DREIUNDZWANZIG

Während die Kugeln über ihre Köpfe hinwegpfiffen, saßen unten an der Seineböschung Angler mit unbeweglicher Miene, wie sie schon in Friedenszeiten in Erwartung des nie anbeißenden Fisches dagesessen hatten, wie sie während der Besatzungsjahre dasaßen und wohl auch heute noch dasitzen werden … Auch in den Vierteln, in denen die Schießereien ernstere Formen anzunehmen drohten, ging der Großteil der Bevölkerung ruhig weiter seinen Geschäften nach, und die jungen Mädchen, die auf ihren Fahrrädern durch die Straßen spazierenfuhren, ließen die Röcke ihrer leichten Kleidchen unbekümmerter denn je hinter sich her flattern. Die Röcke leichter Kleider. August in Paris. Die Seineböschung. Die Welt zwischen dem Pont Mirabeau und der Porte de Bercy. Junge Mädchen auf ihren Fahrrädern. Fische, die ihren Anglern entkommen. Der 19. August 1944, wie er in den Memoiren von Otto Abetz verewigt ist, scheint in einem anderen Paris stattgefunden zu haben als das Grauen, das George Duras beschrieb. Wie ich der Mappe entnahm, spielt sechzehn Jahre später das Stadtviertel im Leben der Familie Abetz/Perlensamt erneut eine Rolle. Ein gewisser Patrique Melcher attestiert Perlensamt senior, im August i960 zwanzigtausend Mark in Empfang genommen zu haben. Er gibt an, in der Nähe der Porte de Bercy zu wohnen. Keine schöne Gegend zur Zeit des Krieges. In den fünfziger Jahren um nichts besser geworden. Auch heute nicht einladend. Beidseitig der Seine liegt hinter den Bahnhöfen Austerlitz und Lyon das Stadtgebiet der Lager, Magazine und Arsenale. In dieser Zone sind die Dinge noch uneigentlich und harren ihrer Bestimmung. Die Bande von Bonny und Lafont hatte das genau so gesehen.

Es stand nicht in dem Papier, wofür der Mann, der aus dieser Gegend kam, das Geld erhalten hatte. Aufgeführt war nur, daß es sich um eine Abfindung handelte. Patrique Melcher verlor damit alle Ansprüche an Edwige Abèz. Patrique Melcher – P.M. Sofort mußte ich an den Mann denken, mit dem Duras zur Schule gegangen war. P.M., der Sohn des jüdischen Kollaborateurs. Aber wie viele Männer gab es wohl in Frankreich mit den Initialen P.M.?

Alfred Perlensamt hatte also für seine Schwester bezahlt. i960, fünfzehn Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, hatte er die Ansprüche eines Franzosen getilgt. Ansprüche worauf? Edwige hing jedenfalls im Familienspiel drin. Einige Jahre später, mit einem maschinegeschriebenen Briefkopf aus der Rue de TÉchèquier – einer vollkommen anderen, aber um nichts feineren Gegend der nördlichen Mitte von Paris – meldet sich der Empfänger der Abfindung noch einmal. Der Brief klingt bedürftig, geradezu unterwürfig. Gleichzeitig ist er eine Erpressung. Patrique Melcher droht, alles auffliegen zu lassen. Er verlangt die gleiche Summe noch einmal. Eine weitere Spur als diesen zweiten Brief hinterläßt er in den Unterlagen nicht. Ich wühlte in dem Durcheinander aus Aktennotizen, losen Zetteln, Briefen und Urkunden vor mir auf dem Bett, als das Fernsehprogramm, das bisher nicht mehr als ein Grundrauschen war, mich durch ein Reizwort aus Paris zurück nach Berlin zerrte.

»Raubkunst, meine Damen und Herren, ist in erster Linie etwas, mit dem sich heute die Kunsthistoriker beschäftigen. Die meisten von uns wissen nicht einmal genau, was man darunter versteht. Haben Sie sich einmal Gedanken darüber gemacht, wem eigentlich das Bild gehört, das Sie gerade im Museum betrachten? Sicher gingen Sie, wie ich, immer davon aus, daß das Bild dem Museum gehört. So ist es längst nicht immer. Tausende von Bildern haben seit der Nazi-Zeit in europäischen Museen eine Zwischenstation gefunden. Sie warten darauf, von ihren ehemaligen, oft jüdischen Eigentümern oder deren Nachkommen reklamiert zu werden. Aber es gibt auch die umgekehrte Situation. Eine Privatsammlung, die keiner kennt und deren Herkunft dunkel ist. Sie sehen jetzt einen Bericht über einige Bilder, die bis vor kurzer Zeit als verschollen galten …«

Eingeblendet wurde als erstes La Vague. Es folgte Vodalisque von Matisse und der Degas, der ebenfalls einen unübersehbaren Platz in Perlensamts Petersburger Hängung eingenommen hatte. Namen wurden nicht genannt. Kein Verdacht geäußert, nur erwähnt, daß die Bilder sich in deutschem Besitz befänden und der derzeitige Eigentümer nach den Personen forsche, denen sie einmal gehört haben mochten. Ich starrte immer noch auf den Bildschirm, als der Beitrag längst abgeschlossen war. David hatte, kaum genesen, etwas in Gang gesetzt.

Nichts von den Unterlagen in der Mappe dokumentiert die Sammlung. Keine Expertise, kein Papier zu einem einzigen Bild, kein Hinweis auf ihre Herkunft. Ich nehme noch einmal Edwiges Notiz zur Hand. Sie lesen, lieber Herr Saunders, daß Davids Gefühle in all den Jahren schwanken, daß er sich sehr bemüht, seine Eltern zu lieben, gerade in den frühen Jahren … Es wird deutlich, daß er nicht begreifen kann, warum sie ihn von sich fern halten. Ich hatte versucht, ihm zu erklären, daß das Verhältnis seiner Mutter zu ihm durch die schwere Geburt und ihre anschließende Nervosität gestört wurde. Ich weiß nicht, was Miriam ihm suggerierte. Aber selbst wenn sie die beste Absicht hatte – sie war nun einmal eine kalte, egozentrische Person. In den Briefen aus seiner Pubertät an mich kommt Davids verzweifeltes Ringen zum Ausdruck. Irgendwann begann sich dann in ihm die Überzeugung festzufressen, daß seine Eltern schuldig seien. David neigt zur Übertreibung. Er neigt dazu, sich Geltung verschaffen zu wollen. Er war immer sehr allein. Ich dachte, Sie als sein Freund könnten das Schlimmste verhindern. Sie schrieb nicht, was sie damit meinte. Ich muß ihr die Briefe zurückgeben, jetzt, da David und ich keinen Kontakt mehr haben und ich ihm nicht mehr helfen kann.

In meine Grübelei hinein sagt Madame, ich solle bitte ein Gespräch entgegennehmen. Die Dame ließe sich nicht abwimmeln. Als ich endlich begreife und den Hörer nehme, ist es Mona.

»Ich muß mit dir reden, Martini. Ich fürchte, daß die Geschichte weiter geht, durch die Zeitungen, und dieser Typ hat vor, damit in die Talkshows zu gehen.«

»Von wem redest du?«

»Von Perlensamt, wem sonst.«

»Seit wann nennst du ihn wieder ›dieser Typ‹?«

»Ach, du verstehst gar nichts. Ich habe einen Fehler gemacht. Ich will es dir erklären. Aber nicht am Telephon. Ich würde gerne kommen. Bitte, Martin, rede mit mir.«

»Auf einmal? Warum jetzt? Warum nicht vorher?«

»Weil ich sauer auf dich war. Du hast dich so aufgeplustert. Warst so unerbittlich. So arrogant.«

»Fängst du schon wieder an.«

»Nein, Martini, tue ich nicht. Ich will dir doch nur was erklären.«

Sie bettelt. Sie fleht. Ich kenne sie so nicht. Früher war sie anders. Schien nie durch einen äußeren Einfluß gestört. Bis David kam.

»Martini, sag etwas.«

Ich sage nichts. Ich lege auf.

In der Mappe fand ich die Geburtsurkunde, die Alfred Perlensamt als Maurice Abetz ausweist. Maurice – nicht Bernhard! Darunter der amtliche Beleg, daß Maurice seinen Namen änderte, als er die Firma Perlensamt kaufte. Das war kurz nach dem ersten Boom seiner patentierten Erfindung. Ein halbes Jahr später, im Frühjahr 1958, heiratete er Miriam Helling. Auch sie nannte sich Perlensamt. Der Name fungierte von nun an als Markenzeichen. Verheiratet waren sie unter dem alten Familiennamen Abetz. Über Miriams Herkunft sagte das Familienstammbuch nur, daß sie im Rheinland geboren war, als Tochter der Eheleute Käthe und Richard Helling. Weniger Spuren noch hatte Otto Abetz in diesen Dokumenten hinterlassen, nämlich keine. Maurice war nicht der Sohn von Hitlers Botschafter in Paris. Er war der Sohn irgendeines Paul Abetz aus Wuppertal und seiner Frau Léonie, geborene Gaspard, die aus einer Pariser Vorstadt stammte. Die nächsten Seiten des Stammbuchs, auf denen die Kinder einzutragen sind, waren leer. Ich blätterte weiter in den Firmenpapieren. Der Kaufvertrag eines Produktionsgebäudes. Verschiedene, längst getilgte Hypotheken. Verträge. Aus den Unterlagen ging hervor, daß Perlensamt/Abetz mit seiner Frau in Gütertrennung gelebt hatte. Der Privatbesitz war ihr überschrieben, bei Unternehmern ein nicht unübliches Gebaren. Bei Perlensamts Überschreibungen handelte es sich um einige Immobilien in Westdeutschland, die inzwischen David geerbt haben mußte, das Wohnungsinventar, den Nippes, die falschen antiken Möbel und die orientalischen Teppiche. Die Sammlung – weder als gesamtes noch einzelne Bilder – wurde mit keinem Wort erwähnt. Das vorletzte Blatt in der Mappe war Davids Geburtsurkunde. Hier fand ich die Erklärung, warum David im Stammbuch der Perlensamts nicht eingetragen war. Er war als David Paul Viktor Abetz am 7. Februar 1961 geboren worden.

Aber als Mutter war nicht Miriam vermerkt, sondern Edwige. Die Ehe der Perlensamts war kinderlos geblieben. Warum Edwige ihren Sohn dem ungeliebten Bruder überlassen hatte, sagte keines der Papiere. Deswegen hatte sie so detailliert von Davids Geburt berichten können. Deswegen litt sie so um ihn.