ZWEIUNDZWANZIG

Alfred Perlensamts Asche wurde in Abwesenheit seines Sohnes beigesetzt. Nach der traurigen Zeremonie, bei der eine Abordnung der Firma Perlensamt, Mona, die Haushälterin Frau Arno sowie einige wenige Reporter zugegen waren, ging jeder seiner Wege. Edwige war nicht gekommen.

Den Weg vom Friedhof zum Büro legte ich allein zurück. Mona wollte zu David. In mir rumorten immer noch dieselben Fragen. Ich würde sie nicht los, so lange ich in dieser Stadt war. Wann waren die Bilder nach Deutschland geschmuggelt worden? Hatten die Schweizer geholfen mit einem neutralen Transport? Eine Beiladung bei einem befreundeten Diplomaten aus der Schweiz? So etwas hatte es gegeben. Warum lag mir so an der Wahrheit? Hatte Mona etwa recht mit ihrer Behauptung, meine Schnüffelei im deutschen Sumpf hätte mehr mit mir zu tun, als ich wissen wollte? Ich war noch am Abend des Streits mit Mona bei David vorbeigefahren. Mir war übel vor Aufregung, als ich vor dem schmiedeeisernen Gitter stand. Ich sah die Häuserfront hinauf und erkannte das Fenster von Davids Schlafzimmer. Ich klingelte. Natürlich klingelte ich. Es wäre mir unverschämt vorgekommen, den Schlüssel zu benutzen. Wußte David überhaupt, daß ich einen hatte? Mona kam herunter und öffnete mir. Sie sagte kein Wort von dem Schlüssel. Sie war immer noch böse, versuchte aber, sich zu beherrschen.

»Er wartet auf dich. Er freut sich. Du solltest nicht zu lange bleiben.«

Ich verbot mir jede Bemerkung.

»David ist vorne, in seinem Zimmer. Ich gehe vor.«

»Ich bin nur gekommen, um zu holen, was ich vergessen habe.«

David sah immer noch ausgezehrt aus. Seine Augen glänzten, als hätte er Belladonna genommen. Er lächelte mich an. Kumulierende Wolken, darunter graublaues Wasser mit brechenden Wellen, die gegen den Sand schoben, sanft den Boden leckten, um ihre Scheinfüße gleich wieder zurückzuziehen. Steigende Tide. Courbet hatte gerade den Himmel gemalt, nun hielt er offenen Auges den Atem an. In kürzester Zeit würde Die Woge anschwellen, bis sie wie ein Schaumpferd vor ihm stünde. Diesen Augenblick mußte er erwischen. Ich sah das Aufbäumen der Welle, sie stieg und stieg. Dann platzte die Gischt. Das Bild vom Meer war der Anfang der Sammlung. So hatte David es gemeint. Das erste Bild, das sein Großvater sich unrechtmäßig angeeignet hatte. David wußte weit mehr, als er zu sagen bereit war. Er hielt mich zum Narren. Auch jetzt.

»Wie schön, daß du gekommen bist.«

Ich hatte einen Kloß im Hals.

»Kannst du ein bißchen bleiben?«

»Mona sagt, es würde dich zu sehr anstrengen.«

»Was habe ich dir getan, Martin?«

Er tat so, als hätte er den Abend in Ahlbeck vergessen. Es war absurd, daß David sich ausgerechnet die Fürsorge von Mona gefallen ließ. Oder spielte er etwa auch mit ihr? Ich hatte eine bissige Bemerkung auf der Zunge, wollte mich aber nicht verraten. Ich würde aus der Stadt verschwinden und – vergessen.

»Nichts. Natürlich nichts. Sag mir, wenn du etwas brauchst.«

Beim Abschied erwähnte ich, ich hätte beim letzten Mal mein Jackett in der Bibliothek vergessen. Weder David noch Mona hörten zu. Mona war damit beschäftigt, die Kissen aufzuschütteln und unterhielt sich währenddessen mit ihm. Ich ging allein durch die Halle. Kurz war ich versucht, noch einmal in den hinteren Korridor zu gehen und einen Blick in das Depot zu werfen. Es wäre die Gelegenheit, es Mona zu zeigen. Aber Mona schien jetzt mit David gemeinsame Sache zu machen. Sie war nicht mehr neutral. Es war besser, die Sache für mich zu behalten. Aufgeregt, ob die Mappe sich noch an ihrem Platz befinden würde, öffnete ich die Tür zur Bibliothek. Da lag sie, mitten auf dem Schreibtisch. Unberührt. Ich wollte sie gerade an mich nehmen, da hörte ich Schritte im Gang. Wohin mit dem Ding? Als Mona im Rahmen stand, presste ich die Mappe an mich. Ich tat so, als liefe ich immer damit herum.

»Hast du dein Jackett gefunden?«

Sie spielte ein bißchen die Herrin des Hauses.

»Seit wann schleppst du eine Mappe mit dir herum? Du hast doch eben keine gehabt.«

Ich versuchte, überzeugend zu grinsen. »Ich dachte, ich hätte das Jackett zusammen mit ihr hier liegen lassen. Ich habe mich vertan. Das Jackett muß woanders sein.«

»Du bist auch etwas durcheinander. Na ja, wen wundert’s. Uns alle strengt das an. Hast du die Wohnungsschlüssel dabei und die anderen Sachen, die man dir von Davids Vater ausgehändigt hat?«

»Ich bringe sie das nächste Mal mit.«

»Du kannst sie auch ins Büro mitbringen, ich gebe sie dann David. Mit scheint, du kommst nicht besonders gern hierher.«

»Kannst du nicht einmal aufhören, dich überall einzumischen? Was gehts dich an, wohin ich gerne komme und gehe?«

Auf meinem Bett lagen die Briefe und die Dokumentenmappe. Wie oft, wenn ich fürchtete, die Verbindung zur Gegenwart zu verlieren, ließ ich den Fernseher im Arbeitszimmer laufen. Ich schaltete wahllos irgendeinen Kanal ein, ohne auf das Programm zu achten. Edwige hatte die Briefe chronologisch geordnet. Oben auf dem Stapel lag ein Umschlag mit Poststempel vom Dezember 1965. Eine ungelenke Kinderschrift dankte der Tante für einen Teddy zu Weihnachten. Es folgte eine Postkarte aus Sylt, wo David die Schulferien mit seiner Mutter verbrachte. Sie hatte am Ende nur mit ihrem Namen unterschrieben, nicht einmal einen Gruß dazugesetzt. Darunter lag eine Karte aus Zermatt. Natürlich sah man in fast verblichenen Farben das Matterhorn darauf. Laut Rückseite war David mit seiner Schweizer Internatsklasse in den Skiwochen gewesen. Es hatte ihm Spaß gemacht. Edwige hatte ihm Skischuhe zu Weihnachten geschenkt und ein Buch, David Copperfield, wofür er sich förmlich bedankte.

Jetzt, da ich die Briefe aus dem Karton genommen habe, ist die Reihenfolge durcheinander geraten. Die Kinderbriefe in der staksigen Handschrift, die Grüße aus Sommerfrische und Wintersport hatten mich schnell nicht mehr interessiert. Ich hatte die Briefe obenauf gelegt, die mir am aufschlußreichsten erschienen. Vor allem ein Satz in einem der letzten war mir ins Auge gefallen. Vielleicht hätte ich ohne den Tod von Davids Eltern seine Bedeutung gar nicht erkannt. Sie wollen nicht einsehen, daß sie schuldig sind. Sie halten mich für verrückt. Der Brief datierte vom Ende der achtziger Jahre. David war damals knapp dreißig. Eine noch heftigere Anklage fand sich in seinem letzten Brief. Ich habe noch einmal mit Vater gesprochen. Er behauptet störrisch, die Namensänderung nur deswegen durchgeführt zu haben, damit sein Name mit dem der Firma identisch war. Aus rein praktischen Gründen. Er will nichts davon wissen, sich mit diesem Namen eine Aura angeeignet zu haben, die ihm nicht zusteht. Perlensamt klingt wie ein jüdischer Name. Das ist der Vorteil, den er daraus zog. Deswegen hat er die Namensänderung durchgeführt. So hat er den Namen Abetz vergessen machen können. Als ich die Briefe erneut lese, sehe ich die Szene im Badezimmer noch einmal vor mir. Davids Besessenheit von dieser Familiengeschichte hat etwas Unheimliches. Trotzdem bedaure ich den Vorfall in Ahlbeck. Ich schäme mich für das Verhalten unserer Familie. Wenn Vater nicht aufrichtig handeln will, muß ich es tun. Jemand, der die Schuld seiner Vorfahren leugnet, wird selber schuldig.

Ich lege den Stapel mit den Briefen beiseite und gehe in den Garten. Der Rasen ist von Tau bedeckt. Es hat etwas Tröstliches, die nassen Halme unter den nackten Sohlen zu spüren. Klarheit, Wirklichkeit, Gegenwart. Die letzten Wochen, Monate fließen aus meinem Kopf, rasend schnell wie in einen gurgelnden Abfluß. Kaum ein Ereignis, eine Erinnerung, die mich hält. Es mag Jahre, Jahrzehnte her sein, daß ich mich fragte, woran meine Mutter sich festgehalten hatte, als sie in die Staaten ging. Allein mit dem ungeborenen Kind und der Hoffnung, meinen Vater zu finden. Für Rosie, glaube ich, hat immer nur die Zukunft Geltung gehabt. Als ich begann, sie bewußt zu erleben, war sie so, wie sie heute noch ist: dünn, perfekt angezogen, voller Disziplin. Sie wirkt künstlich. Wahrscheinlich war sie nicht immer so. Die dreckige Zeit hatte das gar nicht ermöglicht. Sie muß einmal wie jedes Mädchen gewesen sein, eingewachsen in ihre Umgebung, ihren Eltern ähnlich. Vielleicht ist sie pummelig, pausbäckig, rosig gewesen. Vielleicht hatte sie jenen lebendigen, quirligen, so wenig erklärbaren Charme gehabt, den Mona verströmte. An die Nacht in Deutschland kann ich mich nur schemenhaft erinnern. Ich meine, ihre Stimme hätte weich geklungen, mädchenhaft. Aber sie hatte sich nie einem fremden Willen unterworfen, nie getan, was andere von ihr verlangten. Hatte sie, bevor sie ihr Elternhaus verließ, geschwankt? Hatte sie je überlegt, ihr Kind, mich, abtreiben zu lassen? In ihren Erzählungen jedenfalls kam kein Konflikt vor. Es hatte sich immer so angehört, als hätte sie die Forderung ihrer Eltern absurd gefunden. Nicht unmoralisch. Nicht herzlos. Nur absurd.

Ein Vogel singt. Das erste Gezwitscher am Morgen. Mitten in Brüssel. Ich bin diesem Sumpf entkommen. Was also machen diese Grübeleien noch in meinem Kopf? Rosie hat immer gewußt, was sie tat. Sie hat immer für mich gesorgt. Sie hat mich nie im Stich gelassen. Nach der Deutschlandreise war sie disziplinierter denn je. Als hätte sie eine Schwäche auszubügeln. Ich habe sie nie Alkohol trinken sehen. Nie erlebt, daß sie mit Appetit, geschweige denn über die Maßen gegessen hätte. Ich habe sie nie traurig gesehen. Nur dankbar dem Land gegenüber, in dem wir lebten. Sie ist eine andere geworden. Sie hat ihre Wurzeln in die amerikanische Welt betoniert. Ihre Vergangenheit erst desinfiziert, dann getilgt. Auf Manhattans Fifth Avenue hatte sie die Welt der Parfüms, Eaux de Toilette und Seifen entdeckt und ihre Begabung, das Leben zu polstern. Als Junge schlich ich über den oberen Gang die Treppe hinunter, um nachts heimlich an den Kühlschrank zu gehen. Alles war mit dicken weißen Wollteppichen ausgekleidet. Nicht mit orientalischen Teppichen, wie ich sie später in den großzügigen Häusern der Familien meiner Kommilitonen sah, sondern mit Spannteppichen von Fußleiste zu Fußleiste, in jedem Zimmer und von jedem Zimmer in den Gang. Nur unten, wo man eintrat, lag schwarzer Schiefer. Geräusche machten in der Humboldt Street nicht die Menschen, nur die Maschinen. So begann Rosies amerikanischer Traum. Wie lange hatte ich das nicht vor Augen gehabt!

In jener Nacht in Langenfeld, als sie mich weckte, fürchtete sie sich ein letztes Mal. Weil wir in Deutschland waren. Ich spürte es, ohne es benennen zu können. Ich roch es mit dem Sinn, der Kindern für Atmosphären eigen ist. Ich war in jener Nacht Rosies Rettung. Sie las mir ein Märchen vor, ein deutsches Märchen in englischer Sprache. Sie floh mit ihrer Zunge darüber, so daß ich sie kaum verstand. Der Unfall am nächsten Tag und mein Erlebnis lieferten den Vorwand für unsere sofortige Abreise. Meine Großeltern habe ich nie wieder gesehen.