EINS

Gestern entschloß ich mich, das gesamte Material zu vernichten, das Perlensamts Familiengeschichte dokumentiert. Es war noch nicht spät. Kurz nach acht vielleicht. Das aus dem Garten einfallende Licht warf lila Flecken auf die Fliesen vor dem Kamin. Ich kniete mich vor die Feuerstelle, schichtete Holz, Reisig und Papier übereinander und zündete das bizarre Gebilde an. Jedes Mal läuft mir ein Schauer über den Rücken, wenn ich sehe, wie die Flammen sich rasch durch zerknülltes Papier fressen, dann an den Zweigen zu nagen beginnen und schließlich am Holz. Ich hatte mir immer einen Kamin gewünscht, schon als Kind. Ein Haus mit Kamin ist für Ereignisse begabt. In seiner Gegenwart neigt man dazu, sich szenisch zu bewegen. Man stellt sich vor, was bereits geschehen sein könnte. Wer wen am Kamin beschimpft hat, halb betrunken und mitten in der Nacht. Man sieht die Anträge vor sich, die in verschiedenen Posen gemacht und abgelehnt oder schlimmer noch angenommen worden sind. Die Katastrophen, zu denen sie führten. Zärtlicher Haß, jahrzehntelang. Sehnsuchtsvolle Qual. Als Kind hätte ich gern Marshmallows und Würstchen im Kamin gegrillt. Aber man fragt sich auch, was spurlos im Feuer verschwindet. Testamente, beweisträchtige Notizen, eine Photographie.

 

Ich lernte Perlensamt an einem glühend heißen Nachmittag kennen. Ungefähr ein Jahr ist das her. Es war Ende August. Ich hatte Ärger im Büro gehabt und wollte mir die Beine vertreten. Von frischer Luft konnte allerdings keine Rede sein. Auch die Bewegung brachte bei der Hitze nicht die erhoffte Entlastung. Übel gelaunt brach ich meinen Spaziergang ab und trat den Rückweg über die Fasanenstraße an. An einem Gittertor, das einen Innenhof vor der Straße verschloß, blieb ich stehen. Springbrunnen, Efeuwände, das Mauerwerk hinaufklimmender Wein: ein ruhiger, kühler Ort. Ich hatte hier schon öfter gestanden. Aber vermutlich nie mit einem so sehnsuchtsvollen Blick.

»Kann ich Ihnen behilflich sein?«

In meiner Faszination hatte ich nicht gemerkt, daß ein Mann ans Tor getreten war. Er mußte aus einem Seiteneingang gekommen sein. Seine Erscheinung stach in absurder Weise von dem dunklen Hintergrund ab. Er trug ein grünes Tweedjackett, Khakihosen, ein rosafarbenes Hemd. Zu allem Überfluß schwamm inmitten seines Halstuchs eine daumennagelgroße Perle. Der Aufzug wirkte grotesk, nicht nur in der Hitze. Der Typ schien aus einem anderen Jahrhundert in die Gegenwart verrutscht. Der Mann, ungefähr in meinem Alter, lächelte und wartete geduldig auf eine Antwort. Hinter ihm lockte der idyllische Innenhof. Ein märchenhafter Fluchtpunkt.

»Ich überlegte, woran mich diese Hausanlage erinnert«, erwiderte ich. »Ich glaubte darin die Wohnung meiner Großmutter zu erkennen. Sicher bin ich mir nicht. Es ist so lange her.«

Ich sage so etwas manchmal. Eine kleine unbedeutende Lüge macht einen an sich komplizierten Sachverhalt einfach. Hätte ich versuchen sollen, meinem Gegenüber zu erklären, was ich mir selber nicht erklären konnte: das plötzlich aufflackernde Glück?

»Die Wohnung Ihrer Großmutter?«

»Paris. Ihre Wohnung lag in einem ähnlichen Häuserkomplex mit Innenhof wie diesem hier. Eine schöne Anekdote. Vielen Dank.«

Ich wollte gehen, aber der Mann öffnete das Tor und bat mich hinein.

»Paris? Wie herrlich! Meine Tante wohnt in Paris. Wenn der Ort Sie an die Wohnung Ihrer Großmutter erinnert, dann möchten Sie ihn vielleicht aus der Nähe betrachten.«

Er reichte mir seine Hand.

»Perlensamt. David Perlensamt. Ich wohne hier.«

»Martin Saunders. Sehr freundlich von Ihnen.«

Ich folgte ihm in den Hof. Leichtfüßig ging er voran und schien erfreut, daß ich eingewilligt hatte. Er zeigte mir jede Ecke der Hofanlage, jedes Ornament. Das gesamte Ensemble war in der wilhelminischen Zeit von einem jüdischen Bankier erbaut worden, Ephraim Seligman, dessen Vorfahren sephardischer Abstammung waren. Seine einzige Tochter, Marguerite, hatte sich bereits in Berlin im Juwelenhandel einen Namen gemacht, bevor sie 1920 erst eine Filiale in Barcelona und dann eine zweite in New York eröffnete. Sie hätte, meinte Perlensamt, und sein Tonfall war voller Bewunderung, instinktiv aus der Geschichte ihrer Ahnen gelernt. Als der Insektenschwarm der Nazis Europa heimsuchte und alles kahl fraß, stand sie als Seherin da. Perlensamt schien ausgesprochen bewandert in dieser Familiengeschichte. Eigentümlich mitfühlend. Als sei es die Geschichte seiner Familie. Natürlich hatten die Seligmans das Haus verlassen müssen. Die kluge Marguerite aber hatte dem erzwungenen Akt ihren Stempel aufgedrückt. Sie hatte alles, was wertvoll war, an Freunde verschenkt. Selbst die Kamelien – vor der Reichskristallnacht hatten sie, zusammen mit den Rhododendren und Buchsen, die Hofanlage zu einer ästhetischen Legende gemacht – hatte sie auspflanzen und in andere Gärten verlegen lassen. Die Familie verließ das Haus mit nichts als ein paar Reisetaschen an der Hand. Als die braunen Kretins in der Hoffnung anrückten, in den Betten der Seligmans zu schlafen und von ihrem Silber zu essen, fanden sie die Wohnung leer und den Innenhof verödet.

»Woher haben Sie das alles?« fragte ich Perlensamt.

»Aus dieser Zeit ist viel dokumentiert. Die Nazis sind auf ihre Grausamkeiten stolz gewesen. Alles ist in Akten vermerkt. Sie wollten beweisen, daß auch wirklich jede Perversion auf ihr Konto ging.«

»Sie haben das alles recherchiert, nur weil Sie hier wohnen?«

»Es wäre doch eher merkwürdig, in dieser Stadt nicht zu recherchieren. Wenn man in einem alten Gebäude an so einer Adresse wohnt, heißt das, daß sich in jenen Jahren Schlimmes ereignet hat. Außerdem – meine Großeltern, nun, wir haben eine gewisse Verbindung zu diesen Leuten gehabt, eine unschöne.«

Dann zuckte er mit den Schultern, als sei das Ganze doch nicht so wichtig oder zumindest Ansichtssache. Meine gute Laune war verflogen. Wieder einer, der freiwillig von Schuld und Sühne sprach. Man schien hier von diesem Thema so besessen zu sein wie bei uns zu Hause von Baseball.

»Wie Sie sehen, ist die Anlage wieder ganz passabel geworden. Natürlich erinnern die heutigen Pflanzungen nur spärlich an die ehemalige Pracht. Können Sie sich die Kamelien in diesem Gemäuer vorstellen? Es muß ein Traum von Süden gewesen sein. Leider gibt es keine Photographien davon.«

Perlensamt sprach so begeistert auf mich ein, daß ich mich nicht wunderte, als er mich nach dem Rundgang auf ein Glas in seine Wohnung bat. Ich sagte ihm, daß ich leider ablehnen müsse, im Büro warte ein Haufen Arbeit auf mich.

»Schade. Aber vielleicht kommen Sie einfach wieder vorbei. Wir hätten uns sicher viel zu sagen.«

Er sah mich eindringlich an. Ernst, ohne den Anflug eines Lächelns. Seine großen Augen wirkten fast so schwarz wie seine Haare. Sie blickten ruhig, als sei nichts Besonderes an seinem Vorschlag. Ich fühlte mich ein wenig unbehaglich, ohne zu wissen, warum. Perlensamt war das, was man schön nennt. Das ist bei Männern noch faszinierender als bei Frauen, finde ich. Und verwirrender.

»Sehr gern«, sagte ich zu meinem eigenen Erstaunen.

»Warum nicht.«