzusteigern. Nach dem zweiten Glas Wasser wurde mir etwas besser. Draußen sah es nach Morgengrauen aus. Es war immer noch vollkommen still. Kein Laut von der Straße. Wie war es möglich gewesen, daß in dieser Stille niemand die Schüsse gehört hatte? War das Gemäuer so dick, daß nichts in die Wohnung darüber oder darunter dringen konnte? Plötzlich hatte ich den Eindruck, der ganze Fall sei tatsächlich halbherzig ermittelt worden. Es hatte geheißen, David hätte, aufgescheucht von den Schüssen, seinen Vater überrascht und ihn gerade noch davon abhalten können, die Waffe gegen sich selbst zu richten. Wie lange aber mußte der alte Perlensamt gezögert haben! David hatte einmal quer durch die Wohnung sprinten müssen, von dem Ende des einen Korridors quer durch die Halle zum Ende des anderen Korridors, wo sich das Schlafzimmer seiner Eltern befand. In dieser Zeit konnte sich jemand, der entschlossen war, dreimal erschießen.

Ich ging in die Bibliothek zurück. Es war halb sieben, eine gute Zeit, mich anzuziehen und die fremde Wohnung zu verlassen. Ich suchte meine Klamotten zusammen und konnte mich nicht erinnern, sie dort abgelegt zu haben, wo ich sie fand. Vor allem lagen sie nicht so, wie ich sie üblicherweise zusammenlege. Ich schwankte, als ich nach meiner Hose griff. Während ich mein Hemd zuknöpfte, versuchte ich, mich an irgend etwas zu erinnern, nachdem David Gute Nacht gesagt hatte. Aber da war nichts. Ich hatte einen Filmriß. Ich wußte nicht einmal mehr, wie ich ins Bett gekommen war. Dabei hatte ich an dem gestrigen Abend nur wenig getrunken. Wieder fielen mir ein paar Fetzen des merkwürdigen Traumes ein.

»Mein Vater – verstehst du jetzt, warum es so kommen mußte?«

Davids Stimme ganz nah an meinem Ohr. Aber nicht nur seine Stimme. Es war, als hätte er neben mir gelegen. Als hätte ich seinen Körper gespürt, einen sehr muskulösen Körper.

»Deswegen?«

»Natürlich deswegen, was dachtest denn du?«

»Aber – aber hat er deswegen seine Frau getötet? Ich verstehe nicht – da gibt es doch gar keinen Zusammenhang.«

Ich hatte mich angezogen und sah mich noch einmal um. Das Bett. Ich konnte es unmöglich so lassen. Es sah zerwühlt aus. Ich zerwühle nie mein Bett. Ich wollte nicht, daß irgend jemand es so fand. Ich ging zurück und zog die Laken ab. Dann knüllte ich alles zusammen und trug den Wäschehaufen in die Küche, erleichtert, daß mir das noch eingefallen war. Dann verließ ich die Wohnung so leise wie möglich.