ZWEIUNDDREISSIG

Ich habe geschlafen, als hätte mir jemand Morphium verpaßt, traumlos und bleiern. Als Madame Eugénie mich weckt, weiß ich nicht, wo ich bin. Draußen ein strahlender Sommertag. Dann fällt es mir ein: nicht Berlin, sondern Brüssel. Ich gehe, auch nach der Dusche noch schlaftrunken, in die Küche, nehme im Stehen einen Kaffee.

»Monsieur, der Karton ist ja leer?! Sind Sie nun fertig oder müssen Sie noch mehr verbrennen? Könnten Sie es bitte in kleinen Portionen tun? Der Aschenhaufen ist so groß, daß er schon auf den Teppich rieselt. Ist es Ihnen recht, wenn ich neues Kaminholz bestelle?«

Madame Eugénie spricht wieder in einem Ton mit mir, als sei ich irre. Es gibt tatsächlich nichts mehr zu verfeuern. Alle Dokumente zu Perlensamts Familiengeschichte sind verbrannt. Soll sie Kaminholz bestellen, mir egal, vor dem Herbst brauche ich keines mehr. Ich setze mich ins Auto. Der Flughafen ist nah, kaum Verkehr in dieser Richtung. Ich bin eine halbe Stunde zu früh am Ankunftsterminal.

Und nun kommt Mona. Es stimmt, ich habe an sie gedacht, als ich durch die Räume ging und zusah, wie die Packer die Möbel entluden und Madame die Kisten öffnete. Es war ein Spiel. Aber noch im selben Augenblick, in dem ich mir vorzustellen versuchte, wie Mona in diesem Haus an einem Schreibtisch sitzt, vielleicht auf der zweiten Etage, fühlte ich mich wie gelähmt. David habe ich mir hier nie vorstellen können. Aber manchmal habe ich ihn vermißt.

Dem Flughafen merkt man an, daß internationale Geschäftsleute kommen und gehen, politische Unterhändler, wenig Touristen. Man sieht es an der Kleidung, einheitlich, offiziell, einfallslos. Man sieht es auch an Blicken und Bewegungen, zielgerichtet, keine vergeudete Energie. Eigentlich widerspricht das der Atmosphäre der Stadt. Brüssel macht auf mich nicht den Eindruck strenger ästhetischer Organisation. Es erscheint mir wie ein Vexierbild, nicht ganz wirklich, und oft genug bei meinen Streifzügen durch die Stadt ging es mir so, als schriebe vor meinen Augen jemand den Ort einfach um, nicht nur den Verlauf der Straßen und Plätze, sondern auch die atmosphärische Dichte und die Konzentration der Bevölkerung, so daß man mitunter die Orientierung verliert.

Mona hat nicht gesagt, wie lange sie bleiben will. Jemand fragt mich, ob ich auch auf den Flug aus Berlin warte, und weist auf die Tafel. Der Flug hat zehn Minuten Verspätung. Hätte ich Blumen mitbringen sollen? Ich habe mir nicht einmal Gedanken darüber gemacht, was ich ihr zeigen könnte. Vielleicht fahren wir erst einmal in die Stadt, zur Place de Grand Sablón. Es wäre die richtige Zeit, um dort ein kleines Mittagessen einzunehmen.

Endlich das Zeichen auf dem Display, daß der Flug gelandet ist. Ich hätte ihr doch Blumen mitbringen sollen. Das wäre offizieller gewesen. Sie hätte sie in ihr Zimmer stellen können, im zweiten Stock, wo Madame Eugénie gerade das Bett richtet. Es ist praktisch, daß das Haus mehrere Stockwerke hat. Daß man sich aus dem Weg gehen kann. Auch ein eigenes Bad ist auf der Gästeetage. Die ersten Leute kommen. Herren zwischen Mitte Dreißig und Mitte Fünfzig. Sie sehen aus, als hätten die Ministerien sie ausgespuckt, Verteidigung, Verkehr, Auswärtiges Amt. Kaum eine Frau darunter, und wenn, sieht sie nicht aus wie eine Frau, sondern uniform und geschlechtslos, wie man das von Polizistinnen kennt. Dann kommt doch eine. Mein Alter, hochelegant. Vermutlich lebt sie hier und nicht in Berlin. Sie wird abgeholt von einem großen schlanken Typen, sympathisch, sieht nach was aus. Sie umarmen sich. Er nimmt ihre Tasche. Noch zwei oder drei von diesen Aktenträgern, dann zwei Jungs, die wie Politjournalisten aussehen, offenes Hemd, Lederweste, Mobile mit Knopf im Ohr. Das war’s. Ich warte noch zehn Minuten. Die Mitglieder der Crew kommen. Zur Sicherheit erkundigte ich mich bei einer Frau, ihrer Uniform und den Streifen nach zu urteilen könnte sie Flugingenieurin sein – oder ist sie die Pilotin? Egal. Nein, der Flieger ist leer. Mona ist nicht mitgekommen.

Madame Eugénie ist ausgegangen, aber sie hat in der Gästeetage alles vorbereitet, für meine Frau – dies zu betonen wurde sie nicht müde. Das Bad ist mit frischen Handtüchern bestückt, das Bett bezogen. Auf dem Schreibtisch stehen eine Vase mit Blumen und eine Schale mit Obst. Madame hat einen Stuhl und einen kleinen Tisch auf den Balkon gestellt. Von hier aus hat man einen schönen Blick in die Wipfel der Bäume. Ich gehe hinunter in meine Etage. Auf meinem Bett liegt Perlensamts leere Aktenmappe, ein schönes Ding von einer französischen Lederfirma mit Tradition, ganz exquisit. Das ist mir vorher nie aufgefallen. Vielleicht sollte ich mir angewöhnen, sie selbst zu benutzen. Ich hole Großmutters Kassette aus dem Schrank. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, daß ich die Schatulle gezwungenermaßen mit nach Berlin genommen habe und immer noch nicht los geworden bin. Ich sehe mich noch einmal, wie ich in der kleinen Diele des Langenfelder Häuschens stehe, verlegen, Frau Mothes gegenüber vorzugeben, daß der Inhalt wichtig für Rosie sei, wissend, daß sie sich für den Kram darin nicht interessiert – daß sie sich für gar nichts interessiert, was sie in Langenfeld zurückgelassen hat. Was für ein Glück, daß es sich nur um so ein kleines Ding handelt und nicht um einen Schrankkoffer. Dabei fällt mir ein, daß ich mich um den Hausverkauf kümmern muß.

Die forsche Bedienung des Staubsaugers in der oberen Etage durch Madame Eugénie nimmt mir die wirre Phantasie. Ich breche das Kästchen mit einer Nagelfeile auf. Es ist innen mit rosa Stoff ausgeschlagen. Die abnehmbare Etage mit einer Rinne für Ringe ist leer. Im Fach darunter liegen drei Orden und ein Päckchen Papiere. Sie sind mit einer Kordel zusammengehalten. Zuoberst ein Reisepaß. Auf dem Deckblatt der Adler mit Laub umkränztem Hakenkreuz, DARUNTER DEUTSCHES REICH, darunter Nr. 05265 H/40. Es ist der Reisepaß von Rosemarie Lieselotte Schmidt, ausgestellt am 29. März 1941 in Düsseldorf, ungültig seit März 1945. Geboren ist sie am 11. November 1931. Unter Beruf steht Schülerin. Das Paßphoto zeigt ein lachendes, pausbäckiges Mädchen mit seitlich gescheitelten dunkellockigen Haaren. Die Locken habe ich nicht geerbt. Auch die Farbe nicht. Sie trägt einen Pullover, aus dem ein weißer, runder Kragen hervorguckt. Die folgenden Seiten sind leer. Ich ziehe ein Photo zwischen dünnen Papieren hervor, ungefähr doppelt so groß wie eine Briefmarke. Ein Mann in Reichsuniform, ungefähr dreißig, kurzgeschnittenes helles Haar, keine Kopfbedeckung, markante Züge. Er trägt einen der Orden. Rückwärtig der Stempel eines Photostudios in Antwerpen, Begijnenstraat 76. Darunter, handgeschrieben: Für meine Rosie von ihrem Hans. Eine Postkarte mit dem Eiffelturm, schwarzweiß. Rückseitig von einem kleinen Abstecher nach Paris grüßt Dich aufs herzlichste Dein Hans. Es ist herrlich hier auf dem Eiffelturm, habe diniert. Wenn Du groß bist, machen wir das gemeinsam. Ein Brief auf dünnem Papier, blau, vom 6. 8. ’43. Lieber kleiner Pummel! Wie alles so geht auch der Urlaub zu Ende … Bis Paris bin ich 2. Klasse gefahren, immer standesgemäß! Dort sind wir dann einen ganzen Tag geblieben.

Gelebt haben wir dort echt französisch, angefangen bei Bieren, –,30 das Stück, bis zu Pilzen (Champignons) und Wein. Nur allzu früh mußten wir dieser herrlichen Stadt Lebwohl sagen … Viele liebe Grüße von Deinem großen Hans. 6.IO.’43 Liebes Rosiekind! Komme gerade von einem Nachtflug zurück, ich wünschte, Du könntest das einmal erleben! Fliegen ist wirklich mein Ein und Alles. Frankreich, ja davon habe ich eine andere Vorstellung gehabt, ob ich nun enttäuscht oder belehrt worden bin, weiß ich noch nicht … wir kommen wenig mit der Bevölkerung zusammen … Schreib bitte bald und sei von Herzen gegrüßt von Deinem Hans. 8.11.43 Lieber kleiner Pummel! Heute bin ich von einem viertägigen Überlandflug zurückgekommen … es war herrlich. Ich warte so auf Post von meiner kleinen Rosie. Und horte ein paar Sachen für Weihnachten, damit mein Kind auch in diesen Zeiten so bleibt, wie es ist … Du kannst Dich schon einmal freuen … Liebe Grüße, auch an die Eltern von Deinem großen Hans. 4.10.44 Liebe kleine Rosie! Hab Tausend Dank für Deinen entzückenden Brief. Puder? Wird mein Kind schon so groß, daß es Puder möchte? Ich werde sehen, was sich machen läßt. Vielleicht auch Stoff? Dann brauche ich noch Deine Strumpfgröße, am Fuß natürlich! … 30.1.45 Rosie, mein Herz, vielleicht ist das für lange Zeit der letzte Brief …

Der nächste Brief datiert erst wieder vom 12. Januar 1954. Geliebte Rosie! Es hat mich geschmerzt, daß Du mich weder zu Weihnachten noch zum Jahreswechsel sehen wolltest. Dein letzter Brief sagte, Du müßtest nachdenken. Es war nicht leicht, hier in Osnabrück Arbeit zu finden. Ich war so froh, daß mir das gelungen ist. Nach unserer letzten Begegnung vor vier Wochen hoffte ich, Du kämest mir nun für immer nach. Am Morgen dieser wunderbaren Nacht wäre ich am liebsten sofort zu Deinem Vater geeilt, um ihn um Deine Hand zu bitten, wartete nur auf ein Zeichen von Dir. Nun schreibst Du, daß Du alles überdenken müßtest … Laß es mich bald wissen. Das Warten all die Jahre in Rußland war zu lang und grausam, als daß ich jetzt noch all zu viel Geduld haben könnte. Aber für mein geliebtes Kind bringe ich die Reste davon, die ich noch zur Verfügung habe, gerne auf. Dein Hans.

Und schließlich der letzte Brief vom 3. Februar 1954. Meine liebe Rosie! Deine Mutter schrieb mir, daß es Dir nicht gut ginge. Du seist reizbar und launisch. Sie schlägt vor, ich sollte Dich auf eine kleine Reise entführen. Ich ahne, daß es nicht das ist, was Du willst. Da Du Dich nicht mehr gemeldet hast, glaube ich, Du willst fort. Vielleicht ist es am besten so. Ich bitte Dich sehr, die Orden, die ich Dir damals schickte, im Garten zu vergraben. Das sind Dinge, die heute niemandem mehr in die Hände fallen sollen, auch wenn bald niemand mehr weiß, was sie (mir) einmal bedeutet haben. Ich schließe Dich in mein Herz. Dein Hans.

Anfang April schiffte sich Rosie nach New York ein.

Ich nehme Geldbeutel, Mobile und Hausschlüssel und laufe aus dem Haus. Auf der Höhe des Parks sage ich mir, daß ich vielleicht Zusammenhänge sehe, wo keine sind. Während ich laufe, höre ich die Nachrichten auf meinem Mobile ab. Drei sind mehr als zwei Wochen alt. Eine Nachfrage, ob ich zu einer Vernissage in die Holzmarktstraße käme. Offenbar hat noch nicht jeder mitbekommen, daß ich nicht mehr in Berlin bin. Mona. Sie sagt, daß sie David meine Nummer gegeben habe. Rosie. Wo ich stecke. Die Leitung in Berlin sei tot. Ich hätte den Geburtstag von Bob vergessen. David. Warum ich sang- und klanglos untergetaucht sei. Was er mir getan hätte? Ich fehlte ihm. Drei Tage alt. Hatte er von Berlin oder Brüssel auf die Mailbox gesprochen? Schließlich, D.D., mein ehemaliger Chef aus New York. Sie Idiot! Sind Sie vollkommen durchgedreht? Ich nehme Ihre Kündigung nicht an. Denken Sie bloß nicht, daß ich nicht rausfinde, wo Sie sich verkrochen haben. Ich will, daß Sie Ihren Job wieder aufnehmen, verstanden? Die harsche Nachricht tröstet mich. D.D. Miles ist genau der Typ, den man zum Chef haben will, glaube ich. Ich hatte vergessen, wie viel ich ihm verdanke. Als ich an der Grand Sablón ankomme, merke ich, daß ich unwillkürlich die Galerie ansteuere, in der David vor ein paar Tagen verschwand. Die Räume sind künstlich erleuchtet, trotz Sommertag und Sonne. Erst jetzt nehme ich die Bilder und Objekte durch die Scheibe wahr. Es sind nur wenige, eine bunte, aber wohl ausgesuchte Accrochage. Hinten im Fond, an dem Schreibtisch beim gegenüberliegenden Fenster sitzt die Dame, die David hineingelassen hat. Ich läute. Sie sieht auf und kommt langsam zur Tür, längst nicht so eifrig, wie sie es bei David getan hat.

»Ich würde mir gerne die Ausstellung ansehen. Ist das möglich?«

Sie mustert mich und nickt. Die Ausstellung ist auch bei näherer Betrachtung durchaus bemerkenswert. Aber was wollte David in einer Brüsseler Galerie für Gegenwartskunst? Eine Tür geht auf. Ein Mann Mitte oder Ende sechzig kommt heraus, begleitet von einem viel jüngeren. Der Ältere in Anzug und Krawatte gibt sich den Anschein, der Eigentümer der Galerie zu sein. Der junge Typ wirkt eitel, fast blasiert, unangenehm sicher für sein Alter, finde ich. Schwarze Haare, ein bißchen wie David. Schlicht gekleidet, nur in weißem Hemd und Jeans. Ich meine, ihn schon einmal gesehen zu haben. Der Galerist begleitet ihn zur Tür, die hinter dem jungen Mann wieder zugeschlossen wird. Ich sehe ihm nach. Seine Bewegungen sind geschmeidig. Der Körper wirkt durchtrainiert, sehnig und muskulös. Da fällt mir ein, wo ich den Jungen schon einmal gesehen habe: Berlin. Der Kunsthändler am Leipziger Platz. Courbets Bild vom Meer. Er war der Assistent des spurlos verschwundenen Herrn von Arnold. Nicht allzu schnell, gerade so, daß der Galerist und seine Mitarbeiterin nicht den Eindruck haben, ich liefe dem jungen Typen hinterher, verabschiede ich mich. Auf der Straße sehe ich ihn in Richtung Sablón verschwinden. Ich blicke mich um. Niemand aus der Galerie achtet auf mich. Der Junge geht den Hügel hinunter, mit federndem Gang, Richtung Unterstadt. Er telephoniert eifrig, als würde er einen Deal abwickeln. Ich sprinte ihm nach.

Kurz vor dem Bahnhof gelingt es mir, ihn bis auf ein paar Meter einzuholen. Es ist bemerkenswert, wie schnell und elegant er sich bewegt. Er betritt die Galerie St. Hubert. In der überdachten Ladenstraße drängeln Touristen. Erst jetzt fällt mir ein, daß Wochenende ist. Der Typ betrachtet die Auslage einer Papeterie. Ich beobachte ihn und gleichzeitig unser Spiegelbild in der Fensterscheibe, zwischen Massen fremder Köpfe, die sich neben uns spiegeln. In den verschwimmenden Konturen erblicke ich einen jüngeren David. Er sieht auf die Uhr, zögert, überlegt. Er wird von einem jungen Paar angerempelt. Rucksacktouristen. Bleibt unbeeindruckt auf der Stelle stehen. Dann, plötzlich entschlossen, betritt er ein Café. Ich verliere ihn aus dem Blick. Die Menge wird dichter. Bald verdeckt der Menschenpulk die filigrane Ästhetik der Passage. Die feinen Auslagen in den Vitrinen verschwinden hinter rotzig gekleideten, grellbunten Gruppen. Ich werde gestoßen. Es ist heiß und stickig. Die Menschen riechen ranzig, ungewaschen, verschwitzt. Ich drehe mich um, suche nach einem Ausgang, streife dabei noch einmal das Innere des Cafés. Da sehe ich ihn schemenhaft die Treppe herunterkommen. Er ist nicht allein. Ich wühle mich ein paar Schritte aus der Menge in eine Nische und warte. Er kommt mit David heraus. Zielstrebig gehen sie in Richtung Grand Place. Von wegen Kunst. David hat einen Freund in Brüssel.

»Brüssel? Warum ausgerechnet Brüssel? Du suchst in Brüssel einen neuen Job?«

Mona hatte gar nichts verstanden. Es hätte jede Stadt sein können, Hauptsache unbekannt. Monate hatte ich damit verbracht, in Berlin nur noch meinen Job nach Vorschrift zu tun und nachts an nichts anderes zu denken als an David – und wie ich diesem merkwürdigen Verhältnis entkommen könnte. Eine Zeitlang war alles ruhig gewesen. Er meldete sich nicht bei mir und ich mich nicht bei ihm. Und dann hielt ich es plötzlich nicht mehr aus. Just in dem Moment, als ich zum Hörer greifen und mich mit ihm verabreden wollte – ähnlich der Situation, wenn ein Trinker nach Monaten der Trockenheit wieder zur Flasche greifen will –, ergab sich die Gelegenheit mit Brüssel. Das rettete mich. Mit Brüssel verband ich nichts außer dem Europaparlament und der Schokolade von Marcolini. Ich hatte untertauchen wollen. Das Haus, das ich übernehmen konnte, der absurde Ort waren Grund genug. Daß ich den beiden folge, merke ich erst, als ich hastig zu laufen beginne. Ich habe sie aus den Augen verloren. Wie der Teufel es will, klingelt mein Mobile.

»Wo sind Sie?«

»D.D.?«

»Wo sind Sie, Saunders?«

»In Brüssel. Und ich habe vor, hier zu bleiben. Ich habe gekündigt.«

»Ihre Kündigung liegt im Müll. Sie können Jahresurlaub nehmen. Es ist ohnehin Sommer. Im September erwarte ich Sie in New York. Sie waren lange genug in Berlin. Ich brauche einen neuen Büroleiter hier.«

»Ich wohne jetzt in Brüssel.«

»Gehen Sie einmal die Galerien durch. Ich will wissen, was da angeboten wird. Ich habe was läuten hören, daß ein Matisse, der in Lausanne zu Hause war, umgezogen ist. Vielleicht wird er in Brüssel vertickt. Das Bild gilt als Fälschung. Aber ich habe den Verdacht, daß es sich bei der Story mit der Fälschung um eine Fälschung handelt …«

»D.D., ich bin nicht mehr bei der Firma.«

»Das wäre das erste Mal, daß ein Jude über den Witz eines Gois lachen kann.«

Bevor mir darauf eine Antwort einfällt, ist die Leitung tot. Ich sehe, wie die beiden den Rathausplatz überqueren. Als ich ansetze, ihnen hinterher zu laufen, versperrt mir eine riesige Gestalt den Weg. Was für eine Hitze, was für ein Gedränge. Die Figuren werden immer mehr. Übermenschengroß. Sie überschwemmen den Platz, der ebenso gut der Marktplatz von Siena sein könnte oder die um das Zehnfache vergrößerte Kopie einer venezianischen Piazza in der Wüste von Vegas. Wer vermag zu entscheiden, was Original und was Fälschung ist? Ist das eine nicht nur ein Zustand des anderen? Genauso wahrscheinlich könnte eine Fälschung zu einem Original werden: da eine Kopie in Umlauf ist, die Fälschung der Fälschung. Wer weiß, ob nicht das, was wir das Original nennen, längst eine Fälschung ist? Ich versuche, mich durch den Dschungel von Stelzenbeinen zu winden. Aufgepumpte Tierläufe verstellen mir den Weg. Ich entkomme nur mit Mühe einem Elefantenfuß, den Schuhen von Daisy, den kralligen Latschen eines Dinosauriers, als Tigerpranken mich niederzureißen drohen. Vor mir tut sich der Schlund von Skylla auf. Charybdis will nach mir greifen. Am Himmel, der bis jetzt noch unbevölkert war, tauchen Flugobjekte auf, halb Mensch, halb Tier, Chimären, deren Körper ich nicht einordnen kann. Weiß der Teufel, womit sie gefüllt sind, Pappmaché, Wasser oder Muskelfleisch. Der Lärm legt sich auf mein Trommelfell wie öliger Brei. Darunter beginnt es zu pochen. Ich weiß nicht, ob die Menge um mich herum jubelt oder kreischt oder der Invasion von aufgeblasenen Tölpeln den Kampf ansagt. Es wird heißer, stickiger, lauter. In der Atmosphäre scheint der Sauerstoff knapp zu werden, als packte jemand die Erdkugel in ein nasses Tuch. Der Boden bebt. Der Rummelplatz reißt auf und bricht in zwei Stücke. Ich sehe gerade noch, wie ein Teil von Mensch, Halbwelt und Tier in die Spalte fällt, in einen gefräßigen, stinkenden Rachen, als sei die Untiefe nichts als ein riesiger leerer, übersäuerter Magen. Von fern höre ich einzelne Stimmen. Weich und ruhig dringen sie durch den weißen Lärm. Mir ist, als sei ich selbst die Erde und mein Innerstes kehre sich nach außen.

»Er kommt zu sich. Sieht so aus, als müsse er sich direkt wieder übergeben.«