FÜNFZEHN

Ich wandte mich an einen alten Freund. Kaspar de Lac entstammt einer deutschen Diplomatendynastie. Wir kennen uns von Harvard. Er war seit einem halben Jahr von einem Posten in Shanghai zurück. Bisher waren wir noch nicht dazu gekommen, uns zu treffen. Erst da fiel mir auf, wie viel Zeit ich mit David verbrachte. Ich bat Kaspar, in der Bibliothek des Auswärtigen Amtes nachsehen zu lassen, ob es etwas über Otto Abetz gäbe – und was.

»Ich rufe sofort unten an. Komm am Nachmittag vorbei, dann liegt das Zeug bereit.«

Kaspar und ich hatten uns einige Jahre nicht gesehen. Er war dünn geworden und sah deutlich älter aus. Früher hatte er etwas Verspieltes, Unernstes an sich gehabt. Er hatte gern gerauft, war sportlich und albern gewesen und sehr relaxt: Vielleicht lag das an seinem Familienhintergrund. Ich hatte ihn darum beneidet. Er kam eben aus diesen Kreisen, und alles, was sich dann ergeben hat, war für ihn selbstverständlich und für mich unerreichbar – einschließlich, wie ich bald feststellen sollte, einer solchen Ehefrau. Aus dem jungen Hund, mit dem ich einst Unsinn getrieben hatte, war ein Mann mit klaren Zielen geworden. Vermutlich das, was man einen souveränen Diplomaten nennt. Kaspar tat ein bißchen so, als gehörte der ganze Laden ihm.

»Du hast vollkommen recht, mich an meine Rebellion gegen das Amt zu erinnern. Ich bin halt doch nicht so solitär, wie ich es gern gewesen wäre. Die Familie war stärker. Vage lieben wir das Land, aus dem wir kommen, und ebenso vage halten wir es darin nicht aus. Ständig davor wegzulaufen und in anderen Gefilden von der eigenen Herkunft zu schwärmen, liegt uns in den Genen. Der Rest ist Dekoration.«

Wen er mit uns meinte, seine Familie oder das Auswärtige Amt, blieb unklar. Er wollte wissen, wozu ich die Recherchen über eine so düstere Figur anstellte. Nachdem ich ihm von Perlensamt erzählt hatte, sah Kaspar mich zweifelnd an.

»Was geht dich das an? Sei froh, daß du damit nichts zu tun hast. Laß die Pfoten von dem Typen.«

Leichte Arroganz klang im Unterton dieser Warnung mit, als wollte er sagen, Martin, das ist kein Umgang für dich. Ich lachte verlegen. Ein mulmiges Gefühl blieb zurück, das ich mir nicht erklären konnte. Kurz erwog ich, das Kindheitserlebnis aus Langenfeld zu erwähnen, unterließ es dann aber. Ich wollte mich nicht lächerlich machen. Kaspar war nicht der Mensch, der glaubte, alles hinge mit allem zusammen.

»Ich habe noch nie den Enkel eines dieser Monster kennengelernt«, gab ich jovial zur Antwort und versuchte, die ganze Sache ins Komische zu ziehen. Im selben Augenblick hatte ich das Gefühl, David zu verraten.

»Woher weißt du, daß ich keiner bin? Du hast mich nie nach meinem Großvater gefragt.« Kaspar lachte treuherzig. »Du, verrenn dich nicht. Auch Monster basieren in erster Linie auf derselben Chemie wie wir – und du bist kein Psychoanalytiker. Du hast genug mit deiner Karriere zu tun. Laß uns abends mal was trinken gehen, wenn ich aus dieser Knochenmühle rauskomme, gern auch zu viert.«

»Zu viert? Denkst du an jemand Bestimmtes?«

Er lachte wieder. »An meine Frau. Ich habe geheiratet, bevor ich nach Shanghai ging, Hals über Kopf. Die Familie war ziemlich sauer über diese Blitzhochzeit. Wir könnten uns auch zum Essen treffen, bring jemanden mit. Oh, entschuldige – was heißt hier jemanden, womöglich bist du inzwischen auch verheiratet?«

Ich verneinte eilig. Er brachte mich in die Bibliothek und lieferte mich vor einem riesigen Stapel Bücher ab.

»Wenn du etwas mit nach Hause nehmen willst, laß es auf meinen Namen eintragen.« Kaspar gab mir einen leichten Klaps auf die Schulter. »Und melde dich, okay? Ich meine es ernst. Du siehst abgearbeitet aus. Du mußt dich amüsieren.«

Oben auf dem Stapel hatten die Memoiren von Otto Abetz gelegen. Das Anfang der fünfziger Jahre erschienene Buch trug den sinnigen Titel Das offene Problem. Auf dem Vorsatzpapier stand eine handschriftliche Widmung des Verfassers. Dem Kreisverband Altona der Deutschen Jungdemokraten für 1.750 gesammelte Unterschriften zur Erreichung der Generalamnestie als Anerkennung überreicht. Landesjugendtag 1952 in Werl. Davids Großvater war noch kürzer in Haft gewesen, als ich angenommen hatte.

Die Akten überflog ich in der Bibliothek. Die Publikationen nahm ich mit nach Hause. Zwei Biographien waren darunter. Eine, die den Zeitraum bis 1945 behandelte – offenbar die Doktorarbeit eines deutschen Historikers. Schon der Anfang las sich ziemlich trocken. Die andere Biographie reichte bis zu Abetz’ Tod und schien lesbarer geschrieben. Die Autorin war Französin. Schon im Vorwort war klar, daß sie davon ausging, daß jeder wußte, über wen sie schrieb. David hatte recht. In Frankreich erinnerte man sich an Otto Abetz. In Deutschland kannte man kaum noch seinen Namen.

Einige Tage später rief Kaspar an. Er lud mich für den kommenden Samstag ein. Ich sagte gedankenlos zu.

»Bring jemanden mit.«

Wen bloß? David? Mein Gefühl sagte mir, daß das kompliziert werden könnte.

Auf dem Schreibtisch in meiner Wohnung türmten sich inzwischen die Kopien der Dokumente, das Urteil des Pariser Militärgerichts von 1949, Korrespondenzen von 1936 aus Gauleiterbüros der NSDAP, Botschaftsberichte an das Auswärtige Amt. Mittig auf den Blättern prangte das Hakenkreuz. Nichts Spektakuläres in dieser Zeit, kein Beweismaterial für besonders niederträchtiges Verhalten. Was ich im Auswärtigen Amt vermißt hatte, hatte ich im Bundesarchiv gefunden. Das düstere Aussehen der Kopien hatte nichts mit den dunklen Jahren zu tun. Es rührte von dem schlechten Kopierer, der direkt vom Mikrofilm ablichtete. Und doch sahen diese Doppel so aus, als seien Erscheinung und Inhalt aneinander gekoppelt, verbunden durch einen undurchsichtigen Zusammenhang. Jetzt liegen sie wieder vor mir, Unterlagen, die Stimmung machen, aber nichts erklären, nichts erläutern. Jedenfalls nicht den Fall Perlensamt. Ich werfe alles in die Flammen.

Ich hatte ein einziges Porträtphoto von Otto Abetz gefunden. Darauf sah er David überhaupt nicht ähnlich. Ob die Ähnlichkeit, die Bernstein bei dem Schüler intuitiv festgestellt hatte, sich im Laufe von Davids Entwicklung verwachsen hatte? Ich wagte nicht, David darauf anzusprechen. Ich vermied das Thema, wenn wir uns trafen. Je mehr ich mich mit seiner Familie beschäftige, desto größer wurden meine Zweifel und meine Distanz zu ihm.

Zu Kaspars Einladung nahm ich Mona mit.

Seit seiner Rückkehr aus Shanghai bewohnte Kaspar mit seiner Familie das Parterre und die erste Etage eines dreistöckigen Hauses in Schöneberg. Da ihm das Terrain nicht groß genug gewesen war und darüber hinaus die Eigentümer das Nachbarhaus hatten verkaufen wollen, erwarb er kurzerhand das angrenzende Grundstück und ließ das häßliche Gebäude darauf abreißen. Die Idylle, die er mitten in der Stadt geschaffen hatte, war bemerkenswert – und wäre von dem Gehalt eines vortragenden Legationsrats kaum zu bestreiten gewesen. Sie wurde dadurch perfekt, daß seine Frau Solange eine begeisterte Amateurgärtnerin war. Erbin eines großen Vermögens zudem. Ich war beeindruckt. Mona nicht.

Außer uns war ein Ehepaar eingeladen, offenbar eine Schulfreundin von Kaspar mit ihrem Mann, sowie ein Amtskollege, Arthur – den Familiennamen habe ich vergessen –, der gerade auf Posten in Ruanda war. Er schien mehr als angetan von Mona. Ich sah es auf den ersten Blick. Mit gemischten Gefühlen.

Obwohl es Dezember war, wurde gegrillt. Das war der Tribut, den wir an den Garten zu leisten hatten. Wir standen eine Weile in Mänteln, Jacken und Schals herum, wärmten uns an der Glut und harrten der Erlaubnis, hineingehen zu dürfen.

»Du hast eine sympathische Freundin. Eine richtige Schönheit.«

Wir hatten uns nach drinnen verkrochen mit der Ausrede, wir sähen nach dem Wein.

»Ja. Aber sie ist nicht meine Freundin. Sie ist eine Kollegin aus der Firma.«

»Schade.« Dann grinste er. »Kann ja noch werden, das heißt, wenn dir da nicht gerade jemand in die Quere kommt.«

Er wies nach draußen. Der aufgeblasene Typ war in ein Gespräch mit Mona vertieft. Geistesabwesend schob er die Garnelen und Lammwürstchen auf dem Grill hin und her. In seiner Daunenjacke sah er aus, als machte er Reklame für Vollgummireifen. Mona hing an Arthurs Lippen. Sie trug eine Russenmütze aus Kaninchenfell, stilecht mit Hammer und Zirkel, wie man sie sonntags für zehn Mark Unter den Linden kaufen kann. Sie hauchte unablässig in ihre Hände. Ab und zu lachte sie. Sie nickte, sagte ein paar Worte, die uns aber nicht erreichten. So wie die beiden hatten wir nie zusammen gesprochen. Nie hatte sie in einem Gespräch mit mir diesen Ausdruck gehabt. Seit wir Perlensamt kannten, war sowieso alles anders geworden. Jetzt fand ich sie so ausgelassen und befreit wie lange nicht mehr. Einen Augenblick lang dachte ich daran, hinauszugehen und ihr mein Jackett um die Schultern zu legen. Aber dann unterließ ich es. Sollte doch Arthur dafür sorgen, daß sie nicht fror.

Auch an diesem Abend beschäftigte mich Perlensamt. Als ich Mona draußen stehen sah, vermißte ich ihn. Aber das Wissen um seine Familie machte mich befangen. Es gab so viele Ungereimtheiten in seinen Erzählungen. Ich hätte ihm das sagen müssen, aber ich wollte nicht mit ihm streiten. Und dann war da noch diese unerklärliche Ahnung. Es war sicher nicht nur Freundschaft, die mich veranlaßte, das, was ich für Davids Familiengeschichte hielt, so intensiv zu recherchieren.

Wie hätte Perlensamt sich wohl in dieser Runde gebärdet, angesichts der »Nachfolger« seines Großvaters im Auswärtigen Amt? Auf dem Heimweg fragte ich Mona danach. Sie reagierte ungehalten.

»Es gibt für dich wirklich nur noch ein einziges Thema. Du nimmst deine Umwelt überhaupt nicht mehr wahr.«

»Das stimmt nicht. Ich war wirklich beeindruckt von der Einrichtung des Hauses, die Kaspars Frau …«

»Du meinst, du warst beeindruckt von dieser überspannten Schickse. Du scheinst ein Faible für Menschen zu haben, die viel Wind von sich machen.«

»Ach, und dieser Arthur?«

»Er ist seit vier Jahren deutscher Botschafter in Kigali!«

»Er wird woanders nicht gebraucht.«

Sie sah mich stirnrunzelnd an. »Was Arthur über Ruanda erzählte, war wirklich interessant. Die Landschaft muß wundervoll sein, es leben Berggorillas dort …«

»Dann ist er ja in bester Gesellschaft.«

»… und es gibt eine einzigartige Flora. Er weiß viel über das Land. Er erzählt spannend, sehr engagiert. Er hat sich richtig da reingekniet.«

»Ganz besonders hat er sich vor dich gekniet.«

»Wie redest du eigentlich mit mir?«

»Was hast du gegen David?«

»Nichts«, sagte sie kalt. Der Ton war untypisch für sie. Ich war verwirrt.