DREI

Der Anblick von dem ganzen Zeug macht mich müde. Gestern Abend kam ich nicht sehr weit. Es war unmöglich, das Ganze auf einmal in den Kamin zu kippen. Soviel Pappe und Papier auf einem Haufen erstickt jedes Feuer. Ich schaltete den Fernseher ein, wie ich es immer tue, wenn ich fürchte, den Bezug zur Wirklichkeit zu verlieren. Perlensamts Geschichte wirkt gespenstisch auf mich. Eingebildet. Als sei nichts davon tatsächlich passiert.

Ich öffnete die Terrassentür. Abendluft wehte das Papier, das ich auf den Boden gelegt hatte, über die Dielen. Ich erwischte mich dabei, daß ich die einzelnen Blätter aufsammelte und ansah, anstatt sie einfach ins Feuer zu werfen. Es war, als könnte ich die Verbindung zu David Perlensamt nicht endgültig kappen, ohne noch einmal einen Blick auf diese Unterlagen zu werfen. Erst hielt ich sie einfach nur in der Hand. Dann begann ich zu lesen. Die Briefe von David an seine Tante in Paris – eine Mischung aus Zärtlichkeitsbekundungen, Geständnissen und Beschimpfungen –, die sie mir aus unklaren Gründen überließ. Ein Ausschnitt aus einer französischen Zeitung, datiert von 1948. Er beschreibt das Viertel um die Porte de Bercy in Paris. Die Verfügung von Perlensamts Vater Alfred, die als Testament firmiert. Eigentlich gehört sie zu Gericht. Daß ich sie nicht weitergeleitet habe, macht mich wohl der Beweisunterschlagung schuldig. Ich hielt die Kopie der Heiratsurkunde von Otto Abetz und Suzanne de Bruycker in der Hand, Hitlers Botschafter in Paris und seine belgische Frau. Dann die Zeitungsnotiz, die auf ihren Unfall verweist. Eine Landstraße. Der Abschnitt zwischen Düsseldorf und Köln. Eine Kleinstadt. Ein Käfer mit einer defekten Lenkung.

Langenfeld im Mai 1958. Das warf ich als erstes ins Feuer. Die Kopie des Urteils, das über Otto Abetz 1949 in Paris verhängt worden war, hatte der nächtliche Hauch unter den Zebrapuff geweht. Sie stammte aus dem Archiv des Auswärtigen Amtes. Ich hatte mich kundig machen wollen über den düsteren Hintergrund, nachdem David begonnen hatte, merkwürdige Andeutungen über seine Familie zu machen. Zuletzt die erste Pressenotiz über den rätselhaften Mord vom August des vergangenen Jahres. Auch sie las ich noch einmal, bevor ich sie ins Feuer warf. Die Flammen loderten auf, als wüßten sie, was sie fräßen. David hätte die Szene gefallen. Wenn schon Vernichtung, dann glanzvoller Untergang. Er hätte Musik spielen lassen, Wagner, vielleicht das große Duett aus dem Tristan. Dazu Champagner getrunken. Darunter tut er es ja nie. Aber natürlich will David nicht wirklich untergehen. Ihm reicht der Schein. Das lockere Zeitungspapier wellte sich und verglühte. Mit dem, was nun durch den Rost auf die Steinplatten fiel, hatte unsere Geschichte begonnen. Eine ermordete Mutter, ein angeklagter Vater, ein bestürzter Sohn, der als Zeuge bewundernswerte Haltung bewahrte. Ich verfolgte das Geschehen wie gebannt.

Nach der ersten vorsichtigen Pressenotiz über den Mysteriösen Gewaltakt in Märchenkulisse hatten die Zeitungen sich überschlagen. Wilde Spekulationen wechselten sich mit willkürlichen Behauptungen ab. Nur der Name der Familie, in der sich der Mord ereignet hatte, war nun bekannt: Perlensamt. Vom Täter fehlte jede Spur. Auch vom Tatmotiv. David selbst hatte die Polizei alarmiert, als er seine Mutter Miriam erschossen fand und seinen Vater schwer verletzt. Alfred Perlensamt wurde in die Charité gebracht. Währenddessen untersuchte die Polizei die Wohnung auf Diebstahl. Aber es war nichts abhandengekommen. Feinde schien die Familie nicht zu haben. Die Tote war beliebt gewesen, ihr Ehemann angesehen und von seinen Mitarbeitern verehrt. Die Kriminalpolizei stand vor einem Rätsel.

Ich wußte nicht recht, ob ich bei Perlensamt vorbeigehen sollte. Einfach klingeln? In dieser Situation? Aber dann, eines Abends – die erste Welle der Berichterstattung war verebbt, man wartete darauf, daß Alfred Perlensamt aus dem Koma erwachte – fuhr ich hin. David behauptete später, ich hätte vor dem Tor gestanden und durchs Gitter gestarrt, als wollte ich die Kakerlaken in den Mauerritzen laufen sehen. Ich hätte mit meinem Blick die Fassaden abgesaugt, die Äderung der Farne verfolgt und auf jedes Geräusch gelauscht. Es war Davids Art, so zu tun, als könne er Menschen lesen. Er erweckte den Eindruck, er neige sich voller Hingabe seinem Gegenüber zu. Die Geste schien sagen zu wollen: Du kannst mir vertrauen. Ich kenne dich besser als du dich selbst.

Er hatte mich also beobachtet. Dieses Mal aber hatte er anders als beim ersten Mal nichts unternommen.

Das Tor war nur angelehnt. Offenbar hatte jemand aus Versehen vergessen, es richtig zu schließen. Ich ging hinein. Der Innenhof wirkte so ruhig und romantisch wie zuvor. Keine Reporter zu sehen. Weder der Akt noch seine Untersuchung hatten Spuren hinterlassen. Immer noch lockte die dickichtähnliche Bepflanzung. Aber dieses Mal fiel mir auf, daß der Lärm des nahen Durchgangsbetriebs in den verträumten Winkel drang. Als hätte jemand die falsche Tonspur an einen Film gelegt. Die Verkehrsgeräusche mochten dafür verantwortlich sein, daß niemand außer David die Schüsse gehört hatte.

Ich ging wieder hinaus und zog das Tor hinter mir ins Schloß. Auf der Fahrt nach Hause kam ich mir ein bißchen schäbig vor ob meiner Unsicherheit. Was hätte mir schon passieren können, wenn ich ihm meine Anteilnahme ausgedrückt hätte?

Die Presse fühlte sich zu neuen Spekulationen veranlaßt. Es wurde behauptet, die Ermittlungsbeamten hätten eine gewisse Berührungsangst dem Fall gegenüber, was die Untersuchung angeblich lähmte. Die Andeutungen gingen dahin, daß vermögende Leute anders behandelt würden als das gemeine Volk. Dann hieß es, die Schwester Alfred Perlensamts sei aus Paris angereist, um ihren im Koma liegenden Bruder zu besuchen. Auch sie konnte zur Aufklärung nichts beitragen. Sie schien, bemerkte jener Reporter, der auch Davids Souveränität beschrieben hatte, erschüttert, aber gefaßt.

Dann die Überraschung. Zwei Wochen nach der Operation und eine Woche nach dem Erwachen aus der Bewußtlosigkeit gestand Alfred Perlensamt die Tat. Allmählich sickerte durch, daß auch David Schmauchspuren an den Fingern gehabt hatte. Vater und Sohn hatten miteinander gerungen, als David verhindern wollte, daß der Alte sich selbst erschoß. Zwei Schüsse hatten sich dabei gelöst und waren in dessen Lunge gedrungen. Damit war das Rätsel um den Tod von Miriam Perlensamt aufgeklärt. Das Motiv blieb weiterhin dunkel. Der alte Perlensamt schwieg hartnäckig, auch David schwieg. Die Experten, Psychologen wie Kriminologen, berieten sich eine Weile und blieben uneinig. Schließlich triumphierte der Staatsanwalt. Alfred Perlensamt, der eine lange Rekonvaleszenz vor sich hatte, bekam lebenslänglich für den Mord an seiner Frau. Die Schwurgerichtskammer sprach von besonders schwerer Schuld. Daß die Schlafende ihrem Mörder hilflos ausgeliefert war, machte die Tat heimtückisch. Damit hatte er kaum Chancen, nach fünfzehn Jahren auf Bewährung entlassen zu werden. Sie hatten den Mörder, aber kein Motiv, die Tat, aber keine Geschichte.

Ein Zeitungsartikel, den ich las, schwelgte in rüden Vermutungen über einen erledigten Geschäftsmann, eine gequälte Ehefrau, einen erpressenden Verwandten. Es wurde unterstellt, daß die Ermordete an der Erpressung beteiligt gewesen und die Familie in eine düstere Angelegenheit verwickelt sei. Vielleicht sei der Mord überhaupt nur ein Akt des Verbergens und nicht etwa einer der emotionalen Entgleisung gewesen. Der Grund mochte tief in der Vergangenheit liegen. Der Anwalt des alten Perlensamt drohte mit Verleumdungsklage. Die Vermutungen wurden eingestellt.

Kurz nach dem Mord wußte ich über David und seine Familie nur das, was ich der Presse entnommen hatte. In einem späteren Zeitungsbericht, den ich nicht aufgehoben habe, weil sein sensationslüsterner Ton widerlich war, hieß es, der Chemiker Alfred Perlensamt sei Eigentümer einer Fabrik mit zwölf Angestellten. Eine Erfindung – eine spezielle Styropor-Verarbeitung, die nicht näher erläutert wurde – hatte ihm seit den sechziger Jahren großen finanziellen Erfolg gebracht. Der Journalist schien sich mehr für die Millionen zu interessieren als für den Mord. Die Reportagen präsentierten die Lebensverhältnisse der Perlensamts, erwähnten die Pferde der Toten und die Gesellschaften des Ehepaars. Der Fall schien besonders schrecklich, da es sich um eine Tat in besten Kreisen handelte. Die Berichterstattung war schnell von den Sensationsblättern übernommen worden. Etwas später, als durchgesickert war, daß ich Perlensamt kannte, sprach der Galerist, der unten im Haus seine Ausstellungsräume hatte, mich anläßlich einer Vernissage darauf an. Diplomatisch versuchte er vorzufühlen, wie ich zu David stand.

»Ich hatte keine Ahnung, daß Sie Perlensamt näher kennen.«

Ich antwortete wahrheitsgemäß, daß wir uns zufällig begegnet seien. Ohne fragen zu müssen, erfuhr ich, daß die Wohnung fast dreißig Jahre von einer Familie Abetz bewohnt worden war. Der Galerist hatte dies von einer älteren Nachbarin, einer Baronin von Irgendwas. Jedenfalls war die Dame schon über neunzig, als sie ihm von dem Namenswechsel am Türschild berichtete. Verschiedene, ihr unbekannte Personen seien in der Wohnung untergekommen. Kurz nach dem Krieg. Das sei ja überall üblich gewesen, erst Leute, die ausgebombt waren, dann heimatlose Verwandte oder Flüchtlinge, die eingewiesen wurden. Auch die Schwester, die in Paris ansässig war, habe eine Zeit lang dort gewohnt. Schließlich habe sich alles beruhigt. Eines Tages dann habe der Name Perlensamt an der Tür gestanden. Die alte Dame hatte sich darüber gewundert, daß ein neues Namensschild angebracht worden war, ohne daß jemand etwas von einem Ein- oder Auszug bemerkt hatte. Kommen und Gehen ja, geschleppte Koffer und Taschen. Aber kein richtiger Umzug mit Möbelpackern. Vor kurzem hatte einmal ein Transporter vor dem Haus geparkt. Verpackte Dinge wurden hineingetragen, nichts hinaus. Das war aber erst nach dem Mord, nachdem man den unglückseligen Senior mit einem Rettungswagen fortgebracht hatte. Der Galerist kannte die Perlensamts vom Sehen, vornehmlich von Begegnungen im Hof. Nette Leute, eher zurückhaltend, wahrscheinlich Juden, aber das wußte er nicht genau. Sie, eine dunkelhaarige Kleine, südländischer Typ, ritt fast jeden Tag, allerdings montags nie. Darüber hatten sie des öfteren gescherzt – daß der Montag der Sonntag der Galeristen, Friseure und Pferde sei. Ihre Pferde hatten weit draußen gestanden, in einem Polostall, Heerstraße immer weiter nach Nordwesten raus. Er fand das beachtlich, eine nicht mehr so junge Frau, die sich täglich aufmachte, um ihre Pferde zu bewegen.

»Sie sind überhaupt sehr sportlich gewesen, die beiden. Er ritt die Herbstjagden mit, wie es sich früher in guten Kreisen gehörte. Beide wanderten leidenschaftlich gern. Sie schienen ein ausgewogenes Paar zu sein. Auch von der Statur paßten sie gut zusammen. Er schlank, sie fast zierlich, aber zäh und unternehmungslustig, energisch und selbstsicher. Sie mochten sich sehr, ja, man konnte sehen, daß sie sich liebten. Es ist eine Tragödie. Ich meine, ihr Tod für ihn.«

Ich hörte weiter, daß die Perlensamts vermögend waren. Auch für den Galeristen schien das von Bedeutung zu sein. Woher sie letztlich kamen, hatte er erst durch die Presse erfahren. Auch, wie sie ihr Geld gemacht hatten. Vorher hatte man immer angenommen, sie hätten geerbt, stammten aus einer alten Familie, wie der Rest der Leute im Haus. Man war erstaunt gewesen, daß sie eigentlich neureich waren. Alle Bewohner waren zudem entsetzt über die Tat. Er selbst war bedrückt. Der Fall bliebe, Urteil oder nicht, mysteriös.

»Jemand reißt sich doch nicht das eigene Herz heraus!«

Und der Sohn? Etwas undurchsichtig. Ging offenbar keinem Beruf nach. Gut aussehender Mann. Immer sehr zuvorkommend. Hatte blendende Umgangsformen.

»So etwas fällt ja auf in Berlin!«

David Perlensamt interessiere sich wohl für Kunst. Aber das wüßte ich ja besser. Hatte die Eltern selten besucht. War wohl lange im Ausland gewesen. Man munkelte von einem Anwesen auf dem Land. Die Haushälterin erwähnte einmal, daß er eine Art Gutshof betreiben würde. Manchmal kam er mit Eiern, im Sommer auch mit eigenen Tomaten an. Immer allein, nie in Gesellschaft einer Frau. Der alte Herr hatte versucht, den Sohn in seine Firma zu locken. Aber auch das waren nur Gerüchte. Das Gespräch wurde unterbrochen, als eine Dame dazustieß, die ich nicht kannte.