FÜNFUNDZWANZIG

Als ich die Tür aufschließe, steht Madame Eugénie wieder als Nachtgespenst vor mir, dieses Mal auf der Treppe. Ich frage mich, was sie zu ihrem Aufzug veranlaßt. Was löst ein Selbstbild aus? Ich sollte ein Buch über das Selbstbildnis verfassen und darin dem Frauenporträt eine besondere Stellung einräumen, von Artemisia Gentileschi bis Cindy Sherman. Das wäre ein mir angemessenes Brüsseler Projekt.

»Monsieur, die Dame von heute, die aus Berlin, hat noch fünf Mal angerufen. Und zum Schluß hat sie gesagt, Sie möchten sie unbedingt noch heute zurückrufen, egal wie spät in der Nacht.«

»Ich dachte, Sie verstehen kein Deutsch.«

»Die Dame hat sich bemüht, Französisch zu sprechen. War das Ihre Frau? Vielleicht will Sie zu Ihnen zurückkehren. Sie sollten ihr eine Chance geben. Sie sprach so reizend, und ich glaube, sie hatte Tränen in der Stimme.«

»Sie sprach Französisch?«

»Sie hat sich sehr bemüht. Ich hoffe sehr, daß Sie heute kein Feuer mehr machen und daß die Anrufe nachlassen. Gute Nacht, Monsieur.«

»Madame, verzeihen Sie, ist noch etwas zu essen im Haus?«

»Wollten Sie nicht ausgehen, um zu essen? Sagten Sie nicht, Sie …«

»Ja schon, aber …«

Vielleicht sehe ich hilflos aus. Erschöpft. Jedenfalls gelingt es mir, ihre Mißbilligung in Mitleid zu verwandeln.

»Sie sollten nicht solches Schindluder mit Ihrer Gesundheit treiben, Monsieur«, sagt sie streng.

Sie läuft hinauf und ist wenig später wieder unten. In rosafarbenem Plüsch. Sie sieht aus wie ein gefärbtes Kaninchen. Während ich Monas Nummer wähle, höre ich Madame Eugenie in der Küche hantieren. Sie singt. Ich mache mich am Kamin zu schaffen. Mona meldet sich mit dünner Stimme.

»Gut, daß du anrufst. Danke.«

»David ist in der Stadt. Ich habe ihn eben gesehen. Er treibt sich im Sablon-Viertel herum, ging in eine Galerie. Wieso ist er auf Brüssel gekommen? Er hat mich angerufen. Meine Haushälterin hat ihn abgewimmelt. Ich möchte wissen, woher er die Nummer hat.«

»Von mir.«

»Was? Spinnst du?« Eine Sekunde lang bin ich drauf und dran, wieder aufzulegen. Aber ich muß die Geschichte zu Ende bringen.

»Kannst du mir vielleicht erklären, was das soll?«

Ich meine, sie schlucken zu hören.

»Ich – es tut mir leid. Ich war so böse auf dich. Die Kündigung. Der Umzug. Du bist einfach abgehauen. Resturlaub hast du das genannt. Ich hatte dir erzählen wollen, was ich in der Woche entdeckt habe, als ich mich um ihn kümmerte. Aber das interessierte dich nicht mehr. Ich habe es noch einmal am Telephon versucht. Ich sagte, ich würde gern kommen. Ich bin in meine eigene Falle gelaufen. Ich schäme mich.«

Ich schäme mich auch. Aber ich sage es nicht.

»Also gut, komm her. Vielleicht ist es wirklich am besten so.«

»Am Wochenende. Ich sage dir noch, wann genau.«

An jenem Abend in Berlin, als ich begonnen hatte, die Unterlagen aus Perlensamts Mappe und Davids Briefe durchzusehen, entschied ich mich, ein weiteres Mal nach Paris zu fahren. Ich wollte Edwige zur Rede zu stellen. Ich nahm das erste Flugzeug. Erst von einem Café aus, in dem ich ein schnelles Frühstück zu mir nahm, rief ich sie an. Sie war auf dem Land.

»Ich muß sehr dringend etwas mit Ihnen besprechen. Es geht um David.«

»Sagen Sie mir, was es ist.«

»Nein, nicht am Telephon. Auf gar keinen Fall.«

»Vor neun kann ich nicht in der Stadt sein. Ich rufe Sie an, wenn ich mich auf den Weg gemacht habe.«

Ich machte einen Spaziergang hinunter zum Quai. Die Luft war diesig. Die Angler hatten längst ihr Geschirr eingepackt. Kein einziger Mensch fuhr Fahrrad. Nirgendwo segelten Mädchenröcke im Wind. Dafür wartete auch Paris mit einer gehörigen Portion Weihnachtsdekoration auf. Um diese Jahreszeit vermißte ich New York am meisten. In allen europäischen Städten war es mir zu kalt. Nicht wegen der Außentemperatur, die lag in New York tiefer. In Europa verstand man nichts von creature comfort. Es schien zum guten Ton zu gehören, nicht richtig zu heizen. Selbstkasteiung als Wert an sich. Warum hatte Edwige ihr Kind dem ungeliebten Bruder überlassen? Woher kam die Sammlung, wenn Otto Abetz gar nicht Davids Großvater war? Am Quai war es zugig. Ich ging zurück, an den Galerien der Rue de Seine vorbei und betrat die erste Bar, um mich aufzuwärmen. Als ich einen Espresso bestellt hatte und auf die Uhr sah, war kaum eine Stunde vergangen. Ich wartete nervös auf den Abend. Zurück im Hotel duschte ich, nahm ein Buch zur Hand und legte mich hin. Es war nach sieben, als das Telephon endlich klingelte.

»Ich bin noch auf der Autobahn.« Sie schlug einen Treffpunkt in der Rue de Petites Écuries im 10. Arrondissement vor.

»Dort gibt es eine Brasserie, das Flo. Sagen wir um zehn. Kennen Sie das Quartier? Nehmen Sie die Métro bis Château d’Eau. Wenn Sie aus dem hinteren Eingang kommen, halten Sie sich links.«

Ich war noch nie in dieser Gegend gewesen. Dennoch sagte mir das 10. Arrondissement etwas. Von hier aus, dem sogenannten Quartier République, hatte Patrique Melcher seinen zweiten Brief an Alfred Perlensamt geschickt. Ich sah auf dem Stadtplan nach. Die Adresse des Absenders lag in einer Parallelstraße zum Restaurant, fast schon am nordöstlichen Rand, wo das Quartier in das von Belleville übergeht. Ich steckte das kleine Buch in die Tasche und machte mich auf den Weg.

Ich folgte der Anweisung und nahm die Métro. Ich wunderte mich, daß Edwige einen Ort vorgeschlagen hatte, der weit entfernt von ihrem eigenen Viertel lag. Ich hatte bisher in Paris bei den Bewohnern dasselbe Verhalten festgestellt, das ich aus meiner Heimatstadt kannte und das in Berlin nicht anders war: Jeder behandelt seine Nachbarschaft wie ein Dorf, das er nur ungern verläßt, eigentlich nur, wenn es unvermeidbar ist. Wenn man in Chelsea wohnt, ist die Upper West Side ein Niemandsland. In Berlin ist das Dorf sogar nicht nur örtlich, sondern auch zeitlich begrenzt. Ich habe Leute aus Schöneberg kennengelernt, die trotzig darauf bestehen, daß die Zusammenfügung der geteilten Stadt einen kaum zu verschmerzenden Verlust darstellt. Zu kompensieren ist die unaufhaltsame Ausdehnung der Grenzen nur, indem man so tut, als gäbe es die Mauer noch. Für diese Leute ist das Zentrum immer noch auf dem Kudamm, während Mitte und Prenzlauer Berg indiskutable Gefilde in der Nähe von Polen sind.

Als ich aus dem Metroschacht trat, war ich verblüfft. Ich hatte keine Ahnung gehabt, daß dieses Paris existierte. Ich hatte von den Einwanderern in den Außenbezirken gehört und gelesen, die zum sozialen Brennpunkt geworden waren. Als wollten sie eine Metapher mit Wirklichkeit füllen, zündeten sie an, was brennbar war. An den Rand der Stadt Gedrängte, die sich und ihrem Notstand Geltung zu verschaffen suchten. Das hier war anders. Auch hier – Immigranten, die meisten von ihnen schwarz. Aber hier machte niemand auf sich aufmerksam. Die nordafrikanischen Jungs nutzten den Lärm und die Überfüllung in den Straßen und Bars als schützendes Dickicht. Jeder ging seinen stillen Plänen und Geschäften nach, die es erforderten, so schnell wieder zu verschwinden wie man aufgetaucht war. Merkwürdig, daß Edwige ausgerechnet hier ein Restaurant ausgesucht hatte.

Ich war zu früh. Also beschloß ich, mir das Haus anzusehen, von dem aus Patrique Melcher an Alfred Perlensamt geschrieben hatte. Es war ein heruntergekommenes Gebäude. Der Putz bröckelte von der Fassade. Vor der Toreinfahrt lagen Müllsäcke, die ein Tier oder vielleicht auch ein Mensch gefleddert hatte. Die offenstehende Haustür entblößte ein düsteres Treppenhaus mit Durchgang zum Hof. Die Wände hatten Jahre, vielleicht auch Jahrzehnte keinen neuen Anstrich bekommen. Ich ging ein paar Schritte hinein. Es stank, eine ranzige Mischung aus Mensch, Tier, Verrottung und Schimmel. Alle Arten von Dreck lagen übereinander. Aus dem Müll quollen Dünste von billiger Nahrung, Schmalz und Innereien durch die feuchte Kälte. Ich kannte solche Gerüche aus meiner Kindheit. Ich hatte einen Freund in Queens gehabt. Seine Eltern waren Russen aus Leningrad, und obwohl die Brighton Beach Avenue nicht in Leningrad lag, stank es dort genauso nach Armut und Resignation wie in der Rue de TÉchiquier. Ich war nur ein oder zwei Mal dort gewesen, aber Dimitri hatte diesen Geruch in den Kleidern gehabt. Man roch ihn kommen. Ich fragte einen alten Mann, der an den Briefkästen hantierte, ob ein Patrique Melcher hier wohnen würde. Ich tat es aus einer Laune heraus, nicht im entferntesten rechnete ich mit einer brauchbaren Antwort. Schließlich lag die Geschichte mit den Briefen mehr als vierzig Jahre zurück. Der Mann drehte sich langsam um. Er trug eine Art Blaumann, darunter einen grauen Pullover aus grober Wolle. Aus dem ausgeleierten Halsausschnitt lugte ein T-Shirt hervor. Es war einmal weiß gewesen. Jetzt hatte es die Farbe des Pullovers angenommen. Der Mann war jünger, als ich seinem gebückten, dünnen Körper nach angenommen hatte. Als er mir gegenüberstand, grinste er breit, ohne die Position der kalten Kippe in seinem Mundwinkel zu verändern.

»Boche?« fragte er.

Ich schüttelte den Kopf. »Amerikaner.«

Er kratzte sich am Hals, so langsam, wie er sich herumgedreht hatte. Ich sah verstohlen auf die Uhr. Inzwischen mußte ich mich beeilen, wenn ich vor Edwige das Restaurant betreten wollte, was die Höflichkeit gebot. Der Mann musterte mich und schien mich keineswegs so einfach wieder gehen lassen zu wollen.

»Patrique Melcher, der hat damals viele deutsche Freunde gehabt.«

»War er ein Kollaborateur?«

»Warum nicht? Ein Collabo! Ein ganz besonderer Collabo, Ami.«

»Hören Sie, ich bin verabredet, tut mir leid, ich wollte nur mal nachfragen, ob er vielleicht noch hier lebt. Wäre ein Zufall gewesen. Machen Sie’s gut.«

»Hey, Ami, wie heißen Sie?« rief er mir hinterher.

»Nichts für ungut«, gab ich zurück und machte mich davon.

Ich war kaum eine Straße weiter, da wurde ich eingeholt. Hechelnd, die Kippe klebte dem Mann immer noch an der Lippe, tippte er mit spitzem Finger gegen meine Schulter. Unangenehm berührt blieb ich stehen. Ich kann es nicht leiden, wenn Fremde mich berühren. Endlich nahm der Mann den Stummel aus dem Mund und warf ihn fort.

»Was ist, Ami, wenn ich dich hinbringen würde?«

Ich wurde nervös. Edwige wartete wahrscheinlich schon im Restaurant.

»Ich hab es mir anders überlegt. Ich will ihn so in Erinnerung behalten, wie er war. Vielen Dank.«

Als ich mich davonmachte, hörte ich schallendes Gelächter in meinem Rücken. Mit hängender Zunge erreichte ich in dem Augenblick das Flo, als Edwige hineinging. Hastig schlüpfte ich hinterher.

»Entschuldigen Sie, daß ich Ihnen nicht zuvor gekommen bin. Ich bin aufgehalten worden.«

Ihre Mundwinkel zuckten belustigt, als ahnte sie, von wem. Meine Entschuldigung schien sie zu amüsieren. Der kleine Abtausch ging nahtlos unter in dem Empfangskomitee, das sich uns bot. Der Rezeptionschef kannte sie, der Tischkellner kannte sie, die Frau am Büffet kannte sie. Madame wurde von allen Seiten euphorisch begrüßt. Man führte uns zu einem Tisch, dem besten, wie der Maître stolz erklärte. Die Brasserie war bis an die Grenze von Nebel verraucht. Blechgeschirr klapperte. Die Ober riefen die Bestellungen quer durch den Raum, eilten von der Küche zum Tresen, vom Tresen zu den Tischen und wieder in die Küche. Wir saßen kaum, da hatten wir eine Karaffe mit Wasser und einen Kühler mit Weißwein auf dem Tisch, dazu zwei Speisekarten, alles in Eile. Als hätten wir zum Essen kaum eine halbe Stunde Zeit. Als ich die Karte aufschlug, war ich erstaunt über die Preise. Sie waren weit höher, als der Lärm und der nonchalante Betrieb es hätten vermuten lassen. Lediglich die weiß gedeckten Tische und die Stoffservietten standen dafür. Es schien das für eine Brasserie Übliche zu geben, Austern, Seeschnecken, Krebse, eine gemischte Platte mit Meeresfrüchten, verschiedene Steaks, die klassischen Vorspeisen und Desserts. Edwige warf nicht einmal einen Blick in die Karte. Nach wenigen Minuten – ich hatte gerade die Vorspeisen durchgelesen – stand der Kellner wieder am Tisch.

»Haben Sie sich entschieden?«

Auch Edwige schien ungeduldig. Ich hatte den Eindruck, sie mache sich immer noch über mich lustig. Sie bestellte. Ein wenig gehetzt folgte ich ihr und bestellte das Erstbeste, das ich sah.

»Wie kommen Sie auf diese Gegend?«

»Es ist mein Stammlokal, seit fast vierzig Jahren. Ich habe mal in diesem Quartier gelebt, zwei Straßen weiter. Das Flo ist eine der besten Brasserien der Stadt. Hierhin verirrt sich kein Fremder. Touristen fühlen sich hier unsicher, mögen die Gegend und das Ambiente nicht. Es ist nicht elegant, das sehen Sie ja, kein Ort, um sich zu zeigen. Das Essen ist nicht raffiniert. Aber die Sachen, die auf den Tisch kommen, sind von ausgezeichneter Qualität. Und manchmal, wenn ich oben im weißen Passy bin, habe ich Sehnsucht nach diesen Gassen. Hier war mein Anfang. Ich schnuppere das ab und zu. Es sagt mir, daß ich rausgekommen bin, nicht weg von hier, sondern weg von Berlin. Allerdings ist es etwas gefährlicher geworden. Die Leute sind arm. Man hätte mir das letzte Mal beinahe die Handtasche geklaut.« Sie lachte. »Ich habe mir mit drei maghrebinischen Jungs eine Prügelei geliefert, direkt hier um die Ecke, bis ein alter Bekannter kam und mir half.«

»Alte Bekannte haben Sie also auch noch hier.«

Sie wußte, daß ich nicht zum Plaudern gekommen war. Auch Rosie konnte sich auf diese Weise unbeteiligt zeigen. Sie registrierte sehr genau die Wünsche ihres Gegenübers, tat aber gleichzeitig so, als nähme sie nichts dergleichen wahr.

»Sie wollten etwas mit mir besprechen«, sagte sie, als wir uns zugeprostet hatten.

»Haben Sie in der letzten Zeit ferngesehen?«

»Das tue ich nie.«

»Mit David gesprochen?«

Sie hob die Augenbrauen. »Was sind das für Fragen?«

»Er ist dabei, einen Skandal anzuzetteln.«

»Das wäre nicht das erste Mal. Er liebt das. Es ist das Geltungsbedürfnis eines unbeachteten Kindes. Der einzige, der sich je darüber aufgeregt hat, war mein Bruder, und der ist ja nun tot. Ist das alles, was Sie mir sagen wollten? Ein bißchen dringend gemacht, oder? Ich komme normalerweise nicht einfach so vom Land zurück. Die ganzen Kameliensetzlinge des vergangenen Jahres müssen noch versorgt werden. Und dann – na ja, davon verstehen Sie wohl nichts. Diese Jahreszeit ist sehr wichtig für mich.«

Sie sah mich prüfend an.

»Sie hatten versprochen mir zu sagen, was in dem Umschlag war, den die Staatsanwaltschaft Ihnen avisierte.«

Das klang wie ein Vorwurf. Ich ging nicht darauf ein. Dieses Mal würde ich das Gespräch führen.

»Der Skandal, den er anzettelt, ist nicht gerade privat. Er könnte in wenigen Wochen über alle Sender gehen, auch hier. Es hat mit der Sammlung zu tun.«

»Die Sammlung, aber ja, die Sammlung. Das erwähnten Sie bereits. David hat sich immer sehr für Kunst interessiert. Die Kunst ist sein Leben. Vielleicht wird sie sein Tod. Bildlich gesprochen, meine ich. Ich weiß nicht, was geschehen ist, aber wenn Sie sagen, er sei dabei, einen Skandal anzuzetteln … Durch alle Sender, sagen Sie? Was soll das? Was ist das überhaupt für eine Sammlung?«

»Das möchte ich von Ihnen wissen. Deswegen bin ich hier.«

Sie sah mich verständnislos an.

»Ich gehe davon aus, daß es Raubkunst ist. Und daß der Tod Ihres Bruders der Auslöser von Davids Kopflosigkeit war.«

»Raubkunst. Der Tod seines Vaters. Was Sie nicht sagen!«

Sie lachte bitter, trank einen Schluck Wein und legte die Serviette beiseite. Vor Edwige baute der Kellner ein Geschirr auf einem Blechständer zusammen, verschiedene kleine Näpfchen mit Zitrone, Zwiebeln in einer roten Flüssigkeit, Butter, Brot. Dann kam das Meeresfrüchteplateau. Schalentiere auf Eis. Als ein Teller mit gebratener Blutwurst vor mir stand, realisierte ich, daß ich in der Eile das Falsche bestellt hatte.

»Himmel, jetzt sehen Sie mich doch nicht so entgeistert an. Ist es mein Kommentar oder das, was vor Ihnen steht?«

Es war beides. Ich war immer noch zu sehr Amerikaner, als daß ich genau hätte sehen und wissen wollen, was ich aß. Ich suchte nach einem Ausweg. Ich konnte sehen, daß Edwige mich für zimperlich hielt.

»Warum machen ausgerechnet Sie sich Sorgen um ihn?«

»Das ist nicht Ihr Ernst. Schauen Sie sich David einmal an. Sie haben mir doch selbst gerade erzählt, wie sehr ich Grund dazu habe.«

»Warum Sie?«

Sie zögerte und knetete ein Stück Brot, als offenbare das Ergebnis die Antwort auf meine Frage. Plötzlich ließ sie davon ab. Sie nahm eine Auster vom Eis und löste sie aus der Schale. Ohne etwas von den Gewürzen auf den augenlosen Körper zu träufeln, sog sie die Schale aus und legte sie aufs Plateau zurück. Langsam, als müsse sie sich genau das Risiko vergegenwärtigen, begann sie, erneut von David zu sprechen. Zunächst wiederholte sie, was ich schon wußte. Die ganze Litanei. Zwischen einzelnen Sätzen schlürfte sie die Austern. Sie brauchte keine Viertelstunde, dann waren die Schalen leer. Bevor sie sich weiter durch die Meeresfrüchte schaufelte, bestellte sie ein weiteres Dutzend. Ich nahm erst wahr, daß sie Order gegeben hatte, meine Blutwurst abzuräumen, als die Fois Gras mit Gelee vor mir stand.

»Das schmeckt köstlich, da können Sie sicher sein, und Sie sehen nun wirklich nicht, was es einmal war. Denken Sie einfach, es wüchse in der Dose an Bäumen.« Ihr Tonfall klang ein bißchen gönnerhaft. »Mögen Sie Steaks?«

Ich nickte. Sie bestellte als Hauptgang für mich ein Entrecote. Als ich sie so agieren sah, suchte ich nach Ähnlichkeiten zwischen David und ihr. Meiner nirgendwo verbürgten Theorie folgend, kommen die ersten Söhne immer auf die Mütter, die ältesten Töchter auf den Vater. Ich fand David weder in ihren Gesten noch in ihrer Sprache, auch nicht in ihrem Blick. Ihr Mund hatte volle weiche Lippen. Viel weniger scharf konturiert. Ihre Augen strahlten in kräftigem Dunkelblau, mit kleinen lebendigen Falten in den Winkeln der Lider. An diesem Abend war sie für ihre Verhältnisse wohl bequem gekleidet. Eine gut situierte Frau, die gerade vom Land gekommen war, einen Hauch normannischer Brise um Haut und Haar. Der Schmuck, den sie so beiläufig trug, verriet, daß sie sich jede Untertreibung leisten konnte. Beiläufig, das war es. Deswegen glichen David und Edwige sich nicht, weil für sie alles beiläufig war. Sie strich das offene, knapp schulterlange Haar aus dem Gesicht. David sei ein künstlerischer Typ, sagte sie. Der praktische Alfred, der übrigens ganz nach seinem Vater gekommen war, hatte ihm das natürlich verwehrt. Alfred Perlensamt wollte, daß David die Firma übernahm. Es gab Streit, mehr als einen. David mußte Betriebswirtschaft studieren. Als wäre das nicht genug, schickte er den Sohn in die USA. Das hörte sich so an, als sei das Land, aus dem ich komme, eine Strafkolonie!

»Er hat nicht in Berlin gelebt?«

»Kaum. Mein Bruder zahlte ein Vermögen für die Internate, später für die Columbia University in New York. Das half aber nichts. David ging kaum hin. Nach zwei Semestern machte er Schluß. Er begann heimlich, Schauspiel zu studieren. Er war nicht unbegabt, aber er wurde hinausgeworfen. Er fügte sich nicht. Dann dachte er über andere Sachen nach. Nichts hielt ihn bei der Stange. Meiner Meinung nach hätte er etwas mit Kunst machen sollen, Maler werden. Sein eidetisches Vermögen ist sensationell. Er hatte für kurze Zeit, als er noch ein Junge war, Spaß am Zeichnen gehabt. Wirklich hoch begabt, das konnte man erkennen. Er hätte Geld damit verdienen können. Aber Geld interessierte ihn nie. Leider, sonst wäre er längst unabhängig gewesen von meinem Bruder. David war immer besessen von diesem Familienwahn. Er wollte meinem Bruder – imponieren. Mein Gott, er ist so ein Idiot. Er ist tatsächlich vollkommen auf diese spießige Familie fixiert.«

»Nun, wenn ein Deutscher seines Alters zwei Generationen zurückgeht, hat er gute Karten, mehr als nur Spießer zu finden. Eher das große Drama, würde ich sagen. Täter und Opfer und alles, was sich daraus entwickelt hat. Eine richtige Folkloreindustrie, die mit Nachschub aus der ehemaligen DDR rechnen kann, soweit ich das zu beurteilen vermag. Mir scheint, man kann sein Leben damit verbringen, ein deutscher Enkel zu sein.«

Sie war gerade dabei, eine von den nachbestellten Austern zu schlürfen, hielt inne, vergaß zu schlucken und begann zu husten.

»Diese Theorie ist ja widerlich.«

»Es ist weniger eine Theorie als eine – Bewegung.«

»Ich bin nicht auf dem laufenden darüber, was Deutschland bewegt.«

»Betroffenheitsadel, schon mal davon gehört?«

Sie schüttelte den Kopf. Sie hatte aufgehört zu husten und nahm noch einen Schluck Wein.

»Betroffenheitsadel? Was soll das denn heißen?«

»Salopp gesagt so etwas wie: Dabeisein ist alles, und wenn das Dabeisein nur durch Betroffenheit entsteht. Eigentlich merkwürdig, daß die Menschen in Deutschland immer noch dabei sein wollen, egal wobei, egal als was, Hauptsache dabei und nicht allein.«

»Das ist ja absurd. Die Abetz sind mir gewiß nicht sehr sympathisch – aber es gibt in dieser Familie keine Opfer und keine Täter. Sie sind einfach nichts, nur Spießer, Nieten, eine Ansammlung von Möchtegerns.«

Es mußte nach elf sein. Immer noch wurden die Tische neu gedeckt, immer noch kamen Gäste. Jeder Stuhl war besetzt. Edwige war verstummt. In ihr Verstummen erklärte ich, was David angezettelt hatte.

»Er war auf Urlaub in Berlin, als seine Mutter erschossen wurde«, sagte sie tonlos.

»Sie meinen, als Miriam Perlensamt erschossen wurde.«

Sie sah mich an. Ich konnte nicht genau erkennen, ob sie sofort begriff, was ich wußte.

»Der Schritt, sich von einer Familienlüge aus eine ganz andere Familie zusammenzudichten, ist nicht sehr groß. Das dürfte Sie nicht wundern.«

»Ich habe doch gesagt, ich wundere mich nicht. Nicht im geringsten.«

»Und es schmerzt Sie auch nicht?«

»Sie stellen recht intime Fragen, junger Mann. Aber das haben Sie von Anfang an getan, und ich habe Sie nicht hinausgeworfen.«

Sie war hart im Nehmen. Ich stellte mir ihre Anfangsjahre vor, allein in Paris. Ich sah Rosie auf der Überfahrt, billigste Klasse, Zehnerkoje. Selbst wenn sie sich mehr hätte leisten können, hätte sie es nicht getan. Sie war in der Lage, auszublenden, was sie nicht wahrnehmen wollte, souverän in jeder Art von Ignoranz. Edwige und Rosie hatten Ähnlichkeiten. Nur daß Edwige mehr Sinn für Stil besaß, europäischer auf mich wirkte, was auch immer das heißt. Als ich die Frage stellte, die mir schon lange auf der Zunge lag, merkte ich, daß sie von einer anderen Frage unterfüttert war, einer, die David gar nicht betraf.

»Wer war Patrique Melcher?«

Sie sah mich an, wie ihr Bruder mich angesehen hatte bei meinem Besuch im Knast. Ihr Blick kam von weit her, es war der eines Wildes, das nach langer Pirsch gestellt wird. Dann wiederholte sie, ebenso wie ihr Bruder meine Worte wiederholt hatte: »Patrique Melcher.«

»War er ein Kollaborateur?«

»Ein Kollaborateur«, echote sie. Sie strich sich durch die Haare, selbstvergessen, zögerlich. »In anderen Zeiten hätte man ihn möglicherweise einen Kollaborateur genannt.«

Der Kellner schenkte uns den Rest aus der Flasche nach und fragte, ob Madame eine neue wünsche. Madame nickte. Dann sah sie sich im Raum um, als gelte es festzustellen, ob der dunkelbraune Ölanstrich auch weiterhin an den Wänden klebte, die Deckenlampen in der Verankerung blieben, die Hutablagen an der Wand.

»Patrique Melcher«, wiederholte sie noch einmal.

»Ist er Davids Vater?«