NEUNZEHN

Edwige freute sich aufrichtig, mich zu sehen. Sie bat mich herein und forderte mich auf, mich umzusehen, während sie uns etwas zu trinken machen wollte.

»Was für eine Wohnung, Madame«, entfuhr es mir.

Es muß geklungen haben, als hätte ich ihr diese Verhältnisse nicht zugetraut. Edwige lächelte nachsichtig. Vermutlich hörte sie das von jedem, der ihre Wohnung zum ersten Mal betrat. Durch eine Fensterfront, die zu einem Dachgarten führte, sah man auf den blinkenden Eiffelturm. Ich stellte mir vor, daß die düstere Wohnung ihres Bruders auf sie wie die Vorhalle zu einer Gruft gewirkt haben mußte. Trotz der Dunkelheit draußen wirkten die Räume unter der künstlichen Beleuchtung lichtdurchflutet. Das Mobiliar war spärlich, der Übergang zur nächtlichen Terrasse von Blattgrün umsäumt. Es war auffallend, daß keine Bilder an den Wänden hingen. Offenbar hatte sie nichts von der Sammlung ihres Vaters beansprucht.

»Als ich Sie anrufen wollte, stellte ich fest, daß ich gar keine Telephonnummer hatte.«

Wir setzten uns auf die Terrasse. Auch jetzt war ihr nicht anzumerken, ob sie vom Tod ihres Bruders wußte.

»Immerhin hatte ich Ihren Namen, auch wenn ich ihn zunächst nicht einzuordnen wußte.«

»Dann hat David Ihnen erzählt, wie sein Vater hieß, bevor er sich den neuen Namen samt Firma kaufte? Ich habe das ›t‹ aus meinem Namen getilgt. Himmel, Sie müssen denken, wir hätten ein Faible für Geheimniskrämerei. Dabei habe ich das nur gemacht, weil die Franzosen nichts mit »tz« anfangen können. Und wenn ich ehrlich bin, paßt diese Version auch viel besser zu meinem Vornamen – und zu mir.«

»Ach, den haben Sie nicht verändert?«

»Warum sollte ich? Mit den Eitelkeiten meines Bruders habe ich nichts zu tun. Wir haben beide französische Vornamen gehabt, weil unsere französische Mutter es so wollte.«

»Ich dachte, Ihre Mutter sei Belgierin gewesen!«

»Aber nein. Wer hat Ihnen das denn erzählt? David etwa?«

»Ich dachte, ich hätte es irgendwo gelesen.«

»Gelesen? Sie wollen etwas über meine Mutter gelesen haben?«

Ich antwortete darauf nicht. Ich sah mich ein wenig zu neugierig um, erwischte mich aber gerade noch rechtzeitig bei dieser Unhöflichkeit und versuchte, sie durch eine blöde Bemerkung zu vertuschen.

»Sie scheinen, im Gegensatz zu Ihrer Familie, kein Faible für Kunst zu haben.«

»Im Gegensatz zu meiner Familie?« Sie zuckte mit den Achseln. »Ich bin mir nicht ganz sicher, was Sie meinen. Es ist immer auch eine Frage, für welche Kunst. Und was man sich leisten kann. Einstweilen kümmere ich mich um die Gärten.«

Es stellte sich heraus, daß ich Glück gehabt hatte, sie überhaupt zu erreichen. Edwige lebte vornehmlich auf dem Land. Sie war Gartenarchitektin. Als einfacher Lehrling in einer Gärtnerei hatte sie angefangen und sich dann hochgedient, offenbar mit Erfolg. Eine Wohnung in dieser Lage mußte ein Vermögen kosten.

»Dann haben Sie also mit der Firma Perlensamt gar nichts zu tun?«

Sie überging die Frage und lenkte das Thema auf jenen Punkt, mit dem sie vor Wochen in Berlin die Unterhaltung beendet hatte: David. Es schien für sie kein anderes Thema zu geben. Den Perlensamts ging es gut, als der Kronprinz zur Welt kam. Sie hatten sich unbedingt einen Stammhalter gewünscht. Und doch ließ Edwige keinen Zweifel daran, daß David nie eine liebende Mutter gehabt hatte. Keinen Vater, der stolz auf ihn war. Die Perlensamts hatten immer den Eindruck eines kinderlosen Ehepaars erweckt und David im Verborgenen heranwachsen lassen. Edwiges Stimme klang bitter. Als wollte sie ablenken von ihrer Gefühlsäußerung, fragte sie mich, ob ich noch etwas trinken wollte. Sie stand eilig auf, um mein Glas nachzuschenken und die Hors d’æuvres aufzufüllen, aber mein Glas war noch dreiviertel voll, und keiner von uns hatte sich an den Nüssen und Oliven bedient. Als sie wieder saß, schien sich ihre Nervosität gelegt zu haben. Sie fuhr nahtlos fort. Alfred Perlensamt hatte Angst gehabt, den Jungen zu verwöhnen. Er sollte Leistungen erbringen, sich beweisen, nicht zimperlich sein. Nach einem Studium und in entsprechendem Alter sollte er die Firma übernehmen, den fachlichen Ruhm seines Vaters fortführen, am besten übertreffen.

»Ich machte mir erst sehr spät klar, daß mein Bruder ein Schwächling ist. Schwache Menschen können grausam sein.«

Davids Leben hatte bereits schrecklich begonnen. Die Wehen dauerten einen Tag und eine Nacht lang und hatten die Mutter vollkommen erschöpft. Sie hatte vierundzwanzig Stunden lang vor Schmerzen geschrien, bis das winzige, zarte Kind zur Welt kam. David wurde einer Kinderschwester übergeben. Einige Tage lang verweigerte er die Nahrung und geriet in Lebensgefahr. Edwige war davon überzeugt, daß David durch die Trennung von seiner Mutter an einem Trauma litt. Es konnte gar nicht anders sein: Er hatte die Wärme seiner Mutter vermißt.

»Sind Sie bei seiner Geburt dabei gewesen? Sie erzählen das so plastisch, als hätten Sie alles miterlebt.«

Sie antwortete ausweichend. Nach der schweren Geburt hatte sie sich ab und zu im Haus Perlensamt erkundigt, wie es ihrer Schwägerin und dem Kleinen ginge. Man hatte ihr zu verstehen gegeben, daß Miriam und das Kind Ruhe bräuchten und daß sie von ihren Anrufen absehen möge. Sie hatte sich schon vorher von der Familie ihres Bruders entfernt, allein schon durch die geographische Distanz. Im übrigen hatten sie sich nie besonders nahe gestanden. Der Namenswechsel hatte sie unangenehm berührt. Sie interessierte sich nicht für die Familie ihres Bruders, ausgenommen David. Er hatte ihr immer leid getan. Ihm hätte sie gerne geholfen.

»Ich hatte gehofft, nach Miriams Tod würde sich etwas ändern. Ich hatte versucht, David dahingehend zu bestärken, unabhängig zu werden, sich ein eigenes Leben aufzubauen. Er hat immer nur auf diese unzufriedenen, mürrischen Eltern gehört.«

Edwige erwähnte den Tod ihres Bruders immer noch nicht.

»Es hat Sie niemand angerufen aus Berlin? David nicht und auch nicht die Staatsanwaltschaft?«

»Warum sollte mich jemand angerufen haben?«

Sie trank einen Schluck Wein. Endlich schien sie sich zu entspannen. Sie lehnte sich in ihren Sessel zurück und räkelte sich. Es mußte auf Mitternacht zugehen. Die Luft, die von der Terrasse durch den Türspalt drang, war immer noch mild, vermischt mit einer Spur herbstlicher Kühle. Von fern versicherten die großstädtischen Geräusche uns, die Welt ginge ihren Geschäften nach, während wir in der luxuriösen Geborgenheit über den Dächern der Stadt miteinander sprachen.

»Man hat Ihren Bruder gefunden. Er ist tot.«

Sie verschluckte sich und begann zu husten. Sie sprang keuchend auf, lief hin und her und hatte regelrecht Not, sich Luft zu verschaffen.

»Wo?« stieß sie mühsam hervor. »Wo hat man ihn gefunden? Wer ist es gewesen?«, ergänzte sie.

»Nun, man hat ihn natürlich in seiner Zelle gefunden, wo sonst? Wer es gewesen ist? Er selbst. Er hat sich selbst getötet. Anders wäre es doch gar nicht möglich gewesen.« Mir fiel ein, daß niemand erwähnt hatte, wie. Als gäbe es in einer Zelle nur eine einzige Möglichkeit, sich umzubringen. »Es tut mir leid, Frau Abèz, es muß schrecklich für Sie sein. Erst das Unglück mit Ihrer Schwägerin, nun Ihr Bruder.«

Sie fuhr mich zornig an: »Ich habe Ihnen schon in Berlin gesagt, daß es kein Unglück war.«

»Es war ein Schock für David. Wir mußten einen Arzt holen. Er war vollkommen außer sich.«

Ihre Stimme hatte sich beruhigt. Aber sie atmete immer noch heftig. »Ist es wirklich wahr, was Sie da sagen? Nicht wahr, Sie machen keinen schlechten Scherz?«

Sie hatte sich in ihrem Sessel aufgerichtet und sah mich durchdringend an. In ihrem Rücken zwinkerte mir die Spitze des Eiffelturms zu.

»Natürlich nicht. Er ist tot. Ich weiß es nicht genau – ich nehme an, er hat sich erhängt.«

Edwige fuhr sich durchs Haar, zupfte an ihrer Kleidung, nippte an ihrem Wein und ließ sich wieder zurück in den Sessel gleiten. Lange währte die Erleichterung nicht. Als ich ihr sagte, bei der Staatsanwaltschaft läge ein Briefumschlag, den ihr Bruder für mich hinterlassen hätte, schreckte sie erneut auf.

»Sie müssen mir unbedingt sagen, was dieser Brief enthält. Es ist sehr wichtig für mich. Ich muß es wissen, bevor David es erfährt. Ich muß wissen, was Maurice geschrieben hat.«

Maurice. Sie nannte den ursprünglichen Namen ihres Bruders. Maurice? Ich hatte vollkommen vergessen, daß sie bei unserem Gespräch in Berlin schon von ihrem Bruder als Maurice gesprochen hatte. Damals hatte ich mir nichts dabei gedacht. Zu jener Zeit wußte ich nur, daß Davids Vater seinen Namen geändert hatte. Aber ich wußte noch nicht, daß Davids Großvater Otto Abetz gewesen war. Der Sohn von Otto Abetz hieß doch mit Vornamen Bernhard, nicht Maurice. Und seine Tochter … Edwiges Stimme klang flehend.

»Ich hatte Ihren Bruder auf Davids Bitte im Gefängnis besucht. Er schien mir verwirrt. Ich kann mir nicht vorstellen, daß dieser Umschlag etwas ernst zu nehmendes enthält.«

Ich versprach ihr, sie sofort zu informieren. Als ich mich verabschieden wollte, ließ Edwige mich kurz allein und kam mit einem verschnürten Päckchen zurück.

»Ich hatte das für Sie vorbereitet. Es sind Briefe von David an mich. Vielleicht verstehen Sie ihn dann besser. Bitte, lesen Sie sie.«

Sie schien mich um noch etwas bitten zu wollen, hob an, aber brachte den Satz nicht zu Ende.

»Melden Sie sich unbedingt wieder, wenn Sie in der Stadt sind.«

Sie gab mir ihre Visitenkarte, und wir reichten uns die Hand. Ihr Druck war länger als eigentlich üblich. Plötzlich drängte es mich, diese Frage zu stellen.

»Ach, wissen Sie, Menschen wie David, die so entwurzelt sind, neigen oft zu einer Art Schicksalsbezogenheit oder zu – esoterischen Anwandlungen. Als Anker. Aber ich denke nicht, daß er im engeren Sinne abergläubisch ist. Nein, er hat’s nicht wirklich mit den Sternen. Nehmen Sie das nicht ernst.«

Auf meine Erwiderung, David hätte es für Bestimmung gehalten, daß wir einander begegnet sind, reagierte sie amüsiert. Schon in der geöffneten Tür stehend, erzählte ich ihr, daß ich als Kind in der Nähe von Langenfeld einen Unfall miterlebt hätte der Art, wie er Davids Großeltern das Leben gekostet hatte. Edwige sah mich verständnislos an.

»Ich hatte keine Ahnung, daß Miriams Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen sind.«

»Nein, nicht die Eltern Ihrer Schwägerin. Ihre Eltern.«

»Was für ein Unsinn. Wie kommen Sie nur darauf?«

Kurz vor Mitternacht stand ich wieder auf der Plattform des Trocadéro und sah über das Marsfeld. Ich hielt das Päckchen mit den Briefen in der Hand. Wir hatten kein Wort über die Sammlung gewechselt. Sie hatte nur von David gesprochen. Es war, als hätte sie mich anheuern wollen.

Ich legte die gesamte Strecke zum Hotel zu Fuß zurück. Die nervösen Lichter des Eiffelturms begleiteten mich bis unter die nackten Äste der Platanen. Ich ging an der Seine entlang, vorbei an den Soldaten- und Veteranenstationen, an der Abgeordnetenkammer und dem Auswärtigen Amt. Der Boulevard St. Germain war wie leer gefegt, keine Menschenseele schien in der Gegend zu leben, die ihre modischen Zeiten längst überstanden hatte. Touristen hielten die Gegend zwischen Invalidendom und Quai d’Orsay für wenig interessant. Sie ahnten nichts von den verzauberten Gärten und grünen Innenhöfen hinter den massigen Steinfassaden. Es war eine gute Gegend, um in dieser Großstadt für sich zu sein. Ich ging, weil ich laufen mußte. Ich mußte laufen, weil ich die Reaktionen von Edwige nicht verstand. Warum mußte ich all das überhaupt verstehen? Erst jetzt fiel mir auf, daß ich den ganzen Tag nichts gegessen hatte. Das Mittagessen im Flugzeug hatte ich ausgeschlagen. Ich hatte mich auf ein schönes Menu in meinem Lieblingsrestaurant gefreut. Nach dem Treffen der Anwälte war es für ein Abendessen zu früh gewesen. Dann hatte ich verschlafen und mich zu Edwige aufgemacht. Mein Magen fühlte sich hohl an. Die Innenwände brannten, ich war hungrig und appetitlos zugleich. Ich wünschte David in meiner Nähe, und doch fürchtete ich mich davor, ihn wiederzusehen: fürchtete seine Verachtung. Seine Launen. Seine Exaltiertheit. Sein Lachen. Seine werbende Sprache. Seinen Charme. Seine ausgewählte Kleidung. Seine aufschimmernde Zärtlichkeit. Ich stellte mir vor, wie er meinen Namen rief. Davids Stimme klang in meinem Ohr. Zurück im Hotel, fiel ich in einen unruhigen Schlaf.